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MAJORITÄTSBESCHLUß

- enthält wahrscheinlich noch nicht die volle WAHRHEIT, da es ihm sonst gelungen sein müßte, die Gesamtheit der Stimmen auf sich zu vereinigen
Wo umgekehrt Majoritätsbeschlüsse gelten, kann die Unterordnung der Minorität auf zwei Motive hin geschehen, deren Unterscheidung von äußerster soziologischer BEDEUTUNG ist. Die VERGEWALTIGUNG der Minorität kann nämlich, erstens, von der Tatsache ausgehen, daß die Vielen mächtiger sind als die Wenigen. Obgleich, oder vielmehr, weil die EINZELNEn bei einer Abstimmung als einander gleich gelten, würde die Majorität - mag sie sich durch Urabstimmung oder durch das Medium einer Vertreterschaft als solche herausstellen - die physische MACHT haben, die Minorität zu zwingen. Die Abstimmung dient dem ZWECKe, es zu jenem unmittelbaren Messen der Kräfte nicht kommen zu lassen, sondern dessen eventuelles RESULTAT durch die Stimmzählung zu ermitteln, damit sich die Minorität von der Zwecklosigkeit eines realen Widerstandes überzeuge.
Es stehen sich also in der Gruppe zwei Parteien wie zwei Gruppen gegenüber, zwischen denen die Machtverhältnisse, repräsentiert durch die Abstimmung, entscheiden. Die letztere tut hier die gleichen methodischen Dienste wie diplomatische oder sonstige Verhandlungen zwischen Parteien, die die ultima ratio des Kampfes vermeiden wollen. Schließlich gibt auch hier, Ausnahmen vorbehalten, jeder einzelne nur nach, wenn der Gegner ihm klarmachen kann, daß der Ernstfall für ihn eine mindestens ebenso große Einbuße bringen würde. Die Abstimmung ist, wie jene Verhandlungen, eine Projizierung der realen Kräfte und ihrer Abwägung auf die Ebene der Geistigkeit, eine Antizipation des Ausgangs des konkreten Kämpfens und Zwingens in einem abstrakten Symbole. Immerhin vertritt dieses die tatsächlichen Machtverhältnisse und den Unterordnungszwang, den sie der Minorität antun. Manchmal aber sublimiert sich dieser aus der physischen in die ethische Form.
Wenn im späteren MITTELALTER oft das PRINZIP begegnet: Minderheit soll der Mehrheit folgen, so ist damit offenbar nicht nur gemeint, daß die Minderheit PRAKTISCH mittun soll, was die MEHRHEIT beschließt; sondern sie soll, wenn auch nachträglich, auch den WILLEN der Mehrheit annehmen, soll anerkennen, daß diese das Rechte gewollt hat. Die Einstimmigkeit herrscht hier nicht als TATSACHE, sondern als sittliche Forderung, die gegen den Willen der Minorität erfolgte AKTION soll durch nachträglich hergestellte Willenseinheit legitimiert werden.
Die altgermanische Realforderung der Einstimmigkeit ist so zu einer Idealforderung abgeblaßt, in der freilich ein ganz neues MOTIV anklingt: von einem inneren Rechte der Majorität, das über das Übergewicht der Stimmenzahl und über die äußere Übermacht, die durch dieses symbolisiert wird, hinausgeht.
Die Majorität erscheint als die natürliche Vertreterin der Gesamtheit und hat teil an jener Bedeutung der Einheit des Ganzen, die, jenseits der bloßen Summe der Individuen stehend, nicht ganz eines überempirischen mystischen Tones entbehrt. Wenn später GROTIUS behauptet, die Majorität habe naturaliter jus integri, so ist damit jener innerliche Anspruch an die Minorität fixiert; denn ein RECHT muß man nicht nur, sondern man soll es anerkennen. Daß aber die Mehrheit das Recht des Ganzen von NATUR, d. h. durch innere, vernunftmäßige NOTWENDIGKEIT habe, dies leitet die jetzt hervorgetretene Nuance des Überstimmungsrechtes zu dessen zweitem, bedeutsamen Hauptmotiv über. Die Stimme der Mehrheit bedeutet jetzt nicht mehr die Stimme der größeren Macht innerhalb der Gruppe, sondern das ZEICHEN dafür, daß der einheitliche Gruppenwille sich nach dieser Seite entschieden hat. Das VERHÄLTNIS zwischen Majorität und Minorität erzeugt jetzt nicht mehr den Gruppenwillen, sondern macht ihn nur kenntlich. Die Forderung der Einstimmigkeit ruhte durchaus auf individualistischer BASIS. Das war die ursprüngliche soziologische EMPFINDUNG der GERMANEN: Die EINHEIT des Gemeinwesens lebte nicht jenseits der einzelnen, sondern ganz und gar in ihnen; daher war der Gruppenwille nicht nur nicht festgestellt, sondern er bestand überhaupt nicht, solange noch ein einziges Mitglied dissentierte. (SIMMEL)

siehe auch: MAJORITÄTSPRINZIP

majoritaet.txt · Zuletzt geändert: 2019/07/28 16:16 von 127.0.0.1