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HÖLDERLIN

Friedrich Hölderlin

DICHTER
20.3.1770 Lauffen bis 7.6.1843 Tübingen
- in ihm glühte das FEUER der unentreißbaren MENSCHENRECHTE: das religiöse und politische Freiheitsgefühl koinzidierten
- frühe Bekanntschaft mit SPINOZA
- trägt die NATUR als Gottheiten in sich, die unwandelbar im SEIN wohnen, und sie regieren und bestimmen die konkrete Natur, die ihn jeweils umgibt
- im GEGENSATZ zu seinen Kumpeln HEGEL und SCHELLING blieb Hölderlin in der weichen SEHNSUCHT
- die Versenkung in die ANTIKE läßt ihn die ersehnte Einheit von MENSCH und UMWELT als ein Lebendiges finden, raubt ihm aber zugleich die KRAFT für die REALITÄT und macht ihm das DASEIN zur QUAL → die Gräkomanie (Griechenfreund) wird ihm zur tödlichen KRANKHEIT
- glaubt an das staatenbewegende Tun großer Menschen

Lehre

- eine Alleinheitslehre (PANTHEISMUS), deren Stellung zu SHAFTESBURY, HEMSTERHUIS, GOETHE, HERDER und SCHILLER, gegen KANT und FICHTE und zwischen Hegel und Schelling fixierbar
- die Götterwelt Griechenlands, die alles vom tiefsten Schoß bis zum höchsten AETHER in sich faßt, mit dem CHRISTENTUM, das nun einmal das SCHICKSAL der neueren MENSCHHEIT geworden, zu versöhnen, also in ihren Zusammenhängen dichterisch zu durchdringen
- man muß die Spuren der entflohenen GÖTTER suchen und sehen

literaturhistorische Einordnung

- Hölderlins dichterische INDIVIDUALITÄT, die Spezifik seiner WELTANSCHAUUNG und Poesie prägt sich ganz entschieden in jenem Zeitraum aus, der sich durch die Zäsuren 1792/3 und 1796/7 begrenzen läßt. In historischem Betracht sind es die Jahre des 1.Revolutions- bzw. Koalitionskrieges; für das politische DENKEN beinhalten sie einen entscheidenden Differenzierungsprozeß; philosophiegeschichtlich vollzieht sich zu dieser Zeit die Entwicklung von Kants Kritizismus über Fichtes „Wissenschaftslehre“ zu Schellings NATURPHILOSOPHIE; und für die deutsche LITERATURGESCHICHTE bezeichnet dieser Zeitraum die erste Phase frühromantischen Denkens und Dichtens, die entscheidenden Jahre revolutionär-demokratischer LITERATUR und die ästhetische Formierung der Weimarer KLASSIK. (Mieth)

Andenken

- benutzt den IMPERATIV als LEITMOTIV - z.B. geh
- das PNEUMA führt den Weg des Suchenden
- Oxymorone - dunkles Licht, wohnen einsam - für die UNENTSCHEIDBARKEIT des Sehnens
- Schwäbizismen wie seellos
- gleichzeitige Akte - erinnern und VERGESSEN → die See gibt Gedächtnis - vita activa
- von HEIDEGGER als „Bleiben des Dichters“ gelesen
- Heidegger unterstellt Hölderlin die THEORIE vom Blick des Dichters → ansehen → andenken → Andenken; doch das Andenken ist nicht an den Ort gebunden

Goethe über Hölderlin

- Goethe wirft Hölderlin einen MANGEL an sinnlicher wie innerer ANSCHAUUNG vor und verweist Hölderlins Dichtung, z.B. „Der Äther“, aus dem Reiche der POESIE (Fahrner)
- Goethe weist dem Dichter ERFAHRUNG zu → Anschauung erfolge aus innerer oder äußerer Erfahrung, nicht durch Benennung
- der Dichter schaue zusammen, binde die erlebten Bilder zu einem Ganzen und betrete dadurch die höhere Kunst → dieses Schauen fehle bei Hölderlin ABER: Hölderlin sucht seine STIMMUNG nicht in der Natur, denn sie ist ihm kein Fremdkörper, den er aufsuchen muß, sondern er sucht in der Natur ein ECHO der eigenen Stimmung; er lebt in der Natur, ist deren Teil
- Goethe dagegen muß anschauen, um Dinge zu ergreifen, die er dann schließlich besitzen will, und zwar zu tätig wirksamem Besitze
- Goethe glaubt, daß Hölderlin auf einem so hohen Standpunkt steht, daß er von den Dingen unter ihm nur noch schwache Umrisse bemerkt
- beraubt die Götter aller PERSÖNLICHKEIT (sic!), aber bei Hölderlin schwebt der Geist der Liebe über allen Wassern statt daß der EROS über MEER und LAND hinwandelt

Hölderlin vs. Schiller

HölderlinSchiller
Gottes WORTkonstituierendes VERMÖGEN des Menscheninferiores Vermögen des Menschen
Zielstellung- künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten- die ästhetische ERZIEHUNG des Menschengeschlechts
Mythosbegriff- Palingenesie des MYTHOS (z.B. Tithon und AURORA) im revolutionären ZEITALTER- ästhetisch und pädagogisch; bildungsbürgerlich

Buch über Hölderlins Zeit in Jena, seine Begegnungen mit Schiller, GOETHE und FICHTE

Hyperion

- vom Affekt zur VERNUNFT → die Verinnerlichung führt vom äußeren Affekt zur HOFFNUNG
- ist zu wenig heroisch und zu wenig skrupellos, was zur KATASTROPHE führt;
- macht den finsteren Zug, der dem ANTLITZ des Lebens so tief eingegraben ist, sichtbar und deutet das Leben aus diesem SELBST (DILTHEY)

Hölderlins Orient

Johann Wolfgang GOETHE hat im West-östlichen Diwan die kulturelle SELBSTERKENNTNIS des abendländischen Dichters an den ORIENT gebunden. Dieser poetischen Selbstreflexion zufolge „Wer sich selbst und andere kennt/ wird auch hier erkennen:/ Orient und Okzident/ Sind nicht mehr zu trennen.“ Aus der Perspektive der Hölderlinforschung hat dieser Spruch seinen SINN in der These gefunden, daß der Orient für Hölderlin das Herkunftsland der griechischen und somit der abendländischen KULTUR war. Er stellte sich - wie HERDER oder HEGEL – den Verlauf der WELTGESCHICHTE von Osten nach WESTEN vor. (G.F. W. Hegel: Vorlesungen über die PHILOSOPHIE der Weltgeschichte. Werke, Frankfurt/Main 1970, S. 134.) Auch die ANTIKE, die Hölderlin lebenslang fesselte, sollte im Rahmen dieses Prozesses der translatio culturae ihren Ort gefunden haben. Die HYMNE Am Quell der Donau hat diesen Gang programmatisch formuliert:

So kam
das Wort aus Osten zu uns,
Und an Parnassos Felsen und am KITHAIRON hör ich,
O Asia, das ECHO von dir.

Der Orient sei also für Hölderlin eine Urlandschaft der Kultur, „das Land unter der heißesten Sonne“ (Hölscher) die Geburtsstätte der GÖTTER, insbesondere die HEIMAT des DIONYSOS und des „Syriers“ (Böschenstein), wie der Dichter den biblischen Gottessohn nennt. Das Adjektiv „orientalisch“ bezeichne dementsprechend die dionysische HERKUNFT und Grundlage der griechischen Kultur (Jochen Schmidt), jene hohe Begeisterung, die mit dem ELEMENT des Feuers, mit der Kultur des Weines und mit der exzentrischen SEHNSUCHT nach dem Göttlichen in Verbindung steht.
Mögen diese vereinzelten Beobachtungen früherer Hölderlinforscher durchaus richtig sein, haben sie doch das Orientalische allzu sehr dem Griechischen unterordnet. Es gibt zahlreiche Stellen in Hölderlins WERK, die der orientalische Kulturlandschaft gewidmet sind, und eine Übersicht dieser TEXTstellen kann dazu beitragen, über den polaren Gegensatz von Hellas und Hesperien hinausgehend, ein triangulares Kulturmodell bei Hölderlin wahrzunehmen. Im GEGENSATZ zu den generalisierenden BEGRIFFen in der Querelle von Antike und MODERNE hat zum Beispiel August Boeckh ein triangulares MODELL in seiner Enzyklopädie formuliert: „Um eine ANSCHAUUNG des Antiken zu gewinnen, muß man es im Gegensatz sehen und abheben vom Orient einerseits, vom Modernen andererseits.“ Boeckhs Enzyklopädie erschien zwar 1877 posthum, sie geht aber auf das JAHR 1809 zurück. Eine solche triangulare Auffassung von Antike und Moderne ist schon seit Herder und HAMANN und WINCKELMANN in DEUTSCHLAND geläufig. Auf welche Weise Hölderlin mit diesem Kulturmodell sich auseinandergesetzt hat und es weiterdachte, wird im folgenden noch erörtert.
Boeckh fügt dann hinzu, daß „der Charakter des Hellenischen (…) das eigentlich Antike“ sei, „daß die gesammte antike Cultur ihren Höhepunkt im Hellenischen erreicht und hier wirklich zu einer klassischen VOLLENDUNG gelangt.“ Man kann zwar denken, daß der junge Hölderlin durch eine ähnliche exklusive Schwärmerei für die Antike geprägt war, es gehört aber zum wesentlichen Zug der antiklassischen WENDE seiner Spätperiode, daß er nach 1802 auf die IDEE der klassischen Vollendung der griechischen Kultur sowie auf deren Mustergültigkeit für die abendländische GEGENWART KLAR verzichtete. WIR erkennen erst von Schritt für Schritt, daß Hölderlin nicht nur einen ganz originellen Beitrag zum Konstrukt „Antike und Moderne“ leistete, sondern auch darin voranging, daß er seine eigenen Konstrukte in Frage zu stellen und sie teils abzubauen wagte. Es ist erstaunlich, wie dynamisch die Antike als kulturelle Landschaft, in ihrer geographischen, geschichtlichen und bildlichen VIELFALT im Verlauf des Hölderlinschen Werkes sich verwandelt, wie vielschichtig und polyzentrisch sie sich erweitert, um zuletzt doch in der kaum mehr faßbaren Komplexität von Bezügen zwischen Orten, Begebenheiten und Personen aufzugehen.

I. Das Ionische oder Homer, der lydische Dichter

In seinen ersten Aufsätzen (1790) betrachtete Hölderlin die griechische und die altorientalische LITERATUR als einander zugehörig. Der frühe Aufsatz Versuch einer Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen (1790), den der Dichter seinem LEHRER im Tübinger STIFT, PROFESSOR Schnurrer, widmete, ist Hölderlins erster Versuch, das Griechische und das Orientalische zu bestimmen und sie miteinander zu vergleichen.
Christian Friedrich Schnurrer lehrte „Orientalistik“, d. h. PHILOLOGIE und HERMENEUTIK der biblischen Texte, ganz aus dem Geiste der aufklärerischen Moderne. Der kritische Geist des Lehrers ermöglichte Hölderlin, sowohl ideengeschichtlich als auch poetologisch Parallelen zwischen einem Text der BIBEL und Hesiods Bauernethik zu ziehen.
Die Zeit von SALOMO und Hesiod galten für Hölderlin als Epoche „unkultivierter“ Gesellschaften, die durch „ungebildete Philosophie“ gekennzeichnet sind. Die orientalische, d. h. jüdische und griechische Antike werden also noch als eng zueinander gehörige Kulturen behandelt, die mit „unsern Moralsystemen“ im KONTRAST stehen. Den GRUND des Vergleichs bilden die vermittelten Wertvorstellungen. Sowohl Salomo als auch Hesiod ermahnen den Adressaten, GUT durch Arbeitsamkeit (FLEIß) und durch rechtliches Betragen (RECHTSCHAFFENHEIT) zu gewinnen. Die archaischen Gesellschaften scheinen nämlich zwei Grundwerte zu haben: REICHTUM und EHRE, beide sind als solche GÜTER des Lebens betrachtet, in denen die wahre (moralische) QUALITÄT des Menschen zum Vorschein kommt. Es ist also ganz klar, von welcher moralischen Kollision Hölderlin redet: Er stellt der falschen TRANSZENDENZ verlogener christlicher MORALITÄT seiner EPOCHE die immanente, weltliche Wertvorstellung des Alten Testaments und der griechischen Archaik entgegen. Die Charaktermerkmale „Reichtum und Ehre“ werden von nun an zum festen Bestandteil der Hölderlinschen Antike und somit des Orients, und die dichterische ORIENTIERUNG nach ihnen hält am Grundwert der Weltlichkeit fest: „Die Dichter müssen auch / Die Geistigen weltlich seyn.“ Hier verschwieg Hölderlin seine kritische Distanz zum deutschen PROTESTANTISMUS auch nicht, als er bemerkte, daß Reichtum und Ehre „in ihrem sittlichen WERT damals „noch nicht so gesunken“ waren wie sie „bei den kultivierten Völkern“ sind.
Der zweite Aufsatz, die Geschichte der schönen Künste unter den GRIECHEN (1790), reflektiert auf Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums. Hölderlin folgt Winckelmanns KRITIK an der ägyptischen Kunst: „Der Orient war nicht für die Kunst, am wenigsten für die bildende. (…) Der Orientalismus neigt sich mehr zum wunderbaren und abentheurlichen: der griechische GENIUS verschönert, versinnlicht.“ Den Grund, weshalb die Ägypter keine schöne Kunst hatten, erklären „das feurige Klima“, „das schauerlicherhabne Religionssystem“ mit den „fürchterlichen Dämonen des Orients“ und die „überhaupt strenge MONARCHIE“. In HYPERION wird die Frage nach dem WESEN orientalischer Kunsttätigkeit wiederholt gestellt. Auf dem Weg zu den majestätischen Ruinen ATHENs bemerkt Hyperion über die „Ägypter“, die er nun überraschend mit den nördlichen Völkern in Parallele stellt: „Der Aegyptier trägt ohne SCHMERZ die Despotie der Willkühr, der SOHN des Nordens ohne Widerwillen die Gesetzesdespotie, die Ungerechtigkeit in Rechtsform; denn der Aegyptier hat von Mutterleib an einen Huldigungs- und Vergötterungstrieb; im Norden glaubt man an das reine freie Leben der Natur zu wenig, um nicht mit Aberglauben am Gesetzlichen zu hängen.“ So setzt Hyperion fort: „Wie ein prächtiger Despot, wirft seine Bewohner der orientalische Himmelstrich mit seiner Macht und seinem Glanze zu Boden, und, ehe der Mensch noch gehen gelernt hat, muß er knien, eh er SPRECHEN gelernt hat, muß er beten. (…) Der Aegyptier ist hingegeben, eh’ er ein Ganzes ist, und darum weiß er nichts vom Ganzen, nichts von Schönheit, und das HÖCHSTE, was er nennt, ist eine verschleierte Macht…“
Die Eigenart des Orientalischen – Religionszwang, Demütigung (knien und einen zum GEBET zwingen), Herrschaftssystem – verrät eindeutig, daß der Begriff des „Ägyptischen“ auf das HEBRÄISCHe und somit auf die hebräisch-christliche ÜBERLIEFERUNG zu übertragen ist. Aus dieser Perspektive ist der Vergleich des Orientalischen mit dem Nordischen durchaus transparent.
Kurzum: Die frühen Aufsätze sowie die Athenerrede des Hyperion schildern einen Orient der DESPOTIE, dämonischer RELIGION, von Aberglauben und Verknechtung, den die VERACHTUNG der schönen Künste bzw. ein abenteuerlicher, verdorbener GESCHMACK charakterisieren. Diese Abneigung vom Ägyptisch-Hebräisch-Orientalischem entspricht in manchen Zügen der gängigen Auffassung zu Hölderlins Zeit, es ist aber überraschend, daß das Ägyptische analogisch auf den christlichen Norden übertragen wird. Es ist auch bei Hölderlin nicht zu leugnen, daß sein brennendes INTERESSE für Griechenland von seiner Kritik am CHRISTENTUM sowie von seinen politischen Ansichten abhängt. Der zweite Aufsatz, die Geschichte der schönen Künste unter den Griechen bietet aber bereits eine differenziertere Vorstellung über Hellas und den Orient. Hölderlin nimmt den am Beispiel des Salomo einmal schon aufgegriffenen positiven Kulturzusammenhang wieder auf und stellt die unterschiedlichen Etappen des griechischen Bildungswegs nicht einheitlich, ideell, wie man das gewöhnlich meint, sondern nach geographischen Gebieten dar, von Ionien über den dorischen PELOPONNES bis nach Athen. Die erste Dichtergestalt, den Hölderlin emphatisch hervorhebt, ist ORPHEUS, dessen kleinasiatische MUSE mit dem „Orientalismus“ verbunden wird: „Seine Hymnen, wie der auf die Sonne, scheinen noch das Gepräge des Orientalismus zu haben, wenigstens eine entfernte Würkung des Sonnendienstes“. Nach dem Trojanischen Krieg folgte ihm HOMER, dessen „Empfänglichkeit für das SCHÖNE und ERHABENe, seine PHANTASIE, sein Scharfsinn“ nur selten, oder kaum von der Natur wiederholt wurde. Die Eigenart seiner GENIALITÄT wird mit der kleinasiatischen Heimat, mit Ionien, erklärt: „Empfänglichkeit für das Schöne und ERHABENE bot sich das paradiesische Ionien dar“.
Trotz des prägenden Einflusses Winckelmanns zeigt Hölderlins Bewunderung für den ionischen poetischen GEIST des Homer von Anfang an stark antiklassische Züge. Hölderlin betrachtet Chios als Homers Vaterstadt, er soll aber in der altanatolischen STADT SMYRNA gelebt haben, dessen SCHÖNHEIT und orientalische Atmosphäre Hölderlin enthusiastisch schildert.

<img src = "http://www.vonwolkenstein.de/images/homersschule.jpg" alt = "Homers Schule" align = "right" hspace="35" vspace="35" style="margin-left:5mm" >

Im ersten Entwurf des Romans unternimmt der Erzähler zuerst eine imaginäre REISE nach Mäonien (Nord-Ost-Lydien), nach dem Land Homers: „Ich schlummerte, mein Kallias! (…) Aber der Genius von Mäonia hat mich gewekt. Halbzürnend trat er vor mich, und mein Innerstes bebte wieder von seinem Anruf. In süßer Trunkenheit lag ich am Ufer des Archipelagus und mein Auge weidete sich an ihm…“. Die einzelnen Landschaften besitzen einen eigenen Geist, einen spezifischen Genius. In der Hymne an den Genius Griechenlands wird Homer entsprechend nach seinem Land „der trunkene Mäonide“ benannt und als das GENIE des allumfassenden EROS, der feurigen Liebe, charakterisiert:

So liebte keiner wie du;
Die Erd und OZEAN
Und die Riesengeister, die Helden der ERDE
Umfaßte dein HERZ!“

Im zweiten Entwurf zu Hyperion werden Smyrna und seine Umgebung zum Schauplatz von Hyperions JUGEND gewählt. Hyperion, dessen NAME eine Anspielung auf den orientalischen Sonnenkult enthält, sagt zu seinem Freunde Adamas: „Es ist kein Wunder (…) daß die Städte sich zankten um die Abkunft Homers. Der Gedanke ist so erheiternd, daß der holde Knabe da im Sande gespielt habe, und die ersten Eindrüke empfangen, aus denen so ein schöner gewaltiger Geist sich mählig entwickelte. Du hast recht, erwiderte er (Adamas), und ihr Smyrner müßt euch den erfreulichen GLAUBEN nicht nehmen lassen. Mir ist es heilig, dieses Wasser und dieß Gestade! Wer weiß, wie viel das Land hier, nebst Meer und HIMMEL, Theil hat an der Unsterblichkeit des Mäoniden! Das unbefangene Auge des Kindes sammelt sich Ahndungen und Regungen aus der beschauten Welt…“.
Hölderlin formuliert hier zum ersten Mal seine Ansicht von der engsten Zusammengehörigkeit der geographisch konkreten Landschaft, ihres Gewässers, ihrer Berge und Ufer, mit dem dichterischen Geist ihres Genies. Er schloß sich damit an eine bis heute für „sektiererisch“ gehaltene Linie der Homerforschung an, die behauptet, daß es Homer bei der Schilderung von Landschaften und Schauplätzen um Realitätsnähe ging, daß seine epische Poesie durch die Landschaft Kleinasiens und des östlichen Archipelagus inspiriert war. (John V. Luce: Die Landschaften Homers, Stuttgart 2000.) Diese heute wieder belebte Homerphilologie wandelt in den Fußstapfen von Robert Wood, dessen ESSAY On the Original Genius and Writing of Homer (1769) der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis ins DEUTSCHE übertrug und unter führenden Intellektuellen der Goethezeit – wie Herder, Hamann, Goethe, SCHILLER – bekannt machte. Wood hat zuerst behauptet, daß die WELT der Homerischen Epen mitsamt ihrer Götterwelt aus der genauen Eigenart der kleinasiatischen Landschaft, aus der spezifischen Natur Kleinasiens herzuleiten ist. Um genaue topographische Beobachtungen machen zu können, besuchte er Smyrna und die Gegend von TROJA, um das EPOS vor Ort lesen und es auf diese Weise unklassisch, realistisch verstehen zu können. Er führte damit eine Lesepraxis ein, der zahlreiche Hölderlin-Philologen (wie etwa Uffhausen, Henrich oder Lefébre), auch nachfolgen, wenn sie Hölderlins späte Gedichte, wie etwa Andenken, an Ort und Stelle lesen, um sie aus den Realien besser zu verstehen.
Robert Wood faßte seine wichtigste Erfahrung während seiner archäologischen Reise in KLEINASIEN in der These zusammen, daß neben der Landschaft, die sich mit der Zeit am wenigsten verändert und das GEDÄCHTNIS an die antiken Götterwelt am ehesten beibehält, es die archaischen griechischen SITTEn sind, die seit Homers Zeit am meisten erhalten blieben. Diese homerischen Sitten glaubte Wood im Arabien des 18. Jahrhunderts noch entdeckt zu haben. Er folgerte, daß diese orientalische Welt für die gemeinsame Wiege der archaischen Epik und der biblischen Literatur gehalten werden soll: „Da wir indessen gefunden haben, daß sich die Sitten der Iliade noch in einigen Theilen des Orients erhalten, und sogar in ziemlich hohem Grade jene ächte natürliche Simplizität beybehalten haben, die wir in seinen Werken und in der Bibel SCHÄTZEN, so glaube ich, ist es der Mühe wert, zu untersuchen, wie weit diese Ähnlichkeit zu verschiedenen Zeiten geht.“
Im FRAGMENT von Hyperion reist Hyperion mit Adamas zum Ufer des alten Ilion, um unter den Grabhügeln, „die vielleicht dem Achill und Patroclus (…) errichtet wurden, vom vergangnen und künftigen Griechenlande“ zu sprechen. In der vollendeten Fassung stammt dagegen der Held nicht mehr aus Kleinasien, sondern von der Kykladeninsel Tina. Es gehört aber zur ersten und prägnantesten Station seines Bildungswegs, nach Smyrna zu gehen: „Geh vorerst nach Smyrna, sagte mein Vater, lerne da die Künste der See und des Kriegs, lerne die Sprachen gebildeter Völker und ihre Verfassungen und Meinungen und Sitten und Gebräuche, prüfe alles und wähle das Beste!“ Der WUNSCH des jungen Hyperion, “in die Welt zu gehen“, „gebildete Völker“ in der Vielfalt ihrer Sitten und Verfassungen kennen zu LERNEN, führt nicht nach Westen, sondern nach Osten. Er wandert am Gestade des Meles, wo einst die Ilias entstand, und singt Verse begeistert mit, erreicht die Ebene von Sardes, wo einst der lydische König GYGES lebte, sieht „in der goldnen Fluth des Pactolus die Schwäne“ spielen, und legt sich des nachts an einem TEMPEL der archaischen Muttergöttin Asiens, KYBELE, nieder. Das Orientalische der homerischen Welt wird später in den poetologischen Versuchen Hölderlins noch mehr hervorgehoben, mit einer ähnlichen Klarheit wie einige Jahre später bei NOVALIS: „In Jonien merkt man den erweichenden Einfluß des warmen asiatischen Himmels, so wie man hingegen in der frühsten dorischen MASSE die geheimnisvolle Sprödigkeit und Strenge der ägyptischen Gottheiten gewahr wird.“ (Novalis, II, S. 409, III, S. 168.) Oder mit mehr KOINZIDENZ können wir Friedrich SCHLEGEL anführen, mit dessen frühen Schriften Hölderlins genannte Aufsätze durchaus VERWANDTSCHAFT zeigen. Schlegels Erstlingsschrift Von den Schulen der griechischen Poesie (1794) gliedert den Werdegang der griechischen POESIE nicht nur zeitlich, sondern explizit nach Stämmen und nach geographischen Gegenden in „Schulen“ (ionisch, dorisch, attisch, alexandrinisch). Schlegel zufolge waren in der ionischen Epik „Poesie, Geschichte und Philosophie“ „noch nicht getrennt. Es gab, statt dieser noch eins: den MYTHUS“. Die epische Dichtung wird durch die „Naturvollkommenheit der heroischen Charaktere“ kennzeichnet, sowie durch „Reichtum, WECHSEL und Spannung“, durch „natürliche Anmuth und Leichtigkeit, kurz: soviel schönes Leben“. Schlegel setzt das Ionische mit Natur, das Dorische mit BILDUNG, das Attische mit Schönheit gleich, und diese Korrespondenzen sind meiner Auffassung nach auch beim jungen Hölderlin zu finden. Es war sicherlich einer der wichtigsten Aspekte für seine Homerverehrung, daß er die homerischen Epen - wie Schlegel – als „Natur“ betrachtete. Er hat genauso wie Schlegel das Dorische mit „Bildung“ gekennzeichnet, wobei auch die politische Bildung Spartas durch den sagenhaften LYKURGOS gemeint ist: „In üppiger Kraft eilt Lacedämon den Atheniensern voraus, und hätte sich eben deswegen auch früher zerstreut und aufgelöst, wäre Lycurg nicht gekommen, und hätte mit seiner ZUCHT die übermüthige Natur zusammengehalten. (…) Die Spartaner blieben ewig ein Fragment.“ MHA I, S. 682.)
Die Ruinen von Athen und das Klassisch-Griechische überhaupt werden in Hyperion mit „respektvoller Distanz“ oder eher sogar mit gewisser Kühle behandelt, und die begeisterte Lobrede des Helden auf Athens GRÖßE klingt ziemlich formelhaft und schematisch. Trotz des erwartungsvollen Heraufbeschwörens der attischen Kultur der Schönheit und FREIHEIT, ergriff den Helden bloß „das schöne Phantom des Alten Athens, wie einer Mutter GESTALT, die aus dem Todtenreiche zurückkehrt.“ Die Ruinen von Athen ähneln einem „unermesslichen Schiffbruch“, „wenn die Orkane verstummt sind und die Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkenntlich auf der Sandbank liegt“. Dieses BILD der athenischen Antike nimmt einigermaßen jene lyrische Stimme vorweg, die sich vom Vergangenen, vom Gestorbenen distanziert:

Und rückwärts soll die Seele mir nicht fliehn
Zu euch, Vergangene! Die zu lieb mir sind.
Denn euer schönes Angesicht zu sehn,
Als wärs, wie sonst, ich fürcht es, tödlich ists,
Und kaum erlaubt, Gestorbene zu weken.

Neben der dramatischen Überbetonung des Vergangenseins und der Monumentalität der Verwüstung fällt mir noch ein weiteres ungewöhnliches MERKMAL der Hölderlinschen Schilderung der Ruinen von Athen auf: der PURISMUS des Blicks. Hyperions Auge säubert die Ruinen von Athen ganz gründlich von allen fremden Lebenszeichen, genau mit dem Effekt, wie man heute die Ruinen museal erlebt. Er sieht von allen Zeichen orientalischer Lebensart und Bautätigkeit weg, die in die weißen Marmordenkmäler attischer VOLLKOMMENHEIT eindrangen, schließt alle christlichen und islamischen Lebensmomente aus, obwohl er diese Passagen des Romans, wie es einzelne Details verraten, mit genauer Kenntnis von Chandler, Wood und der Stiche von Stuart und Revett formulierte.

<img src = "http://www.vonwolkenstein.de/images/ruinenathens.jpg" alt = "Athens Ruinen" align = "right" hspace="35" vspace="35" style="margin-left:5mm" >

Hölderlin hebt das Klassische in Hellas nicht hervor. Dieses wird nicht als absoluter Höhepunkt, als der Inbegriff des Hellenischen überbewertet, ja man neigt sogar dazu, aus dem Lob die spätere Sicht Hölderlins schon herauszuhören, daß Athen im unmäßigen TRIEB nach Kunst aufging, also im Gestalteten seine NATÜRLICHKEIT, seine Lebendigkeit verlor. Der Polyzentrismus der griechischen Antike, die den Hyperion kennzeichnet, wird sogar in Archipelagus, in Hölderlins feierlichster Hymne an Athen, auf vielfältige Weise veranschaulicht. Das THEMA des Gedichts – der heroische SIEG der Athener über die Perser, die Wiedergeburt der Stadt Athen aus ihrer Asche - bringt es zwar mit sich, daß diese Polis „die geliebteste“ (V. 63) genannt wird, in der üppigen Fülle der Erinnerungsbilder fällt jedoch der ECHO der dreifältigen geokulturellen Landschaft auf. Athen ist ein „herrlich Gebild“, „des Genius Werk“ (V. 179-83), die Stadt der Kunst und der freudigen FESTe, Sparta wird um seiner Taten willen (V. 271) erwähnt. Und Ionien, welches mit seinen Kolonien zur westlichen GRENZE der ÖKUMENE reicht und Asien bis ÄGYPTEN einschließt, es gibt mit seiner allgegenwärtigen Natur, mit seinen Bergen, „Gärten“ (V. 279) und Flüssen den Schauplatz historischer Ereignisse um, und „des Orients KIND“, „die Sonne des Tages“ windet dem Alten Archipelagus den KRANZ, als Liebes- und Siegeszeichen (V. 35-42).41 Diese drei Charakterbilder bilden gemeinsam „das liebende VOLK“, den „Einen Geist“ (V. 239-240, ganz im Sinne des heraklitischen Prinzips des Hen diaferon heauto, des Einen in sich Unterschiedenen.
Im Kleeblatt des Hellenischen erhält also die ionische Kultur einen eigenartigen Akzent, der im Kontrast zu den einseitigeren Griechenlandkonstrukten der Zeitgenossen besonders auffällt. Herder, WOLF, Schiller oder sogar die Gebrüder Schlegel haben in Homer eher eine halb barbarische, mündliche Volkspoesie gebilligt, das orientalische Element der ionischen Kunst haben sie für ihren Nachteil gehalten, und die ionische NATURPHILOSOPHIE als bescheidenen Anfang des wissenschaftlichen DENKENs gebilligt, der aber im Vergleich zu PLATONn und ARISTOTELES unterentwickelt sei. Sie waren nicht wie Hölderlin vom Vorteil einer kulturellen Mischung begeistert, die diese Region kennzeichnete, haben von der feinen und vielschichtigen kulturellen Erfahrung der Ionier mit dem Fremden kaum Kenntnis genommen, die sie durch Seefahrt, Handel und durch die begünstigte Lage, an der Grenze zweier Welten angesiedelt zu sein, für sich erwerben dürften, und dadurch unterschiedliche Kulturen in sich integrierten.
Als Hölderlin im östlich-griechischen Dichter Homer den kulturstiftenden GEIST der Griechen bewunderte, hat er zugleich die herkömmliche Orientierung nach Ost und West transzendiert. Er war sich darüber im klaren, daß die Richtungsbestimmungen wie Osten und Westen relativ sind, als Konstrukte unserer kulturellen Orientierung zu betrachten sind, die je nach Standort, Epoche und Perspektive sich wandeln. Diese Wandlungen hängen auch mit der Eigenart des kulturstiftenden Geistes zusammen, daß der Geist - wie es in Brod und Wein heißt – „Kolonien“ (Pflanzstätten) „liebt“. MIMNERMOS oder HERODOT zufolge entstand auch Ionien als Folge aiolischer KOLONISATION in der vorhomerischen Zeit. Eine umgekehrte Richtung der Kulturströmung erkennt man in der Bevölkerung Siziliens durch die Ionier. Merkmale dieses Kulturtransfers erkennt man auch in Hölderlins Sizilien. So gehört der Ätna schon in Hyperion zu den Urlandschaften der ENTGRENZUNG, der für den Osten charakteristische Begeisterung und kühner Lebenslust, die nach einer VEREINIGUNG mit dem Urelement, mit der Arche Feuer drängt: „Gestern war ich auf dem Aetna droben. Da fiel der große Sizilianer mir ein, der einst des Stundenzählens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in s einer kühnen Lebenslust da hinabwarf, in die herrlichen Flammen, denn der kalte Dichter hätte müssen am Feuer sich wärmen, sagt ein Spötter nach ihm.“ Dieses emphatische Entflammtsein für die Allgegenwart göttlicher Natur ist bei EMPEDOKLES ein Homerisches, östliches Erbe, das Hölderlins Empedokles, im GEGENSATZ zum unsterblichen „Mäoniden“, durch NÜCHTERNHEIT, Beobachtungsgabe und Maß nicht zu korrigieren wußte.

II. Der Weg nach Arabien

Die Lyrik nach 1800 einbegreift noch kühner neue Kulturräume über Griechenland hinaus. In der Hymne Am Quell der Donau wird eine Pilgerschaft aus der Heimat über Ionien nach Arabien imaginär vollzogen: „Auch eurer denken wir, ihr Thale des Kaukasos,/ So alt ihr seid, ihr Paradiese dort“ Das betonte Alter des Kaukasus, sowie sein Beiwort „PARADIES“ deutet an, daß das Gebirge als Urheimat, als Land des Ursprungs betrachtet wird. Die Wanderung verstärkt noch diese Sehnsucht, man könnte sagen: Heimweh, nach Osten („Ich aber will dem Kaukasus zu!“), zum mythischen Ort am Schwarzen Meer, wo einst die Urgermanen mit den „Kindern der Sonne“ (mit den Kolchern) ihre Hochzeit feierten, und die URGRIECHEN, die Ionier, auf die Welt brachten. Die Mythe ist eine ERFINDUNG des Dichters, sie könnte aber von den neuesten anthropologischen Studien des Göttinger Physikers, Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach inspiriert sein. Blumenbach hat in seiner durchaus bekannt gewordenen Studie die Menschen anthropologisch in fünf Klassen geteilt und den TERMINUS von der „kaukasischen“ RASSE geprägt, die in der bunten Vielfalt der Rassen am ältesten und am schönsten sei. Ob Hölderlin damit die deutsche nationale IDENTITÄT auf Rassenverwandtschaft gründete, wie es dann in den kommenden Jahrzehnten von einer natürlichen Verwandtschaft der Deutschen mit den Griechen die Rede war, oder ob er mit der Mythe noch einen poetischen, ästhetischen ZWECK, die GRAZIEn vom Asien nach Deutschland einzuladen, verfolgte, sei dahingestellt. Die Ausbreitung des poetischen Raums läßt sich bei Hölderlin nicht auf die SUCHE nach dem eigenen Ursprung einschränken. Texte nach 1802 bezeugen Hölderlins Ansicht, daß die Wüstenlandschaft Arabiens vieles davon, was wir angesichts des ALTERTUMs als Erratisches, als Enigmatisches fühlen, bewahrt hat. Hölderlins „Erinnerungsräume“ erstrecken sich in die arabische Wüste (PALMYRA) und nach Palästina (Jerusalem). Arabien wird neben Ionien gestellt - als „Spenderin der göttlichgesendeten Gaben“. Arabien ist das „golderfüllte Land“, „die „lichtgetroffne Gegend“, das „glückliche Arabien“ des Dionysos, wie es in der Hölderlinschen Übersetzung des Prologs der Bacchantinnen des EURIPIDES heißt. Ionien und Arabien (sogar bis PERSIEN) bilden jetzt eine zusammenhängende Kulturlandschaft, die inmitten des Mediterraneums liegt, und südwärts nach Palästina, nordwärts nach dem Kaukasus schaut. Je mehr sich Hölderlin vom Klassischen abkehrt, und sogar über den Höhepunkt der attischen Dramendichtung, über die TRAGÖDIEn des SOPHOKLES zu sagen wagt, daß er ihre „Kunstfehler“ verbessern wolle und ihre Darstellungsart lebendiger zu machen gedenke, desto klarer wird die TENDENZ einer neuen POETIK, das Griechische auf seinen orientalischen Ursprung zurückzuführen. „Ich hoffe – schrieb Hölderlin 1803 an Wilmans - die griechische Kunst, die uns FREMD ist, durch Nationalkonvenienz und FEHLER, mit denen sie sich immer herum geholfen hat, dadurch lebendiger, als gewöhnlich dem PUBLIKUM darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verläugnet hat, mehr heraushebe, und ihren Kunstfehler, wo er vorkommt, verbessere.“

Hölderlins „Korrektur“ kann man sicherlich aus der ERKENNTNIS herleiten, die er in seinem viel zitierten BRIEF an Casimir Böhlendorff formulierte. Hölderlin schrieb an seinen FREUND, daß er Homer deshalb für das höchste Genie der griechischen DICHTKUNST hält, „weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Nüchternheit für sein Apollonreich zu erbeuten“. Er war SEELEnvoll – d. h. feurig, LEBENDIG im Geist, vom feurigen Sonnengott APOLLO inspiriert, kurzum: orientalisch-griechisch genug – um das ihm ursprünglich fremde poetische Prinzip, das Hölderlin „abendländische Nüchternheit“ nennt, aneignen zu können, und zwar ohne die Gefahr hin, sich darin zu verlieren und sich selbst aufzugeben. Homers Genialität habe also das eigene und das fremde dichterische Prinzip in sich vereint, er als angeborener „Mäonide“, Orientale, wurde zum ersten griechischen, das heißt europäischen Dichter, zum STIFTER der abendländischen Kultur. Seine Gabe, solche Gegensätze in sich harmonisch vereinigen zu können, fand in seiner vollkommensten künstlerischen SCHÖPFUNG, im Charakter des Achill, ihre Erfüllung, in dem der ionische Dichter einander durchaus widersprechende Gegensätze zu einem harmonischen Ganzen zusammenzufügen vermochte. Die Tragödie des Sophokles konnte nicht mehr dieses Gleichgewicht halten. Es hat sich einigermaßen schon im Schönen verflacht, in der Einseitigkeit der junonischen, nüchternen Darstellungsgabe. Im KONTEXT des Homerbildes Hölderlins, wie ich es zu verstehen versuchte, ist man auch genötigt, Hölderlins ARGUMENT für die NOTWENDIGKEIT einer „orientalischen“ Korrektur an Sophokles, mit anderen Akzenten zu lesen.
Aufgrund der bereits festgestellten Zusammenhänge zwischen dem Orientalischen und dem Hesperischen können wir weiterhin feststellen, daß mit dem Orientalisieren des Sophoklesschen Dramas weit mehr gemeint ist als es wieder mit Lebendigkeit zu erfüllen. Eine Annäherung an die „Nationalkonvenienz“ des hesperischen Deutschlands ist auch mitgemeint. Das Hesperische ist in diesem Kontext das christliche ABENDLAND, welches nicht nur nach Hegels, sondern auch nach Hölderlins Ansicht in einer „positiven“ Religion aufging. Der ursprünglich feurig orientalische Geist der Hebräer, an dem Hölderlin im GEGENSATZ zu Hegel festhielt, wurde zum toten BUCHSTABEn, zum GESETZ und RITUAL. Mit dem Sichtbarmachen des Orientalischen in der Sophoklesschen Tragödie wird also jene Urschicht des Hesperischen zum Vorschein gebracht, die das Abendland jäh von sich ausschloß. Es handelt sich also meines Erachtens bei Hölderlin nicht um einen (zeitgenössischen, präsenten) christlichen Umweg, der den modernen Leser den Griechen, die ihm fremd sind, näher bringen sollte. Obwohl einige Ähnlichkeiten mit Hegels diesbezüglichen Auffasssungen unverklennbar zu konstatieren wären, denkt Hölderlin vom Orientalischen, vom Christlich-Orientalischen anders als sein Studienfreund. Hölderlin benutzt das Orientalische nicht als Vermittler, als Medium, das die „wahre“ Antike, das Griechische, dem Abendland erschließen sollte. Umgekehrt: das Orientalische als elementare Naturwelt, als noch nicht zu menschlichen Gebilden herabwürdigte, zu purer Kunst gewordene Naturreligion, wie Hölderlin etwa SPINOZA folgend sogar das Alte Testament lesen durfte, besitzt sogar eine klare Priorität. Sein Vorrang ist nicht nur zeitlich zu verstehen, sondern auch poetisch-mythisch. Das Orientalische kehrt also in die abendländische Übersetzung der griechischen Dichtung in der FORM einer „neuen Mythologie“, in der Gestalt einer neuen abendländischen Naturreligion wieder ein, die nicht nur im Dionysos die Urschicht des Griechischen bildet, sondern nach Hölderlins Ansicht dem Geist des alten Judentums und des Christentums (als einer Art Sonnenkultes) auch entsprechen sollte. Im Sinne dieser unorthodoxen Christentums schrieb Hölderlin an Auguste, die Prinzessin von Homburg: Er habe mit seiner Sophokles-Übersetzung von dem „unbegreiflich Göttlicheren unserer heiligen Religion in seiner Originalität“ zeugen wollen. Die übersetzerische Erfahrung hat – wie Walter BENJAMIN zeigte - Hölderlin gelehrt, daß wahre Dichtung immer aus einer interkulturellen Erfahrung, in einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Anderen entsteht. Dieses ANDERE ist aber bei Hölderlin noch nicht beliebig, sondern hängt mit den Quellen eng zusammen, bleibt mit dem verdrängten Ursprung in nächster Verbindung. Genau von dem MOMENT an, als in schrankenloser Offenheit eine Beliebigkeit der geokulturellen Bezüge seine Texte zu überlagern beginnt, läßt sich seine Dichtung nicht mehr verfolgen.
Die an Wilmans mitgeteilte neue Poetik Hölderlins setzt also voraus, daß das Orientalische einen gemeinsamen Kulturraum für das Griechische (Dionysoskult, ORPHIK etc.) und für die biblische Poesie bildete. Der AUSDRUCK „biblische Poesie“ würde dann im Sinne der Göttinger Bibelkritik (Michaelis, Eichhorn) verstanden, also als östlicher poetischer Mythus und nicht als dogmatische Religion. Hölderlin will aber im Gegensatz zur Orientalistik nicht das orientalische Erbe der Hebräer rationalisieren, sondern er versucht aus dem „Behälter“ moderner RATIONALITÄT (Nüchternheit) die elementare, belebende feurige Phantasie, die dichterische Kraft des Orients zu befreien. Durch diese Wiederbelebung gewinnt die Rationalität, die ohne ihre Korrektur entstellt wurde, ihre ursprüngliche FUNKTION als genuine poetische Kraft der Darstellungsgabe, als Beobachtungskunst zurück.
Sollte Hölderlin seit der Elegie Brod und Wein die griechische MYTHOLOGIE „synkretistisch“ mit der SYMBOLIK biblischer Texte verbunden haben, handelt es sich um 1803/4 schon um einen neuen Ansatz. Wir wissen nicht, was Hölderlin veranlaßt hat, das Christentum und Christus selbst in den Mittelpunkt einiger seiner späten Hymnen zu stellen. Ich vermute, daß ihn vielleicht der biblische Glaube des Landgrafen Friedrich V. Ludwig von Homburg während seines zweiten Aufenthalts auch berührt hätte. Es ist aber zugleich auffallend, daß diese Hymnen doch nicht auf das Christliche gerichtet sind, sondern eher mit Hölderlins poetischer Fragestellung nach dem Orientalischen übereinstimmen. Im Gegensatz zu den so genannten „synkretistischen“ Momenten erkennt man in der letzten Fassung des Patmos einen Versuch, das SCHICKSAL Christi auratisch mit den Orten seines Lebens zu verbinden:

Vom Jordan fern von Nazareth
Und fern vom See, an Capernaum, wo sie ihn
Gesucht und Galiäa die Lüfte, und von Cana.

Da der erste Teil des Satzes fehlt, wissen wir nicht, worauf sich das Fernsein von den genannten Orten bezieht. Die Orte werden vereinzelt, ohne besonderen ZUSAMMENHANG, den ersten sechs Kapiteln des Johannisevangeliums folgend, genannt. Es sind anscheinend Orte, wo man ihn (Christus), der keine Bleibe auf der Erde hatte, gesucht hatte. Die Orte mitsamt den Begebenheiten, die sich dort abspielten, bleiben aber in unfassbarer Ferne. Die imaginäre Reise nach Jerusalem endet bei der Inselwelt des Archipelagus. Sie vermittelt mit ihren Inseln Patmos und Kos das fremde, wundervolle Schicksal in Palästina.

Johannes, Christus. Diesen, ein
Lastträger möchte ich singen, gleich dem Hercules, oder
Der INSEL, welche gebannet, (…) Peleus. Aber nicht
Genug. Anders ist es ein Schicksal. Wundervoller.
Reicher, zu singen.

Der orientalische MYTHOS über Christi Schicksal läßt sich nicht mit der FABEL eines HERAKLES oder PELEUS vergleichen. Es ist „wundervoller“, rätselhafter, enigmatischer. Es ist „reicher, zu singen“, so offen für das abendländische VERSTÄNDNIS, daß es in einer pindarischen Hymne kaum darstellbar ist. Die FIGUR Christi passt doch nicht in den antiken Göttertag als dessen Vollender. Eine Erweiterung des Begriffes der Antike ist nötig, um ihn einbeziehgen zu können.
Sollten die Räume für Christi LEBEN und Schicksal für den Dichter in der Patmos-Hymne verschlossen bleiben, können wir in Der Einzige einen entschlossenen Schritt vorwärts vom hellenistischen Kleinasien in die zentrale Gegend Vorderasiens nachvollziehen. Die Fahrt nach Osten beginnt mit der VERGEGENWÄRTIGUNG von ELIS und Olympia, von denen das lyrische ICH nur noch „gehöret“ hat, setzt sich dann mit einer vorgestellten Präsenz vom Parnaß, vom Bereich des Apoll nach Kleinasien, in die Welt einer nachchristlichen Mischung von GRIECHENTUM und jüdisch-christlichem Orient:

bin
Gestanden immerdar, an Quellen, auf dem Parnaß
Und über Bergen des Isthmus
Und drüben auch
Bei Smyrna und hinab
Bei Ephesos bin ich gegangen.

Und dann geht es noch weiter. Der Vergleich von Christi Schicksal mit den „weltlichen Männern“ Dionysos und HERAKLES führt in die vorderasiatische Wüstenlandschaft:

Der Ort war aber
Die Wüste. Dort sind jene sich gleich. Erfreulich. Herrlich grünet
Ein Kleeblatt.

Ich wage nun hervorzuheben, daß die Wüste nicht nur allegorisch, ja sogar eher ganz konkret zu lesen ist. Es handelt sich um eine topographische Region, um die syrische Wüste, in die Hölderlin Dionysos und Christus, aber diesmal auch Herakles, der durch den Feuertod unter die Himmlischen aufgenommen wurde, gehört. Dies ist die gleiche Wüste, die unter der heißesten Sonne liegt, ihre Charakteristik wird aber hier anders vertieft. Sie scheint der Ort der extremen Horizontalität und zugleich der extremen Vertikalität zu sein. In der Wüste blickt man ja gewöhnlich ganz weit, rundherum bis zum HORIZONT, man sieht die Sonne morgens vom Horizont beginnend aufgehen und abends unter den Horizont sinken. Und die Himmelskörper sind auch des nachts auf eine besondere Weise sichtbar, als ob der Himmel sich mit der Erde berührte: „Nemlich Christus ist ja auch allein / Gestanden unter sichtbarem Himmel und Gestirn“. Diese unheimliche Vertikalität wird dann noch mit dem durchaus anschaulichen Bild des Abgrunds gesteigert. Herakles, Dionysos und Christus werden zu dritt am Rande eines Abgrunds gestellt: „Die stehn allzeit, als an einem ABGRUND, einer neben / Dem andern.“ Die Landschaft des heroischen Schicksals, die Wüste, ist nicht nur nach oben geöffnet („Nemlich immer jauchzet die Welt / Hinweg von dieser Erde“), sondern auch nach unten, sie ist abgründig, bodenlos. Sie ist den Elementen, der Sonne, dem WIND, horizontal und vertikal, ausgesetzt, sie ist eine Landschaft jenseits der Grenze des Menschlichen überhaupt. In anderen Gedichten Hölderlins erscheint sie aber zugleich als eine wüste Kulturlandschaft. Der Nachtgesang Lebensalter führt den Leser wiederum in die syrische Wüste und befragt ihre Ruinen:

Ihr Städte des Euphrats!
Ihr Gassen von Palmyra!
Ihr Säulenwälder in der Eb’ne der Wüste,
Was seid ihr?

Der Sprechende wendet sich in direkter Anrede an die Städte des Euphrat, um sie zu fragen: „Was seid ihr?“ Diese im Spätwerk ungewöhnliche konkrete dialogische Sprechsituation braucht eine Erklärung. Der direkte Bezug des Sprechenden zum Ruinenfeld in der syrischen Wüste wurde gewöhnlich mit dem Bildmaterial der Reiseberichte erklärt. Die große Anzahl von Stichen aus dem 18. Jahrhundert gibt die kaum vorstellbare Monumentalität dieser Ruinen wieder. Sie durften den Dichter noch weit mehr als einst die Ruinen Athens, die er mit einem Schiffbruch verglich, in eine atemlose Verwunderung angesichts der ungeheuren Verwüstung versetzen. Welche Bilder er genau gesehen hat, welchen Text er dazu zu lesen vermochte, ist in der FORSCHUNG durchaus umstritten und unsicher geblieben. <img src = "http://www.vonwolkenstein.de/images/palmyra.jpg" alt = "Palmyra" align = "right" hspace="35" vspace="35" style="margin-left:5mm" > Man hat auch die Beweiskraft des Hölderlinschen Vergleichs zwischen Säulengang und WALD durchaus überschätzt. So wurde Woods Reisebericht, insbesondere sein KOMMENTAR bis jetzt kaum beachtet, obwohl das Werk in mehreren Ausgaben, unter anderem in Französisch und auch in deutschen Sammelbänden erschien.
Wood hat nicht nur die zuverlässigsten Stiche über Palmyra anfertigen lassen, sondern hat von den rätselhaften Elementen in der GESCHICHTE der Stadt Palmyra, was sie war und wie sie untergehen sollte, in seinem Kommentar mehrmals gesprochen: „Es ist in der That wunderbar, daß die Geschichte uns kaum etwas mehr als bloße Muthmassungen von dem, was theils Balbeck, theils Palmyra betrifft, liefert. Gleichwohl findet man sonst nirgends so prächtige Reste des Alterthums, wovon wir wenig UNTERRICHT haben, außer was man durch die Aufschriften heran gebracht sind. Sollte nicht dieser Mangel uns von der Eitelkeit des Stolzes, und von der Unbeständigkeit menschlicher Größe Anweisung und Überzeugung geben? Das Schicksal dieser zwo Städte ist schon allen andern unterschieden. Von dem, was sie gewesen sind, haben wir keinen weiteren Zeugnisse, als ihr menschliches Stückwerk.“
Sollten die motivischen Parallelen (STOLZ, Übermut) zwischen Woods Text und Hölderlins GEDICHT dahingestellt werden, gilt doch die Mehrzahl der angeredeten Städte als weitere Parallele. Die Mehrzahl wird im Anfangsvers stark hervorgehoben: „Ihr Städte des Euphrats!“ Dies weist darauf hin, Palmyra für ein Exempel zu halten. Wofür? Meines Erachtens steht sie auch für andere Ruinenstädte in der syrischen Wüste. Diese Städte können eine Schicksalsgemeinschaft durch ihre HINGABE an den Sonnengott, an Apoll-BAAL bilden, wie neben Palmyra etwa Balbeck, griechisch: „Heliopolis“, in „Coelosyrien“, dessen monumentalen Sonnentempel Wood genau beschrieben und abgebildet hat, und das Schicksal der Stadt mit dem von Palmyra verglichen.

Dieses historische Material läßt sich mit dem Hauptmotiv des Gedichts vereinbaren, mit dem MOTIV des Feuertods, der als Folge einer Grenzüberschreitung, eines Unmaßes, einer grenzenlosen Begeisterung Städte, Völker unter der heißesten Sonne traf:

Euch hat die Kronen,
Dieweil ihr über die Gränze
Der Othmenden seyd gegangen,
Von Himmlischen der Rauchdampf und
Hinweg das Feuer genommen.

Die Grenzüberschreitung, die mit einem ZITAT aus Joel bzw. aus der Apostelgeschichte eine apokalyptische Antwort der Himmlischen durch „Rauchdampf“ und „Feuer“ hervorrief, weist wohl auf den Begriff der HYBRIS hin. Palmyra bzw. der Orient ist in dieser Hinsicht die Geburtstätte des Tragischen, der dionysischen Entgrenzung und Überhebung überhaupt. Aber auch mehr. Die späten Gedichte geben die Vorstellung vom linearen Gang der Geschichte auf, und sie konstituiert sich neu in Raumverhältnissen. Patmos und LEBENSALTER werden außerdem von der Überzeugung geprägt, daß die Geschichten der BIBEL als ein Teil orientalischer Mythologie mehr vom archaischen Wesen, vom rätselhaften Urwissen und von der Urreligion des Orients bewahrt hätten als die Griechen. Die Was-Frage, die direkt an die Ruinen gerichtet ist, anerkennt das FAKTUM des Enigmatischen, bekennt einerseits eine Distanz, andererseits das Unvermögen, das Gesehene sicher deuten zu können.
Die Linien der Geschichte bilden ein vielfältiges, kaum mehr deutbares Netz von Verbindungen, Assoziationen und widersprüchlichen Beziehungen zwischen geographischen Orten, Personen und Begebenheiten bzw. zwischen Textlandschaften. So werden verdeckte Zitate aus dem BUCH des Exodus mit PINDARs Olympischer Ode in Verbindung gesetzt, die Gestalt Jesu aus der GRUPPE anderer mythischer „Lastträger“, wie Herakles und PELEUS, hervorgehoben. Der ORIENT wird immer mehr zum Rätsel individuellen, nationalen, ja sogar menschlichen Geschicks überhaupt, er wird zum bodenlosen, tiefen Abgrund des Ursprungs, überhaupt: „Vom Abgrund nemlich haben wir angefangen…“. Von diesem „Abgrund“ führen ganz unterschiedliche Wege in die Antike und in die Moderne.

III. Was lehrt uns der Untergang antiker Kulturen?

Im Spätwerk Hölderlins lassen sich also einige wichtige Veränderungen in der Fragestellung nach der Antike erkennen.
Hölderlin hört auf, an der „Fabrikation der Antike“ zu arbeiten. Er meidet zunehmend solche Verallgemeinerungen wie „die Antike“ oder die „hellenische Antike“. Die antike VERGANGENHEIT wird immer mehr in ihren faktischen Fragmenten, das heißt in ihren bildlichen und worthaften zerstreuten Überbleibseln ergriffen. Sie wird in ihren konkreten raumzeitlichen Verhältnissen und in ihrer Heterogenität vor Augen geführt. Die so genannte „klassische Antike“ mit Athen als ihrem ZENTRUM wird als nur ein Exempel unter anderen betrachtet. Das dichterische Gedächtnis scheint sogar andere Kulturräume wie Kleinasien und Arabien zu bevorzugen.
Die Antike, die auf ihre orientalische Heimat zurückverfolgt wird, verliert allmählich ihre ihre Deutbarkeit. Der Orient wird bei Hölderlin nie zu einem erhellten KONZEPT. Parallel dazu wird das moderne Abendland mit seinem Kunststreben immer mehr offen gedacht, da sein Richtungssinn sich als fragwürdig erwies oder kaum mehr klar zu erkennen ist.
Die drei Kulturräume werden immer mehr individuell geschildert, mit ihren eigentümlichen Krisen und Untergängen. Die unterschiedlichen APOKALYPSEn in Hölderlins Spätdichtung lassen sich durch diese Einsicht wohl anders lesen als zuvor. Die Städte der Wüste mit ihrem enthusiastischen Sonnenkult fielen ihrer eigenen feurigen Natur anheim: Ihre Lichttrunkenheit, die über die Grenze der Sterblichen ging, hat ein verheerendes Feuer vom Himmel herbeigerufen (Lebensalter). In Patmos wird das alles versengende Feuer mit der Stimme GOTTes gleichgesetzt: „Wie Feuer in Städten, tödlichliebend,/Sind Gottes Stimmen…“. In Thränen ist es das homerische Griechentum, die heroische, ehrgeizige archaische Kultur, die östliche Inselwelt des Archipelagus, die ihre „abgöttische“ Liebe zu den Himmlischen im Feuertod abbüßen mußte.
Ein anderer Schicksalsverlauf trifft auf das klassische Griechentum zu. Im Fragment Meinest du, Es solle gehen wird nach dem Grund gefragt, wie die klassische Antike, die für die Goethezeit zum IDEAL gewordene klassische, vollkommene Schönheit Athens zugrunde ging:

Nemlich sie wollten stiften
Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber
Das vaterländische von ihnen versäumet und erbärmlich gieng
Das Griechenland, das schönste, zu Grunde.

Hölderlin sieht den Grund des Untergangs im Versäumen des Vaterländischen, d. h. in der Unfähigkeit, die ursprüngliche orientalische Natur in den durchformten Lebensverhältnissen der Polis aufrechtzuerhalten“. Dies traf das „schönste“ Griechenland, die Polis der schönen Künste, Athen, vom der schon in Archipelagus hieß, daß sie zum „Gebilde“, zum Kunstwerk wurde. So hat sie das Feurig-Lebendige, das sie einst beseelt hat, eingebüßt, wurde zum Schiffbruch der Geschichte, zur Stätte eines unermeßlichen Scheiterns.
Wie verhält es sich aber mit dem Abendland, welches Geschick ist ihm angesichts der unterschiedlichen Wege der Antike beschieden? „Wohl hat es andere Bewandtnis jezt.“ – heißt es im gleichen Fragment. Mit Deutschland verhält es sich ja wirklich anders, sagt Hölderlin, weil es fern davon steht, schon ein Reich der Kunst gebaut zu haben. Die Fortsetzung des Fragments ist aber zu sehr bruchstückhaft, um die „Bewandtnis“ mit SICHERHEIT eruieren zu können. Jede Erschließung zieht deshalb andere Textfragmente hinzu. Auch mein Gedankengang stützt sich auf die umgebenden Fragmente im Homburger Folioheft.
Als erster Anhaltspunkt bieten sich die Verse, die Deutschland als Land der „FROMMEN“ bezeichnen: „Es sollten nämlich die Frommen … und alle Tage wäre das Fest“. Außer einer kritischen Anspielung auf die Feste der Französischen Revolution wird hier klar das christliche Abendland angedeutet. Sie ist es mit ihren „Frommen“, die das Fest der Himmlischen profanieren. Mit der Alltäglichkeit des Festes wird auch das WUNDER gemein gemacht, das Erratische, das Verhüllte nüchtern rationalisiert:

Wenn aber alltäglich
Die Himmlischen und gemein
Das Wunder scheinen will.
(…)

Dem Untergang der schönen Antike wird eine säkularisierte hesperische Welt entgegensetzt, die - einer Randnotiz folgend – „orbis ecclesiae“ – genannt werden kann. Die griechische Welt ging zwar an eigener SCHULD zugrunde, war aber doch das Land der Schönheit. Selbst die Griechen, die die größte Schönheit hervorbrachten, konnten nicht mit der Zerbrechlichkeit der von ihnen hervorgebrachten Schönheit umgehen. Sie haben nicht erkannt, wie „apokalyptisch“ sie ist, das heißt wie sehr sie ihren Untergang in sich selbst birgt: „Das bist Du ganz in deiner Schönheit apocalyptica“ – dieser ohne Kontext dastehende VERS Hölderlins trifft auf sein Griechenland genau zu. Griechenland hat das Schöne mitsamt seiner apokalyptischer Natur der Welt offenbart: Es zeigte das Schöne in seinem Untergang und eben nicht in der UNSTERBLICHKEIT als ewige NORM (wie Winckelmann oder Schiller dachten).
Der Dichter ist in seinem hesperischen VATERLAND also auf doppelte Weise mit den „Ruinen der Antike“ konfrontiert: Er ist einerseits genötigt, eine LEHRE aus dem UNTERGANG des Griechischen zu ziehen und die Brechungen, die Verzerrungen des Schönen, seine apokalyptische Natur zu akzeptieren. Diese Akzeptanz der verzerrten, zerteilten, ja sogar kranken Schönheit, die aus den Trümmern der klassisch-griechischen Antike uns noch zugekommen ist, und was Hölderlin selbst noch hervorzubringen fähig war, war ihm anscheinend leichter, als sich mit dem Zerrbild einer einst leidenschaftlichen, feurigen, lebensvollen orientalischen, hebräischen Kultur zu begnügen. Diese gegenwärtige hesperische Kultur hat Hölderlin in seinem Brief an Böhlendorff mit einem Sarg verglichen, der zugleich an die Charakterisierung Ägyptens als leblose Kultur der Demütigung, Tyrannei und Häßlichkeit erinnert. Hier, im zitierten Fragment ist das Vaterländische mit dem Profanieren des Wundervollen mit Dürftigkeit anstatt ursprünglichen Reichtums, mit Eintönigkeit und mit belanglosem Geschwätz gleichgesetzt. Aus dem feurig Orientalischen asiatischen Ursprungs wurde eine despotische, formelhafte „ägyptisch“ starre Kulturwelt. Die Orientalisierung des Sophokles sollte also nicht nur das griechische Kunstwerk von der Rigidität seiner Schönheit befreien, sondern das teils verdrängte, teils „ägyptisch“ verzerrte Erbe des Abendlandes im Orient neu beleben.
Was Hölderlin unter Aufdecken des wahren gemeinsamen orientalischen Fundaments des Griechischen und des Hesperischen meint, würde also in diesem Kontext heißen: Mit dem griechisch verlautbarten aber ursprünglich hebräischen Begriff des „Apokalyptischen“ wird sowohl der griechischen Kultur als auch dem Abendlands jeweils ein neuer Sinn gegeben. Die Erkenntnis von der apokalyptischen Natur der Schönheit kann das Griechentum von ihren falschen modernen Konstrukten befreien, etwa von seiner Wiederbelebung als überzeitlicher Menschlichkeit, die durch die deutsche KLASSIK und durch neohumanistische Strömungen immer wieder inszeniert wurde. In bezug auf das Abendland gewinnt das Apokalyptische einen anderen Sinn. In Anbetracht des orientalischen Flammentods, der mit den Städten der ganzen kleinasiatischen Kultur ein Ende setzte, lernt der moderne Dichter eine neue Ernsthaftigkeit. Rauch und Feuer setzten ihm prophetisch ein Zeichen: „Gott rein und mit Unterscheidung/ Bewahren, das ist uns vertrauet,/ Damit nicht, weil an diesem/ Viel hängt, über der Büßung über einem Fehler/ Des Zeichens/ Gottes Gericht entstehet.“
Und zuletzt muß noch hervorgehoben werden, daß es beim späten Hölderlin das Hesperische im ALLGEMEINen überhaupt nicht mehr gibt. Es gibt Unterschiede je nach Ländern, Völkern, geographischen Gesichtspunkten und Landschaften. FRANKREICH, die Gegend von Bordeaux, lebt „auf den Ruinen des antiquen Geistes“ unter der gleichen Sonne. Zeiten und Kulturräume können sich mythisch miteinander durchaus korrespondieren, das zeitliche Nacheinander des Kulturverlaufs wird durch die dichterische Arbeit an ihm, durch die Arbeit der ERINNERUNG verräumlicht, die Segmente unterschiedlicher Kulturen fügen sich zu einer immer neuen Kombination zusammen, bilden „Erinnerungsräume“, in denen Erfahrungsschichten verschiedener Zeiten gleichzeitig präsent sind. Solche synthetische Erinnerungsräume bringen zum Ausdruck, daß das Abendland ohne die Sonne der orientalischen Antike gottlos, geistlos, leblos wird. Es ist bedroht, ein naturfernes, erkaltetes menschliches Konstrukt zu werden, auch wenn es nie die Schönheit und die plastische Kunst der schönsten POLIS, Athen, nachzubilden vermag. Das Anderssein der Moderne ist schon dadurch gegeben, daß sie gegenwärtig ist, und der Dichter befindet sich in dieser Zeit, hat an ihr Teil. Die Moderne schien also für Hölderlin schon aus diesem perspektivischen Grunde offen. Hölderlin glaubte, daß die Moderne in ihrer Selbstbestimmung vor Alternativen steht. Er übertrug Bilder und METAPHER des heroischen Untergangs in das Hesperische, wies als eine Alternative das Aufgehen im himmlischen Feuer auf, dessen geschichtliche Dimension in der apokryphen Apokalyptik der späten Hymnen, etwa in den letzten Überarbeitungen von Brod und WEIN, und des PATMOS sich entfaltet. Die andere Alternative wird mit dem Bekenntnis verbunden, daß eine Naturnotwendigkeit herrscht, daß die VORSTELLUNG von Schicksalswahl und Selbstbestimmung eine bloße ILLUSION war.

Wohl muß
UMSONST nicht ehren der Geist
Der SONNE Peitsch und Zügel. Das will
Aber heißen
Des Menschen Herz betrüblich
.

Tod des Empedokles

- die Todesutopie des Schweigens → der Eintritt in den Ätna ist der TOD im LICHT, der Eingang in die Einheit des Unbewußten, das die Natur, vorzüglich in anorganischer Naturschönheit, zu versprechen scheint (BLOCH)
- setzt das Seelendrama von SOPHOKLES, RACINE und GOETHE fort (DILTHEY)
- der HELD scheitert am Widerspruche der WIRKLICHKEIT, an der Zerstückelung der Welt um sich her (Fahrner)

Hölderlin als Übersetzer

- seine SOPHOKLES-Übersetzungen werden von Goethe abgelehnt, weil sich Hölderlin nicht an die Übersetzungsvorgaben VOSS' hielt, sondern die mit Mühe gefundene und aufrechterhaltene ORDNUNG der Silbenmaße sprengt → Hölderlin hielt sich nicht an die von dem Goethe-Kreis geforderten Normative des Übersetzers, sondern nahm den Text eigen an
- er bringt Provinzialismen an gehobener Stelle zu selbständiger und eigentümlicher WIRKUNG und verhöhnt durch unerhörte plastische Wucht der Bilder die Grenzen des Erlaubten (Voß)

Wertung/Rezeption

- ahnte das unter den Götternamen verborgene unendliche Leben (BAEUMLER)
- beginnt mit TIECK und NOVALIS jene neue LYRIK, welche den Überschwang des GEFÜHLs, die gegenstandslose MACHT der Stimmung… die unendliche Melodie einer Seelenbewegung ausdrückt, die wie aus unbestimmten Fernen kommt und in sie sich verliert (Dilthey) → damit ist Hölderlins Lyrik in den Strudel des Romantischen hinausgestoßen, die SCHEIDUNG aufgegeben (Fahrner)
- Seitentrieb der romantischen POESIE (Haym)
- man muß der Verrückung folgen, um im KUNSTWERK zu verweilen
- SPRUNG in das Sein vor den Menschen. Verwahrung in der Stimme des Dichters → Ahnungen
- der letzte Dichter einer vergangenen ZEIT - Heidegger bemüht sich um ihn -, denn die Götter sind ihm unmittelbare Erfahrung, nicht Kulturgut, wie sie es Schiller sind → Hölderlin ist von ihnen betroffen und getroffen; der Spur der entflohenen Götter gilt es zu folgen
- Hineinwurf seines Sagens in die Geschichte → STOß des Seins als Erschütterung unseres DASEINs - nicht MORALISCH oder pädagogisch zu verstehen
Frage: Wie kann der Stoß weitergegeben werden?
- wenn die Götter die ERDE rufen und im Ruf eine Welt widerhallt und so der Ruf anklingt als Da-sein des Menschen, dann ist SPRACHE als Geschichtliches, Geschichte gründendes Wort. (Heidegger)
- ihm war es wie keinem gelungen, in klassischer FORM die romantische Seele zu binden, ohne daß sie von ihrer Würze verlor (HUCH)
- Größter der Sehnsucht nach Urbarem
- keine KONTEMPLATION
- aus der Dumpfheit eines ALLGEMEINgefühls in ein ästhetisch-willenhaftes Sehnsuchtsmotiv → Richtung spannen
- elementar (ROSENBERG)
- eine heftig subjektive Natur, verzärtelt und eigensüchtig, nur in sich lebend (Schiller)
- die TAPFERKEIT einer zarten Seele (VOLKELT)

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