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MINNESANG

- Der Minnesang ist ein Minne-Dienst, steht in sozialer und erotischer ANALOGIE zur geistlichen Liturgie, und er bleibt in seinem Schweben zwischen Sexus und ENTSAGUNG unwirklich, eine rein sprachliche Seifenblase, wenn man so will. (Kuhn)
- scheinbar die extremste Selbstwiederholung eines auf wenigen Motiven beruhenden traditionellen Formtyps, der seine Intensität und jahrehundertelange Wirkung aus dem Versuch gewinnt, das innerste STREBEN des Menschen als Zusammenhang irdischer und himmlischer Liebe dialektisch auszufalten und im Gedanken und der Haltung des Dienstes, soziales, religiöses und erotisches Geschehen analog zu verbinden (Wehrli)

Grundkonstellation

- der Ministerialbeamte, ein kleiner Adliger, oder ein fahrender RITTER auf der SUCHE nach Anerkennung und VERSORGUNG liebt die vrouwe, eine verheiratete, höhere Adlige, und drückt diese LIEBE aus → das Ganze muß TRAGISCH enden, Petrarkismus
- die Frauenhuldigung wurde zum Hauptmotiv der deutschen LYRIK, als die romanischen Vorbilder im 13. Jahrhundert die deutschen Sänger zu dieser FORM des Lehensdienstes animierten → der Standesunterschied blieb, die Huldigung war DIENST an der Lehnsherrin, die durch ihre BILDUNG den Sängern nahestanden
- die Beziehung blieb zumeist platonisch, weil die Huld hochgehalten wurde, EHE Sakrileg blieb → gesellschaftlicher Zwiespalt bedingt einzigartigen CHARAKTER der deutschen MINNE, Beleg: deutscher Minnesang nimmt keine Verwünschungen gegen den Aufpasser, den huoter, ins Repertoire auf, der französische dagegen regelmäßig
- endet um 1300

Entstehung des Minnesangs (Theorien)

  • volkstümliche Spuren: Brinkmann, Vogts, Frings
  • lateinische TRADITION: Schwietering → die Liebe als Krankheit wie bei OVID und in mittellateinischen Dichtungen
  • arabische Liebesdichtung: Burdach
  • Minnesang als gesellschaftlicher AUSDRUCK: Kluckholm, Köhler → über die Huldigung der Dame wird der gesellschaftspolitische Aufstieg angestrebt
  • Marienverehrung → die Dame als weltliches Gleichnis im Liebesverhalten

Herrscherdynastien und der Minnesang

  • I. Staufer

- Heinrich VI. , Konrad IV.Friedrich von Hausen, Walther von der Vogelweide
- später deutscher Minnesang auf Sizilien

  • II. Welfen

- Heinrich der Löwe → Kaiserchronik, König Rother, Rolandslied, Lucidarius

  • III. Babenberger

- Walther von der Vogelweide, Neidhart von Reuental, Reinmar der Alte

- Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Heinrich von Veldeke

  • V. Grafenhäuser von Jülich, Kleve, Berg

seit dem 13.Jahrhundert werden die Städte für die ENTWICKLUNG der LITERATUR wichtig: ERFURT, Zürich, Basel, Würzburg, Konstanz

Minne - ein Essay

Ir sult sprechen willekommen: der iu maere bringet, daz bin ich. allez daz ir habt vernomen, daz ist gar ein wint: nu fraget mich. Walther von der Vogelweide

Hinführung

Wahrscheinlich übt keine weitere Geschichtsepoche auf uns Heutige eine solch breitgefächerte und nachhaltige Faszination aus wie gerade die Kultur der Menschen im europäischen Mittelalter (Im Nachfolgenden zu meiner Erleichterung als MA bezeichnet). In den letzten Jahren hat das MA, so paradox es auch klingen mag, wieder einmal eine bemerkenswerte Renaissance erlebt: Es gibt kaum eine Gemeinde in Deutschland mit einem einigermaßen intakten Altstadtkern, die kein mittelalterliches Stadtfest veranstaltet, und in mehr oder meist weniger authentischer Umgebung finden überall Ritterturniere statt. Mittelalterliche Mystiker wie die meiner Auffassung nach überschätzte Hildegard von Bingen oder Meister Eckehard werden von den Esoterikern wiederentdeckt und der Gregorianische Choral und die Musik der Troubadoure beeinflußt nachhaltig die New-Age-, sowie die Pop-Musik. Die Zahl der Neuerscheinungen in den Medien, die sich in irgendeiner Form mit dem MA auseinandersetzen, ist unüberschaubar. Eine besondere Variante auf dem Buch-, Film- und, in neuerer Zeit, auch auf dem Spielemarkt ist dabei die Sparte der sogenannten Fantasy, die nur selten in stimmiger Form alte mittelalterliche Sagenkreise wiederverwertet und in aller Regel in einer nicht näher topografierten, monarchischen Agrarkultur mittelalterlichen Zuschnitts angesiedelt ist. (1) Es drängt sich natürlich die Frage auf, welche Ursachen dieses Phänomen hat. Für Historiker läßt sie sich leicht beantworten: Sie lieben das MA wegen seiner Übersichtlichkeit. Obwohl man nicht vergessen darf, daß auch das MA eine Entwicklungsgeschichte hat und einen Wandel, sogar Revolutionen kennt, ist es doch ist die einzige Epoche in der Geschichte, die in allen Betrachtungsebenen eine in sich abgeschlossene Struktur bietet und einen relativ klar definierbaren Beginn und auch ein ebensolches Ende bietet; es ist, wie es Ferdinand Seibt (2) formuliert, eine endliche Geschichte; es ist das Jahrtausend zwischen dem noch heute nicht völlig erklärbaren Zusammenbruch der Kultur des alten Roms und der Entfaltung des neuzeitlichen Europas. Warum aber übt das MA auch auf den Nichthistoriker eine gleichbleibende Faszination aus? Obwohl es nicht nur eine Erklärungsmöglichkeit gibt, präferiere ich die Auffassung, daß diese innige Liebe zum MA in einer allgemeinen Flucht der Menschen vor der Überkompliziertheit der modernen Gesellschaft besteht. In der Vorstellung vieler ist das MA, und hier in erster Linie ihre höfische und ritterliche Welt ein Utopia, in dem das Leben einfach und klar strukturiert ist, es ist ein anderes, farbiges Dasein. Der Einzelne hat seinen festen Ort in der Ständegesellschaft und die Begriffe Gut und Böse sind deutlich von einander abgegrenzt und eindeutig besetzt. Dazu kommen die Unbekümmertheit und die Rustikalität der mittelalterlichen Sitten, die wohl mancher gerne zurückgewinnen würde. Gleichzeitig und das ist eine merkwürdige Kehrseite, haben die meisten in ihrem Hinterkopf ein abweisendes und bluttriefendes Bild vom MA als einem dunklen, intoleranten und grausamen Zeitalter voller dumpfer Vorurteile und Dummheit, einer rückständigen Epoche, die im hellen Lichte des Altertums einen um so sinistren Schatten auf Europa wirft; einer Zeit, in der die Menschen in uns heute unvorstellbaren hygienischen Zuständen am Rande des Existenzminimums lebten, ständig von Inquisition, Pest und kriegerischen Auseinandersetzungen bedroht; es ist ein Bild des MAs als einer Art von viehischer, aber in ihrer Entsetzlichkeit auch faszinierender Durststrecke in der Menschheitsgeschichte. Aus diesen beiden, in ihrer extremen Vereinfachung jedoch nicht einmal völlig falschen, aber diametralen Positionen heraus wird auch verständlich, wie fremd uns der Mensch dieser fernen Epoche ist, wie weit wir uns von seinem Fühlen, Denken und Wollen entfernt haben, wie schwer es wird, aus der Widersprüchlichkeit unserer Auffassungen Verständnis zu gewinnen. Auch jemand, der sich ernsthaft und intensiv mit dem MA beschäftigt hat, wird immer wieder verblüfft vor einem Lebensumstand oder einer Äußerung dieser so fernen Menschen zurückweichen und sich vergebens um Verständnis mühen. Als Paradigma für diese Fremdheit mag uns hier ein bekanntes Gedicht von Walther von der Vogelweide (um 1170 - 1230) dienen, dessen fulminanter Beginn seltsam vertraut und nah scheint.(3)

Ich saß auf einem Steine, und verschränkte die Beine: darauf setzte ich den Ellenbogen. In meine Hand hatte ich geborgen das Kinn und eine Wange. Angestrengt überdachte ich wie man leben soll in dieser Welt. Ich wußte mir keinen Rat…

Diese Suche nach dem Sinn ist sicherlich jedem bekannt und wahrscheinlich hat er dabei die selbe Haltung beim Nachgrübeln eingenommen. Vierhundert Jahre später wird dieser Sachverhalt von Descartes folgendermaßen ausgedrückt: „Unsere Vorurteile von der Erkenntnis des Wahren können wir, so scheint es, nur los werden, wenn wir einmal im Leben geflissentlich an allem zweifeln, worin sich auch nur der kleinste Verdacht einer Unsicherheit findet.“ (4) Dieses Zweifeln ist der Grundansatz der neuzeitlichen Philosophie. Man sieht, wir befinden uns auf sicherem Boden; der von Selbstzweifeln und Sinnleere geplagte Mensch an der Schwelle zum zweiten christlichen Jahrtausend fühlt plötzlich ein Seelenband, eine bequem zu beschreitende Brücke durch die Jahrhunderte hin zu diesem so fernen Minnesänger und Ritter. Doch dann liest er weiter und seine Interpretation bricht zusammen:

Ich wußt mir keinen Rat, wie man drei Dinge erwürbe ohne nicht eines zu verlieren: Zwei sind Ehre und Reichtum, einander oft ausschließend: das Dritte aber ist die Gnade Gottes, die andern überstrahlend.

Ehre, Reichtum, Gnade Gottes? Ist das für Walther der Sinn des Lebens? Und plötzlich entfernt er sich wieder in der Zeit, sind sein Trachten fremd, sogar abweisend, erzeugt sein Denken im besten Fall Achselzucken. Aber es kommt ein paar Strophen später noch schlimmer. Walther zieht hier einen Vergleich zwischen Insekten- und Menschenstaat und kommt zu einem seltsamen Ergebnis:

Ich sage dir dies: All diese Tiere, all das Gewürm keines lebt ohne Haß. Sie leben in wütendem Kampf. Doch in einem haben sie Verstand: Sie wären nichts, hätten sie sich nicht ein starkes Gesetz geschaffen: Sie wählen sich Könige, sie bestimmen Herren und Knechte. Ach, Deutschland, wo ist deine Ordnung? Was hat dieser Ruf nach einem starken Mann mit der intensiven Selbsterforschung des Anfangs zu tun? Bricht Walther hier bereits dem Sozialdarwinismus eine Stange? Sein Gedicht jedenfalls gipfelt in dem Ausruf: Ach, Gott, der Papst ist zu jung. Hilf, Herr, deiner Christenheit!

Erneut erleben wir das beständige Zurückgreifen in jener Zeit auf die Religion, sie ist das Färbebad, das jede Lebensäußerung des mittelalterlichen Menschen durchtränkt. Ein Leben außerhalb des Gottesstaates gab es nicht, es war in Hegelschem Sinne nicht einmal denkbar. Selbst der Ketzer zweifelte nicht an der göttlichen Ordnung, er hatte nur eine andere Methodenauffassung. Wenn also vom Mittelalter und seiner Kultur, speziell von seiner Literatur die Rede sein soll, muß zuerst über Religion gesprochen werden. Erst aus dieser Blickrichtung kann auf die nur scheinbare Gegenwelt der höfischen Minnedichtung, die in der Hauptsache die Popularisierung der ethischen Grundwerte des sich gerade entwickelnden neuen Standes Ritter ist, eingegangen werden. Und erst danach kann auch der Inhalt des zitierten Gedichtes, das im übrigen ein überragendes Thema des Mittelalters, die Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst, thematisiert, verstanden werden.

Gott ist die Welt

Es ist bei Nichtfachleuten wenig bekannt, daß der Begriff Mittelalter keine Verlegenheitserfindung von modernen Mediävisten ist, sondern aus der Theologie des Heiligen Augustinus (um 354 - 430) stammt, der den Schöpfungsbericht als eine Analogie für die Menschheitsgeschichte auslegt.(5) Die Werke von Augustinus, der am Ausgang der Antike lebte, waren für das MA die grundlegenden Staats-, Geschichts- und Gotteslehren; dieser afrikanische Bischof hat sozusagen die Theorie des MA's geschrieben, spätere Denker wie der unter ihnen weit herausragende Thomas von Aquin (um 1225 - 1274), also ein Zeitgenosse der Minnedichter, beschäftigten sich in der Hauptsache mit der Kommentierung und Auslegung seiner Schriften. Deshalb ist es nicht zu vermeiden, Augustinus in diesem Kapitel etwas ausführlicher zu Wort kommen zu lassen. Für Augustinus lebten die Menschen in einer Zwischenzeit, dem mittleren Zeitalter. Geschichte war ihm ein Altern der Welt zwischen der ersten und zweiten parousia, also dem ersten Auftreten Jesu und seiner erwarteten Wiederkunft, die das Ende aller Tage einläuten sollte. Die Zeit, die ihm übrigens einiges Kopfzerbrechen bereitete, (6) ist für ihn also von Anbeginn durch den Herrn terminiert: Es ist die Übergangsperiode der Bewährung auf der Erde, eine Zeit, in der jeder von Gott an seinen Platz gestellt dieses irdische Jammertal durchlaufen muß. Die Erde stellt dabei den weltlichen Teil des Gottesstaates dar, der aus einem Ort im Himmel (civitas Dei coelestis) und eben dem auf der Erde wandernden Gottesstaat (civitas Dei pereginans in terris) besteht. Der peregrinus ist laut römischem Recht ein ortsansässiger Fremder. Die Christen sind also, wo immer sie sich auf Erden aufhalten, nur Fremde. Ihr Ziel besteht darin, die nach dem Fall Luzifers und seiner Anhänger gelichteten Reihen der civitas Dei coelestis wieder aufzufüllen. Nicht alle Glieder des wandernden Gottesstaates - der Kirche - werden auch Mitglieder des himmlischen Staates sein; erst am Ende der Tage wird sichtbar werden, wer den ewigen Lohn verdient. Doch alle Christen möchten dazugehören; dieser Wille zur Zugehörigkeit macht Engel und Menschen bereits jetzt zu Mitgliedern eines Gottesstaates. Neben den hier nicht weiter behandelbaren rechtsphilosophischen Konsequenzen dieses Gedankens auf das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Macht wird eines deutlich: die Erde ist nicht mehr als ein Wartesaal und sie ist statisch: Das Wort Zeit wurde im MA nahezu ausschließlich in seiner Mehrzahlform verwandt, also nie als eine fortlaufende Reihe von Ereignissen verstanden. Eine Entwicklung im Sinne von Fortschritt ist auf der Erde nicht denkbar und für den Christen nicht von Interesse. Die Himmels- und Weltmaschine, die Gott konstruiert hat, kann durch nichts gestört werden - es gibt zwar Beschädigungen, teuflische Störungen, aber der Ablauf bleibt gleichmäßig. Mit welchem Recht sollte ein Mensch wagen, diese Schöpfung zu ändern, und sei es auch nur in der Ausdeutung? Wissenschaftliche Erkenntnis ist also ein Widerspruch in sich selbst, da die Dinge, die Gott dem Menschen verborgen hat, ihn auch nichts angehen: Wissenschaft in heutigem Sinn ist teuflische Störung, Häresie. Deshalb kann es keinen Fortschritt über Aristoteles hinaus geben, der, soweit seine Schriften bekannt waren, für das MA den Gipfelpunkt menschlichen Erkenntnisvermögens darstellte.(7) Das Ende des MA läutet u. a. dann auch die Wiederentdeckung Platons und die Kritik an Aristoteles durch die Humanisten ein. Die Umwelt ist nur dazu da, dem Menschen Beschwernis aufzuerlegen. So etwas wie die gefühlvolle Betrachtung der Natur kann es nicht geben; sie wird ausschließlich von ihrem Nutzwert zum überleben oder als Strafe Gottes betrachtet. Der Dichter Neidhard aus dem Reuethal (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts, ab 1215 in Bayern nachweisbar) hat z. B. in einem Gedicht über eine Italienreise fast überschwängliche Worte für die Fruchtbarkeit der für uns so langweiligen Po-Ebene, die Alpen, die er vorher überwinden mußte, sind ihm gleichgültig, ein lästiges Hindernis. Den Begriffen der Romantik würde er verständnislos gegenüberstehen. Erst Petrarca wird hundert Jahre später allein deshalb einen Berg besteigen, um die Aussicht zu genießen. Vielleicht ist das der Tag, an dem die Neuzeit beginnt. Der Eine Gott und das Ziel, einst in den himmlischen Teil des Gottesstaates einzuziehen, sind also die Fluchtpunkte im Unendlichen, auf die das ganze MA zentriert ist. (8) Auch die Kunst, die immer ja eine Funktion ihrer Zeit ist, ist von dieser Weltsicht dominiert. Ein hoher Prozentsatz der Kunst und damit der Literatur (manche Forscher sprechen von annähernd 90%) hat rein geistlichen Inhalt und er ist allein auf das von Walther von der Vogelweide bereits angesprochene Problem ausgerichtet, wie man leben solle, um das ewige Leben im Angesichte Gottes zu erringen. Ein beispielhafter anonymer mystischer Text aus dem 13. Jahrhundert rät deshalb zur Weltflucht:

Werde wie ein KIND, werde taub, werde blind! Dein Selbst und dein Ich müssen zum Nichts werden. Jage alles Sein weit von dir. Laß die Erde, laß die Zeiten, mach dir kein Bild von ihnen.

Gehe den schmalen Steig, geh ihn ohne Weg. Dann gelingt es dir, die Leere aufzuspüren. Dann, meine Seele, gehst du in Gott ein. Dann sinkt dein ganzes Sein in Gottes Nichts, versinkt in seiner grundlosen Flut.

Dabei kann je nach Parteizugehörigkeit des Autors zwar durchaus Kritik an Papst oder Kaiser laut werden, die sich bekanntlich fast das ganze MA in den Haaren lagen, wer vom jeweils anderen seine Legitimation bekäme. Die göttliche Ordnung allerdings wurde nie in Frage gestellt, konnte auch nicht in Frage gestellt werden. Als Beispiel möge hier ein Ausschnitt aus der Bescheidenheit von Freidank (gest. 1233 in der Abtei Kaisheim/Donauwörth) dienen, der, von einem Kreuzzug desillusioniert, eine harsche Attacke gegen die weltliche und die geistliche Macht reitet, aber zuletzt seine Zuflucht doch wieder in Gott findet:

Kein Kirchenbann reicht vor Gott weiter als die Schuld eines Menschen. Gehorsam ist nur so lange gut, als der Papst richtig handelt. Wenn er jemanden zu gottlosem Handeln zwingen will, dann soll man ihm nicht folgen. So viel zur Unfehlbarkeit des Papstes. Doch auch die weltliche Macht kriegt ihr Fett ab: Superschlau und Genausoschlau sollten sich drei Mark teilen. Superschlau wollte den größten Anteil. Genausoschlau ließ es nicht zu. Ihr Streit ist noch nicht entschieden. So streiten Kaiser und Sultan. […] So helfe uns Gott! Papst und Kaiser sind irre geworden!

Auch die Minnedichtung, zumal die der hohen Minne, kann nur aus diesem Ansatz betrachtet werden. Sie ist weit weniger weltlich, als sie sich bei einer flüchtigen Betrachtung darstellt.

Minnedienst

Das Frauenbild, das die deutsche Minnedichtung des 13. Jahrhunderts überhöht, stammt ursprünglich wie auch ihre Melodien aus dem Orient und kommt mit den verfeinerten maurisch-französischen Sitten an die deutschen Höfe. In dem Buch des buntbestickten Kleides des Bagdaders Ibn al-Wassa aus dem 11. Jahrhundert, der auch in Europa begeistert gelesen wurde, gibt es folgendes Gespräch über die Liebe, das die seit dem 7. Jahrhundert entwickelten Auffassungen des Morgenlandes treffend zusammenfaßt: „Da sagte ich zu ihm: „Bei uns in der Stadt ist die Liebe nicht so.“ Da fragte er: „Und wie ist sie bei euch?“ Da sagte ich: „Reiß ihr die Beine auseinander und wirf dich auf sie - das ist sie, die Liebe, bei uns!“ Da rief er entsetzt aus: „Bei meinem Vater! Wenn du das tust, bist du nicht einer, der liebt, sondern einer, der Kinder will! […] Wisse! Liebe darf nicht mit lasterhafter Begierde verbunden sein. Wenn nämlich die wahre Liebe mit einer solchen Begierde vermischt wird, werden ihre Kräfte schwach, und ihre Bande werden bald gelöst sein. Leute von dieser Art wollen weiter nichts als Obszönitäten. […] Bei Allah! Es gehört nicht zur Art eines Gebildeten, von einer Geliebten zur anderen, von einem Geliebten zum anderen überzugehen! Es geziemt sich für Leute von feiner Lebensart einfach nicht, eine Geliebte durch eine andere, einen Geliebten durch einen anderen zu ersetzen! Die Liebe besteht nämlich darin, daß ihre geheimsten Dinge rein bleiben. Aber ach! Leider kommt es nicht mehr vor, daß Menschen einander mit reiner Zuneigung, anhaltender Lauterkeit und bleibender Liebe begegnen. Die Blutzeugen der Liebe sind verschwunden. Die Fesseln der wahren Liebe sind zerrissen. […] Leidenschaft ist Leiden. Nur derjenige vermag zu ermessen, was ich damit meine, der durch die Entfernung von den Stätten der Liebe und durch den Trennungsschmerz zum Weinen gebracht worden ist.“ “ Die Frau wird in diesem und in ähnlichen Texten zu einem anbetungswürdigen, alle menschlichen Tugenden innehabenden Wesen stilisiert, einem Ideal, dem es nachzueifern gilt. Das eben entstehende Rittertum des christlichen Mittelalters scheint auf diesen Entwurf der Liebe als entsagungsvollem Sehnen nach Tugend und Sittlichkeit gewartet zu haben, er verbreitet sich durch die Troubadures (9) rasch in ganz Europa und gipfelt im Minnedienst. Der Ritter wählt sich dabei in einer bewußten Entscheidung eine zumeist unerreichbare Dame für seine Verehrung, in der Regel ist dies die Frau seines Herrn oder Fürsten, ihr Alter und Aussehen sind vor ihrem Ansehen nebensächlich, Liebeserwiderung darf auf keinen Fall stattfinden. Für die wahre Liebe ist die real existierende Person unerheblich, sie ist eine Imago, ein Mittel zum Zwecke des Sehnens und Leidens. Ihr weiht er sein ganzes Leben, für sie geht er in Turnier und Schlacht und freudig in den Tod. (Ich werde im Kapitel Lebensweisen noch einmal näher auf dieses Thema eingehen.) Tatsächlich gibt es aber hinter dieser Liebe und der angebeteten Frau noch eine Ebene, nämlich die Liebe zu Gott und zu der Jungfrau Maria. Sie sind die urgründlichen Ziele des Ritters, sie sind die eigentliche Richtung seiner Ideale, nur auf sie richtet er sein Leben aus. Diese Verherrlichung des Weiblichen als der Verkörperung Gottes auf Erden, in der Literatur als Hohe Minne bezeichnet, will die ritterliche Gesellschaft von ihren Dichtern hören und sie wird von ihnen reichlich bedient. Aus der Überfülle dieser anbetenden und anpreisenden Literatur gebe im folgenden einen typischen Ausschnitt aus einer Dichtung wieder, bei der man nie die eigentliche Adressatin aus den Augen verlieren darf. Ich zitiere Abschnitte aus dem exemplarischen Frauendienst des Ulrich von Lichtenstein (etwa 1200 - 1270), der sich bereits über den Verfall der höfischen Sitten beklagt. übrigens wurde, schwer vorstellbar, zu solchen Versen getanzt:

Als ich noch ein kleines Kind war, da wurde mir oft vorgelesen und von klugen Menschen erzählt, daß wohl keiner ein wertvolles Leben gewinnen könne, wenn er wohl nicht bereit wäre, ohne zu zögern guten Frauen zu dienen: Sie allein hätten den höchsten Dank. Herz, Besitz und Seele und dazu das Leben ich will das alles den Frauen geben. Weil die reinen, süßen Frauen das Leben des Mannes so wertvoll machen, will ich den Frauen auf immer dienen, egal, wie es mir auch ergehen mag. Sie sind Herrin meines Lebens ihnen gehört mein Herz. […] Meine Freude war oft groß, wenn ich betrachten konnte, daß man meiner geliebten Herrin das Wasser über ihre so weißen, so zarten Hände goß. Ich trug das Waschwasser heimlich fort, aus Liebe trank ich es. Das linderte meine Traurigkeit. […] Wohin auch immer ich ritt oder ging, mein Herz entkam ihr nie. Ob es nun Tag oder Nacht war, meine Liebe gab mir die Macht, daß ich sie überall sah, das tat meine Liebe. Wie weit entfernt ich auch war, der Glanz ihrer Schönheit erleuchtete mein Herz.

Und so weiter und so weiter, viele hundert Verse lang. Ulrich hatte Sinn für Dramatik; es ist von ihm überliefert, daß er sich einen Finger (Penis?) abschnitt, um ihn als Liebesgabe an seine Angebetete zu schicken. Obwohl wir heute mit dieser Art von Lyrik nicht mehr viel anzufangen wissen, uns ein solcher Gefühlsüberschwang peinlich berührt und in die Minnelieder häufig ungeschickt klingende Floskeln einfließen, die der Autor in der klassischen römischen, französischen oder eben arabischen Dichtung gefunden hat, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, daß wir es hier mit einem Anfang zu tun haben, hier dichten plötzlich Männer und Frauen in ihrer Volkssprache und es ist das erste Mal, daß von der Liebe in solchen Worten gesprochen wird. Die Minnedichter können nichts dafür, daß ihre Lieder, ihre Bilder und Formulierungen, die sie, das darf man nie vergessen, als erste fanden, so oft kopiert und schließlich Allgemeingut wurden, bis auch der Geschmack des Originals schal wurde.(10)
Deshalb wäre die deutsche Minnedichtung heute längst vergessen, zumindest für ein größeres PUBLIKUM uninteressant, wenn sie nicht selbst ein Mittel gefunden hätte, ihr Idealbild von der geistigen Liebe zu brechen. Ich spreche von der niederen Minne, die wohl besser als ebene Minne, als die Minne, die mit beiden Füßen auf dem Boden steht, bezeichnet werden sollte, und von dem Stilmittel der Ironie, das die Minnesänger erstmalig für das christliche Abendland entdeckten. Sie machen diese Dichtung abgesehen von der Schönheit ihres Ausdrucks noch heute lesenswert.

Ironie und ein Griff ins pralle Leben

Die Dichter der hohen Minne waren sich sehr wohl bewußt, daß es neben dem Preisen der geistigen Werte der unerreichbaren Liebsten und ihres Pendants im Himmel auch noch Handfesteres auf dieser Welt gibt und ihr Publikum an den Häfen, übrigens auch den bischöflichen, wollten dies begeistert hören. 11 Nicht einmal die Minnedichter lebten nach den Idealen, die sie vertraten, die meisten von ihnen waren verheiratet oder hatten diverse Liebschaften und besuchten gerne die Badehäuser, die nicht in erster Linie der körperlichen Hygiene dienten, sondern die mittelalterliche Variante eines Swingerclubs waren.

Mancher begrüßt mich so und das macht mich gar nicht froh, Hartmann, gehen wir schauen, ritterliche Frauen. So laß er mich in Ruh und seh allein den Frauen zu. Wenn ich vor solche Frauen kam, war ich voller Scham.

Bei Frauen hab ich nur eins im Sinn, daß sie so zu mir sind wie ich bin. Deshalb vertreib ich mir lieber den Tag, indem ich arme Frauen mag. überall gibt es von ihnen viel, und dort ist immer eine, die mich will. Die ist dann meines Herzens Spiel. Was also nutzt mir ein hohes Ziel?

Noch heut geht mir die Torheit nach daß ich zu einer edlen Dame sprach: Edle Frau, ich habe alle meine Sinne, ausgerichtet auf Eure Minne. Da begann sie über mich zu klagen, Drum will ich, laßt euch sagen, nur noch solche Frauen suchen, die mich nicht so fluchen.

So dichtete Hartmann von Aue (um 1165 - 1215), als Epiker einigen Schülern in schlechter Erinnerung (12) und er klingt ehrlich. Dennoch darf nicht vergessen werden, daß Dichter nie stärker stilisierten und an überkommene Formen gebunden waren als gerade im MA. Vorbild war auch hier die klassische lateinische Dichtung wie die von Ovid oder Vergil. Jedes Lied, das entstand, mußte in eine Gattungsschublade passen und sich auch inhaltlich an einen ganz eng gefaßten Rahmen halten. In diesem Kapitel will ich für die wichtigsten Liedgattungen jeweils einen paradigmatischen Vertreter zeigen. Der Grund für das Stilisieren der Minnedichter ist wieder in der Religion zu finden. Da, bedingt durch die bereits erläuterte Weltanschauung des MA, das Ich des Einzelnen, das erst eine Erfindung der Renaissance ist, nur eine verschwindend geringe Rolle spielen durfte und persönliche Eigenarten des Einzelnen im großen Ordnungsplan als eher störend empfunden wurden, wurde darauf Wert gelegt, daß dichterische Texte und Kunst überhaupt einen allgemeingültigen Aspekt aufwiesen. Fast nie wurde eine Statue mit individuellen Zügen ausgestattet, Portraits wurden nicht geschaffen. „Dabei gibt der Künstler Form und Gestalt nur einem Gegenstand, der bereits vorhanden ist und Dasein schon besitzt, wie der Erde, dem Steine, dem Holze, dem Golde oder einem beliebigen anderen Stoffe dieser Art. Und woher wären diese, wenn du, mein Gott, nicht ihnen Dasein verliehen hättest? Du hast dem Künstler den Leib gebildet, du ihm eine Seele geschaffen, die den Gliedern gebietet, du hast ihm den Stoff geliefert, aus dem er etwas bildet, du ihm das Talent gegeben, mit dem er die Kunst erfaßt und innerlich schaut, was er äußerlich darstellen soll, du die Sinne, durch deren Vermittlung er das Bild seines Geistes auf den Stoff überträgt und wiederum der Seele über die Verwirklichung der Idee berichtet, so daß dann dieser die in seinem Innern thronende Wahrheit fragen kann, ob das Abbild gut sei. Dich preist all dieses als den Schöpfer aller Dinge.“ So schreibt Augustinus, erneut als Zeuge für die mittelalterliche Weltanschauung dienend, und er macht deutlich, daß der Künstler nichts weiter als ein Sprachrohr Gottes ist, seine Person und sein Name weiter keine Bedeutung haben, vom tatsächlichen Urheber des Kunstwerkes nur ablenken. Obwohl die höfische Welt, die etwa 8-9% der Bevölkerung ausmachte, als erste so etwas wie „Selbst„-Bewußtsein entwickelte, waren ihre Dichter jedoch sehr vorsichtig mit einer Darstellung ihrer eigenen Persönlichkeit und gingen sehr ins Allgemeine oder Typische, wurden dadurch nur selten als Menschen greifbar. Auch aus diesem Grund ist sehr wenig über ihre Biographien erfahrbar. Es scheint, als seien sie wie der Moderne Mensch von einer promethischen Scham erfaßt, jedoch nicht gegenüber der Maschine, sondern gegenüber Gott. (13)

Anmerkungen

Diese Anmerkungen haben nicht den Charakter von wissenschaftlichen Fußnoten; sie sind vielmehr Randnotizen, ein nach allen Seiten offenes Flanieren in der Art eines Egon Friedell, dessen kulturgeschichtliche Bücher trotz ihrer Fehlerhaftigkeit noch heute lesbar und lesenswert sind. Meine bewußt kurzgehaltenen Fußnoten möchten den Leser auf weiterführende Texte und verwandte Gedanken hinweisen und nicht zuletzt zum eigenen Studium und, so weit dies möglich ist, zum eigenen Nachdenken anregen.

(1) Die Wurzeln dieser Gattung reichen eben nicht nur zu J. R. R. Tolkin (Herr der Ringe) und den amerikanischen Pulpromanen der zwanziger Jahre (z. B. Robert E. Howards Conan, der eine sonderbare Vorwegnahme nationalsozialistischer 'Weltanschauung' und Allmachtsträume darstellt) zurück, sondern nicht von ungefähr auch zu der Ritterromantik des 19. Jahrhunderts. Stammvater ist hier Willam Morris mit seinem heute fast unlesbaren Epos Die Quelle am Ende der Welt (1896). Leider zeigt die Fantasy, die heute übrigens paradoxerweise von Autorinnen beherrscht wird, in ihrer Blut- und Bodenmentalität, ihrer Gewaltverherrlichung und ihrer häufigen Rassendiskriminierung nur allzu oft faschistische Züge.

(2) F. Seibt, Glanz und Elend des Mittelalters, Berlin 1987 (Siedler), ein lesbares Standardwerk, das allerdings zu sehr den Investiturstreit in den Mittelpunkt des Interesses stellt.

(3) Ich verwende, falls keine anderen Quellen angegeben sind, eigene, zugegebenermaßen unbekümmerte Übertragungen. Das hat den schlichten Grund, daß ich mit den meisten der tradierten Übertragungen nicht zufrieden bin. Sie halten sich entweder viel zu streng an das vorgegebene Versschema und entfernen sich durch den gekünstelten Reimzwang zu weit von der Vorlage. Die Prosaübertragungen hingegen leiden an ihrer Umständlichkeit, sie schwächen den Inhalt ab oder umschreiben ihn mühsam. Dies ist um so erstaunlicher, als gerade die Sprache der Minnedichter nichts an Prägnanz und sprachlicher, atmosphärischer Dichte zu wünschen übrig läßt. Als Beispiel möge eine herrliche Strophe des Wilden Alexanders (um 1280) dienen: Minne ist solch geselle, swer ir dienen welle, hiute sueze, morne sar. leit ist liebes nachgebar. Und jetzt die Prosaübertragung von Ingeborg Glier: „Minne ist dem, der ihr dient, eine Gefährtin, die heute freundlich, morgen grausam ist. Leid und Freude wohnen nahe beieinander.“ Dem ist wohl nichts mehr hinzuzufügen.

(4) Rene Descartes, Prinzipien der Philosophie, 1. Teil. Übers. v. K. Fischer, S. 165f,Mannheim 1863

(5) z. B.: Augustinus, De Genesis contra Manichaeus oder De diversis quaestionibus, Augustini opera, Wien 1887ff. Im folgenden wird in diesem Kapitel aus dem 11. Buch der Confessiones und aus De Civitate Dei zitiert.

(6) „Meine Seele brennt vor Verlangen, diesen so überaus verwickelten Knoten zu lösen. Verschließe doch, Herr, mein Gott, du gütiger Vater, ich bitte dich um Christi willen, verschließe doch diese so alltäglichen und doch so geheimnisvollen Dinge nicht vor meinem Verlangen; laß meinen Geist darin eindringen, auf daß sie mir im Lichte deiner Barmherzigkeit, o Herr, klar werden. […] Was ist die Zeit?“ Ich glaube nicht, daß vor Goethes Faust die Leiden eines wissenschaftlichen Geistes, der mit der Erkenntnis ringt, noch einmal so eindringlich formuliert worden sind.

(7) Auch hier ist die Ausnahme die Bestätigung der Regel. Interessant in unserem Zeitzusammenhang ist die Lehre des später mit einem Bann belegten und als Häretiker verfolgten Amalrich von Bena, der an der Pariser Universität zu Beginn des 13. Jahrhunderts lehrte, allein das philosophische Wissen sei heilsbringend: in dem Maße, in dem wir wissend seien, sei Gott in uns, ungeachtet jedes religiösen Bekenntnisses, den Gott sei die forma mundi. Das ist Aufklärung in ihrem besten Sinne. Bemerkenswert scheint mir, daß im Umfeld dieser Pariser Universität, in der solche Gedanken möglich wurden, in signifikanter zeitlicher Übereinstimmung auch die polyphone Musik entwickelt wurde. Ganz so, als käme das eine ohne das andere nicht aus, setzte die Polyphonie zu ihrem Siegeszug erst an, als sich in der Renaissance der wissenschaftliche Aufklärungsgedanke allgemein verbreitete.

(8) Daß das MA keine Räumlichkeit in ihren Bildwerken entwickelte, liegt m. E. an eben dieser Tatsache, daß die Menschen ihren Blick nur hinauf zu Gott wendeten und mit ihren emporstrebenden gotischen Kirchen wie mit Fingern auf ihn und die UNENDLICHKEIT deuteten, ihre Augen jedoch nur selten auf der Erde schweifen ließen, einer Erde, deren Erscheinungen sie kaum Interesse entgegenbrachten.

(9) Unter diesen Troubadoures und später unter den Minnesängern gab es auch einige Frauen, die dann allerdings den idealisierten Mann, hinter dem sich natürlich Christus verbirgt, anpriesen. Da kann es auch nicht verwundern, daß die wichtigsten Autoren der christlichen Mystik jener Zeit Nonnen wie z. B. die schon erwähnte Hildegard von Bingen (um 1098 - 1179) oder Mechthild von Magdeburg (um 1207 - 1287) waren. Von der letzteren seien hier ein paar Verse aus einem ihrer Minnelieder zitiert. Sie verraten deutlich die Braut Christi:

Herr, so harre ich deiner mit Hunger und mit Durst, mit Herzklopfen und viel Lust. Ich harre der Stunde, da aus deinem göttlichen Munde die gewählten Worte fließen, die nie jemand vorher gehöret hat. Worte, die allein die Seele versteht, die sich von der Erdenschwere befreit und ihr Ohr an deinen Mund erhebt - ja, sie allein begreift den Sinn der Minne.

Die Rolle der Frau im MA wird übrigens oft falsch gesehen. Die Damen an den Häfen konnten im Gegensatz zu ihren Männern meist lesen und schreiben, beherrschten Musikinstrumente und betätigten sich überhaupt als Kulturträgerinnen. Sie holten die Dichter und Musiker an ihre Höfe und sorgten für deren Weiter- und Unterkommen. Ein beredtes Zeichen von dem Bild, das die Frau im Hochmittelalter von sich hatte, bietet das Schachspiel, das die Kreuzfahrer in dieser Zeit aus dem Orient mitbrachten. Es wurde zu einem beliebten Spiel der Frauen, die die Regeln allerdings so modifizierten, daß sie als mächtigste Figur die Dame einführten, die es in der Urversion nicht gab.

(10) Künstler schaffen zu ihrer Zeit immer die Klischees ihrer Nachwelt. Heute ist z. B. die Mona Lisa nichts weiter als ein leeres und abgegriffenes Stereotyp, für daVincis Mitmenschen war das Bild eine Revolution. Ein zeitgenössischer Kritiker Bruckners schrieb in der Augsburger Allgemeinen um 1880, er hoffe, daß dieser Art von Katzenjammermusik nicht die Zukunft gehöre. Was er wohl über die Beatles gesagt hätte, deren Lieder bereits dreißig Jahre später nur mehr ein süßliches Klischee darstellen?

(11) Daß sie dabei auch Schwierigkeiten hatten, es allen recht zu machen, spiegeln die folgenden, von Dieter Kühn übertragenen Zeilen (siehe Quellennachweis) wieder, die von einem recht verzweifelten Marner (gest. um 1270) stammen. Vor allem in der desillusionierten letzten Strophe gibt er eine zeitlose Künstlererfahrung wieder:

Sing ich vor den Leuten meine Lieder, so hätte der erste gerne dies: wie Herr Dietrich floh, aus Bern; der zweite: wo herrscht König Rother; der dritte wünscht den Reussenkampf, der vierte: Eckehards Leid und Tod, der fünfte: wer war Kriemhilds Opfer; der sechste hörte lieber dies: wie's dem Volk der Wilzen geht; der siebte möchte irgendwas vom Kampf des Heime oder Wittich, vom Tod des Siegfried oder Ecke; der achte will aber nur eines: Minnesang im Stil des Hofes; den neunten langweilt dies alles sehr; der zehnte weiß nicht, was er will. […] So dringt mein Lied in Ohren ein: wie weiches Blei in Marmorstein.

(12) Wie die Schule mit diesen Dichtern umgeht, so sie nicht einen großen Bogen um sie macht, ist ein Thema für sich und zwar ein trauriges: Der Spaß an Lyrik und Literatur wird einem nirgendwo gründlicher verdorben als im Deutschunterricht. Oft hält diese ablehnende Konditionierung ein Leben lang. Die Erzeugnisse der Dichter werden in der Schule nicht nur gewalttätig mit Bildung, Kategorisierung und durch weihevolles Anbeten getötet, es wird dann auch noch mit hanebüchenen Deutungen so lange Leichenfledderei betrieben, bis auch dem Letzten, die Lust daran vergangen ist, sich mit Literatur auseinander zu setzen.

(13) Der Begriff der promethischen Scham, den ich hier so bedenkenlos übernehme, stammt aus dem I. Band der Antiquiertheit des Menschen, München 1956, von Günther Anders. (Krodel)

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