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stresemann

STRESEMANN

Gustav Stresemann

1878-1929
POLITIKER
- ersetzte im August 1923 die REGIERUNG CUNO durch eine Große Koalition und beendete den passiven Widerstand gegen die Besatzer des Ruhrgebiets
- führte im November 23 die Rentenmark ein
- die Größe seiner Außenpolitik bestand darin, daß er das REICH nicht einseitig für den Westen oder den Osten einspannen ließ, also eine auf Alternative beruhende Politik vermied, sondern sich sowohl mit dem Westen als auch dem Osten zu arrangieren suchte

- aufgeklärter Vertreter deutscher Großmachtpolitik (Winkler)

außenpolitisches Paradigma

- Die Schaffung eines Staates, dessen politische Grenze alle deutschen Volksteile umfaßt, die innerhalb des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in Mitteleuropa leben und den Anschluß an das REICH wünschen, ist das ferne Ziel deutschen Hoffens, die schrittweise Revision der politisch und wirtschaftlich unhaltbarsten Grenzbestimmungen der Friedensdiktate (polnischer Korridor, Oberschlesien) das nächstliegende Ziel der deutschen Außenpolitik.

Gambrinus-Rede

REDE vor der deutschen Kolonie in Genf vom 21. September 1926, „Gambrinusrede“ (benannt nach dem Ort der Rede, den Räumen der Genfer Gambrinus-Brauerei: vgl. STRESEMANN, Vermächtnis III, S. 26)

Dankt der deutschen Kolonie, daß sie sich auch in schweren Zeiten zum Deutschtum bekannt hat. Der von den anderen Staaten gewünschte Eintritt in den Völkerbund zeigt, daß Deutschland die moralischen Vorwürfe des Versailler Vertrags überwunden hat. Es braucht nun eine Zeit friedlicher Entwicklung, um schrittweise wieder auf die Höhe zu kommen, die volle Souveränität das Selbstbestimmungsrecht in Europa durchzusetzen. Dazu bedarf es der Einigkeit.

Ihr Herr Vorsitzender (der deutschen Kolonie in Genf) hat dabei jenen Abend erwähnt, an dem Dr. Luther (Reichskanzler 1926) und ich zum erstenmal die Freude hatten, unter Ihnen zu weilen. Das war in einem kleinen überfüllten Raum, der mit seiner Temperatur an die Räume erinnert, die der Völkerbund denen zur Verfügung stellt, die darin zu wirken berufen sind. Wenn ich heute die Räume sehe, dann denke ich: Es wachsen die Räume, es dehnt sich das Haus. Wo damals Dutzende waren, sind heute mehrere Hundert versammelt in demselben Geist der Verbindung mit dem alten Vaterland, in dem GEIST der Hingabe, der keine Parteien kennt, sondern nur das eine Vaterland, in dem Geist, das Deutschtum hochzuhalten und zu fördern. Wenn Ihr Herr Vorsitzender davon sprach, daß wohl die Zeiten besser geworden sind, so lassen Sie mich zunächst einmal bei der Vergangenheit verweilen, von der wir hoffen wollen, daß sie hinter uns liegt. Wer hier der Deutschen Kolonie angehört und wer das Deutschtum in Genf neu aufbaute in den Tagen der tiefsten Demütigung Deutschlands, wer sich zum Deutschtum bekannte, als es eine Gefahr war, das zu tun, der hat innerlich viel mehr PATRIOTISMUS in seinem Herzen als die, die sich zu Deutschland bekannten im Sonnenglanz seiner Weltgeltung. In jener alten, großen Zeit war es schließlich kein Verdienst, sich Deutscher zu nennen; da strahlte die Größe unsers Vaterlandes auf den einzelnen aus. Als diese Sonne nicht mehr strahlte, als die Welt glaubte, uns als moralisch minderwertig hinstellen zu können (Kriegsschuldartikel) – da zu sagen, ich bin ein Deutscher, da hinzugehen und das in Lausanne und Genf zu sagen, wo man von einem wahren, starken Gefühl für internationale Verständigung nicht immer das verspürte, was man jetzt dort erkannt hat –, das sind die Jahre gewesen, für die wir der Deutschen Kolonie den allergrößten Dank schulden von seiten unsrer Heimat und unsers Vaterlandes. Wir waren ja schließlich zu Hause, wir konnten uns trösten im Unglück. Aber Sie standen in einer französischen Sprachinsel der Schweiz, Sie standen da, wo während des Weltkrieges vielfach eine Stimmung herrschte, die einmal ein geistvoller Franzose in die Worte gefaßt hat: „CLEMENCEAU würde ja gern Frieden schließen, aber was würde die Gazette de Lausanne dazu sagen?“ Und Lausanne ist ja schließlich nicht weit von Genf entfernt.

Sie waren hier Zeuge, daß in der Zeit, als die Verträge von Versailles geschlossen wurden, Deutschland den Wunsch aussprach, Mitglied des Völkerbundes zu werden und man einmütig diesen Wunsch zurückwies (das Reich wollte abrüsten, wenn die Entente es auch täte, aber die Entente wollte nicht abrüsten). Sie waren Zeuge davon, wie man später durch den Mund von MacDonald (britischer Premier 1924) nach Deutschland rief und wie man jetzt Deutschland aufgenommen hat durch jene 48 Ja-Stimmen (einstimmig bei der Abstimmung im Völkerbund), von denen Ihr Herr Vorsitzender gesprochen hat. In jener Zeit von Versailles über MacDonald zu den Septembertagen dieses Jahres ist dem deutschen Volk eine schwere Schicksalsprobe auferlegt worden. Und ich glaube, das eine sagen zu können: das deutsche Volk hat diese Schicksalsprobe bestanden.

Ich empfinde es immer – geschichtlich gesehen – nicht als gerecht, daß wir stets klagen und anklagen darüber, daß der Weltkrieg für uns verlorenging. Vielleicht könnten wir uns eher die Frage vorlegen, woher es kam, daß die ganze Welt gegen uns in Waffen stand. Aber wenn ich mich frage, wie das deutsche Volk bestanden hat in diesem WELTKRIEG, dann bin ich der festen Überzeugung, daß künftige Jahrhunderte nicht fragen werden: Wie war es möglich, daß Deutschland in diesem Weltkrieg unterlag, sondern: Wie war es möglich, daß dieses deutsche Volk einer Welt von Feinden vier Jahre widerstand und, als es seine Fahnen senkte, eine unversehrte Heimat seinem Volk überlassen konnte? Wir haben draußen unendlich viel gelitten, und wenn schließlich starke Hemmungen, wenn starke revolutionäre Bewegungen, wenn schließlich ein ganz starkes Fieber dieses Volk ergriff, wer will die anklagen, die das alles erlebt haben?
Und nun kommt die zweite Frage an das deutsche Volk: Wie würde es bestehen nach dieser Zeit? Wenn ich mir diese Frage vorlege, mir vor Augen führe, daß wir ein machtloses Volk waren, machtlos an militärischer KRAFT, machtlos an Reichtum, machtlos an industrieller WIRTSCHAFT; wenn ich mir vor Augen führe, daß eine ganz große Atmosphäre der Kriegspsychose auch nach dem Krieg gegen uns sich geltend machte, und wenn ich mir dann den FREITAG vor Augen führe, an dem wir in den Völkerbund aufgenommen wurden, dann sage ich mir: Wir haben diese Zeit von sieben Jahren nicht schlecht bestanden in der Weltgeschichte. Es hat einmal ein deutscher DICHTER in alter Zeit die Worte gesprochen, die Welt hätte keine Seele, hätte sie kein Deutschland mehr (ARNDT). Auch die andern haben ihre SEELE, aber sie klingt anders als die deutsche. Und nun frage ich Sie das eine: Wenn wir all den HAß, all die Niedertracht gegen uns haben aufnehmen müssen, ist es nicht für uns ein Gefühl tiefster Genugtuung, daß die Welt nach uns gerufen hat und sich die Frage vorgelegt hat, ob man das RECHT hat, sich Société des Nations zu nennen, wenn die Nation der Deutschen diesem Bund nicht angehört? Sie haben nach uns gerufen, und in diesem Augenblick wäre es falsch gewesen, wie ein trotziges Kind irgendwo im Winkel zu bleiben und zu sagen: Ich spiele nicht mit. Wir sind nicht gekommen, um zu sagen: GOTT sei Dank, daß Sie uns gerufen haben, sondern wir haben gesagt: Wir kommen zu Euch, wenn Ihr uns begegnet mit derselben Achtung, die Ihr für Euch in Anspruch nehmt.

Wir haben den Unterschied zwischen kleinen und großen Nationen nicht gesucht, aber wenn Ihr ihn geschaffen habt, dann sind wir die große Nation. Wenn Ihr einst gesprochen habt, wir seien die moralischen Urheber des Weltkriegs, so sagen wir: Nein, das waren wir nicht. Wenn Ihr gesagt habt, wir seien nicht fähig, andre Völker zu kolonisieren, so sagen wir Euch: Wir haben dasselbe Recht dazu wie irgendeine andre Nation der Erde. Wir sind keine Chauvinisten, aber wenn es sich darum handelt, andre Völker zu kolonisieren, so wollen wir mit Euch in der gleichen Linie stehen. Und das hat man doch schließlich entgegengenommen an jenem Morgen, als wir eintraten. Als der Beifall uns entgegentrat, der unsern Eintritt begrüßte, als zum erstenmal in einer großen Rede die deutsche Stimme erklang in diesem Saal und dort fast ohne Unterschied die große Mehrheit der vertretenen Nationen uns zujubelte, da habe ich die Empfindung gehabt: das ist die Genugtuung, die man Deutschland gegeben hat gegenüber den moralischen Anklagen, die man uns gegenüber erhoben hat. Und das sollte empfunden werden in der Welt des Deutschtums. Das sollte empfunden werden gegen manche kleine Fragen, mit denen einzelne wieder auftreten und sagen: Ja, sitzt Du nicht mit denen dort zusammen, die einst Deine Feinde waren? Wenn wir gegen die ganze Welt gekämpft haben, können wir uns nicht wundern, daß diese ganze Welt jetzt mit uns zusammensitzt im Völkerbundrat. Ich frage die Deutschen: Warum seid Ihr so kleinmütig in bezug auf das Zutrauen zu Euern Führern? Wartet doch ab, was wir leisten; wir werden genau so viel leisten wie die andern. Nichts ist unrichtiger als Pränumerandokritik (Kritik a priori), die stets nörgeln muß.

Ich war heute mittag zusammen mit den Memeler und Danziger Deutschen und habe gehört, wie ganz anders ihre Empfindungen waren, als sie im Völkerbundrat Platz nahmen und sich dem Vertreter der deutschen Nation gegenübersahen, zu deren Land sie gehören mit ihrem ganzen Herzen und ihrem ganzen Empfinden und sich sagten: Da sitzt der FREUND, der zu uns gehört und uns schützen wird, wenn wir ausgesetzt sind all dem Sturm und Drang der Gegenwart. Was wir brauchen in unserm Vaterland, daheim und draußen, das ist eine Zeit friedlicher Entwicklung, das ist eine Zeit, in der wir wieder bilden jene beste Schicht des deutschen Volkes, die nach harter Arbeit etwas zurücklegt für die, die nachher kommen, für jene Schicht, die uns die gesunde Blutmischung gibt, bei der aus Handwerk und Kleinbürgertum die Gelehrten entstehen, deren Studiengeld bezahlt ist mit dem Hunger ihrer Eltern, die aber schließlich die Wegbereiter sind für eine große geistige Zukunft. Ein VOLK, das nur übermäßig reiche und proletarisierte Schichten hat, wird untergehen in der Geschichte der Völker. Daß wir wieder die Möglichkeit haben für eine solche Entwicklung, daß wir wieder eine feste Währung haben, während die, die sich Sieger nennen, kämpfen müssen, um das Ansehen ihrer Währung zu erhalten, auch das ist ein Zeichen dafür, wie wir aus tiefstem Fall den Weg zur Höhe wieder beginnen.

Manchen geht der Weg nicht schnell genug, und es gibt wieder andre, die glauben, daß dieser Weg nicht gradlinig genug gehe. Es gibt Menschen, die sagen, eine Politik der Kompromisse sei eine Politik der Schwäche. Wer das sagt, hat nicht das Leben eines einzelnen Menschen begriffen, und das Leben der Staaten ist schließlich die Zusammenfassung des Lebens des einzelnen. Wer gibt einem Menschen das Recht, sein Leben nach eignem Willen zu führen? Das Verstehen dessen, was ist, das Hineinfinden in die Situation, in der man lebt, dadurch allein ist doch überhaupt erst das Leben möglich. Man sollte sich doch nicht immer um die Methoden kümmern, wenn es nur überhaupt vorwärts geht. Denn schließlich entscheidet der Erfolg darüber, welche Methode richtig ist. Wir werden eben nur schrittweise vorwärts kommen, wir werden nicht immer nach den Wünschen der Theoretiker einen geraden Weg gehen. Wo eine Mauer ist, da umgehe ich sie und schlage mir nicht den Schädel daran ein. Das ist auch letzten Endes der Sinn der deutschen AUßENPOLITIK. Zweifeln Sie nicht an dem einen, daß das Ziel dieser Politik nur eins ist: Deutschlands Freiheit und Deutschlands Größe. Eines brauchen wir dazu: das ist Einigkeit nach innen und außen. Als Hoffmann von Fallersleben das Deutschlandlied dichtete, da hat er in dieses Lied manches von ZWEIFEL hineingelegt, weil er die Natur des Deutschen kannte. „Über alles in der Welt, wenn es stets zu Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält.“ Das haben wir meistens nicht getan. Wir Deutsche, von denen man einst sprach, daß wir den furor teutonicus hätten – wir haben ihn, wenn ein Deutscher gegen den andern kämpft. Aber wir haben ihn nicht, wenn es sich darum handelt, die Einigkeit einmal nach außen zu betonen. Wo wäre diese Empfindung mehr gegeben als da, wo Sie auf dem Außenposten stehen? Unser Weg ist jetzt ein mehr begrenzter als in frühern Zeiten. Heute handelt es sich darum, deutsche Souveränität auf deutschem Boden wieder herzustellen, darüber hinaus durch kluge und überlegte Politik den Weg zu finden, um im Zusammengehen mit andern Nationen in dem ganzen Europa das Selbstbestimmungsrecht der Völker einst da wieder herzustellen, wo es verletzt ist. Wir haben jetzt für den ersten Weg gekämpft. In Dortmund und Bochum war einst der Fleiß deutscher Produktion Ergebnis für die französischen Finanzen. Das Ruhrgebiet ist geräumt, die erste Zone ist geräumt. Und hier in Genf haben wir in diesen Tagen nicht gerungen um Verminderung der Besatzung, sondern haben die eine große Frage gestellt, ob die Besetzung deutschen Gebiets noch vereinbar ist mit der Lage, die geschaffen wurde durch unsern Eintritt in den Völkerbund. Wir haben darum gerungen, ob es noch möglich ist, ein Gebiet wie das Saargebiet besetzt zu halten, das deutsch ist und bleibt und zu Deutschland in kürzester Frist zurückkehren wird. Wir haben darum gerungen, daß andre Bezirke Europas, die heute nicht zu uns gehören, den Weg wieder zurückfinden in unsre deutsche HEIMAT, daß in kurzer Zeit wieder ein Rheinland dastehe, wie es gewesen ist in alter Zeit. Und wenn wir dafür gewisse Belastungen finanzieller NATUR auf uns nehmen, die wir nach unsrer Überzeugung tragen können, so glaube ich, wenn diese Frage vor uns steht, sollte das deutsche Volk einmütig sein in dem Gedanken: Nicht das materielle Leben ist das Entscheidende, sondern die politische Ehre und Freiheit der Nation. Man kann arm sein und eine große Nation sein. Das ist nicht das Entscheidende, ob der eine einen schlechtern Rock trägt als der andre, sondern ob er freien Charakters ist und stolz jedem andern ins Auge sehen kann. Wir wollen den andern Nationen frei und stolz in die Augen sehen, wieder einen freien BODEN in Deutschland haben. Und ich glaube, daß wir hier in Genf einen großen Schritt vorwärts zur Erreichung dieses Zieles getan haben. Lassen Sie mich hoffen, daß, wenn wir in künftigen Tagungen des Völkerbundes zurückkehren, wir die Möglichkeit haben, uns des in hartem Kampf Erreichten zu freuen.
Wir sollten uns erinnern an die Worte des griechischen Philosophen (HESIOD), daß die GÖTTER vor den Erfolg den Schweiß gesetzt haben, sollten uns klar sein darüber, daß wir naturgemäß als das heutige Geschlecht nur die eine Aufgabe haben, den Weg zu bereiten für eine glücklichere ZUKUNFT derjenigen, die nach uns kommen, so, wie wir Nutznießer gewesen sind der Taten derjenigen, die vor uns waren. Und schließlich sind wir nicht von der Natur andrer Nationen, von denen die eine die Idee des Ausruhens wohl wundervoll verbunden hat mit der Idee der werktätigen ARBEIT, und von denen eine andre die Lebensphilosophie hat, in einem bestimmten Lebensalter sich zurückzuziehen von der Arbeit, um nur noch geruhsamer Behaglichkeit zu leben. Es ist nicht wahr, daß im alten hebräischen Text die Worte stehen: „Wenn das Leben köstlich ist, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen“ (Ps. 90, 10), sondern die deutsche Auffassung eines Luther hat das Wort köstlich hineingebracht, wie sie das Schöne der TÄTIGKEIT bis zum letzten Moment in unsre deutsche Auffassung hineingebracht hat. Wir werden mehr tätig sein müssen als die andern. Über unserm Leben wird der römische Spruch stehen: „Ohne Urlaub werden wir geboren.“ (sine missione nascimur) Wenn wir hineingekommen sind in diese schwere Zeit der NOT, so lassen Sie uns hoffen, daß man uns einst dankt, was wir getan; lassen Sie mich hoffen, daß unser deutsches Vaterland den Weg gehe zu neuer FREIHEIT, zu neuer Größe, zu einer guten Zukunft. Lassen Sie mich in diesem Sinne Sie bitten, mit mir einzustimmen in den Ruf: Es lebe das heilige Deutschland!

stresemann.txt · Zuletzt geändert: 2022/04/11 15:35 von Robert-Christian Knorr