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vernunft_vs._glauben

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VERNUNFT VS. GLAUBEN

- Das DENKEN ist die ureigenste Sphäre der VERNUNFT. - Die Überzeugung, daß die Vernunft die WIRKLICHKEIT des Glaubens durchdenken könne und daß dadurch der GLAUBE nur gelichtet, gefestigt, vielleicht vollendet, jedenfalls nicht zerdacht werde, ist ein AXIOM des abendländischen Geistes. In diesem Sinne ist das abendländische CHRISTENTUM von Anfang an auch THEOLOGIE, und Anselm von Canterburys großartige Formel credo et intelligam - er holt sie von AUGUSTIN her - spricht auf der ersten Höhe der SCHOLASTIK ihr Ethos, ihren SINN und ihr GLÜCK aus.
- befinden sich in den Seinsreichen nicht im Zustand der Mischung, sondern der klaren Spannung (Freyer)

Vernunft ist ungewiß, Glauben ist Zuversicht (über Hamann)

HAMANN ist einer der bedeutenden Komparatisten des 18. Jahrhunderts, wird jedoch vergleichsweise kaum gelesen. Welche Reputation besitzen dagegen seine Zeitgenossen LESSING, LICHTENBERG, selbst der jungverstorbene ABBT! Das hat seine Gründe. Auch in der heutigen Gelehrtenrepublik will der Leser zuerst Klarheit, er erkennt Besonderheiten im Satzbau an, sofern sie inhaltlich korrespondieren, ihm also etwas Neues oder Unerhörtes mitteilen. Allenfalls respektiert er Verspieltheit, aber er ist kaum dazu zu bringen, lediglich zeitbezogene Anspielungen oder gar einen nur auf die Autorenbiographie zu rekurrierenden Text zu erschließen. Hamann nun schreibt nicht fürs VOLK, nicht für die Gelehrtenrepublik, sondern letztlich nur für einige wenige Vertraute. Barockide Verspieltheit zeigt sich im Nebeneinander seiner Gedanken, denen im Satzverbund Konjunktionen fehlen, das gibt also Konjekturalsätze oder, wie man sie heute nennte, semantische Leerstellen, d.s. unvollständige Textteile, die vom Leser selbst gefüllt werden müssen. Hamann setzt darauf, daß sein Leser die semantische Leerstelle aufgrund einer persönlichen Betroffenheit zu füllen weiß, zumal das Fragmentarische ein Strukturelement seines Schreibens abgibt. Er selbst nannte seine Schreibart schon mal „Wurststil“. Das erzeugt eine Art Dunkelheit und ist Gift für einen Verkaufserfolg, damals wie heute. Er teilt indirekt mit, verweisend. Dies wußte seinerzeit der eine Generation jüngere Jean Paul zu kritisieren, der Hamanns STIL mit einem tiefen Himmel voll teleskopischer Sterne verglich, deren Nebelflecken kein Auge auflöset. Das trug ihm auch den Vorwurf ein, geistvolle Ahnungen und Gedankenblitze nie zu wissenschaftlicher Ausgestaltung gebracht zu haben. Was für ein Vorwurf an einen, der genau diese Wahrheitsforscher und Verstandesarbeiter kritisierte!
Hamann schreibt aus dem inneren Kampf geborene Texte, keine beschaulichen. Er sucht keine Mitstreiter, besitzt keine über die persönliche Ansprache herausreichenden Ambitionen zur Verbesserung der Welt. Man denke das nach: ein Aufgeklärter wendet sich von der Aufklärung und entdeckt das in ihr liegende Verfängliche für das (göttliche) Gesamtkonzept „Mensch“, nämlich sich in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Ichts und Nichts einen Platz in der Welt zuzuweisen, in dem Verantwortung wurzelt. Das latent Kämpferische der Aufklärer um eine auf den Grundlagen der menschlichen Vernunft stehende Welt lehnt der junge Mann um 1758 ab und beharrt auf dem Nicht-Wissen als einem Substantiellen des Menschseins.
Hamann erlebte sein peripetisches Moment im aufgeklärten London. Das Leben und Streben in diesem Zentrum des KAPITALISMUS hatte aus dem aufgeklärten und pragmatischen studiosus einen nachdenklichen und zugleich kämpferischen Grübler gemacht, der am Getriebe der Welt Kritik übte und zugleich all das in Frage stellte, was das Ziel der Aufklärer abgab: Klarheit, NÜTZLICHKEIT und Verstandestätigkeit. Die so um einen Gefährten Geprellten, Kaufmann Berens und Magister Kant, trafen den Abgefallenen, ihn in den kleinen Kreis der Vernünftigen zurückzuführen. Das Vorhaben der klugen Leute mißlang, wie den Geprellten spätestens die 1759 erschienenen „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ deutlich machen durften, denn in denselben setzte sich Hamann mit allem, was der Verstand an Tatsächlichem würde hervorbringen können, auseinander. Das war letztlich sein Todesurteil, sofern er sein Leben auf Wirksamkeit und Erfolg gemünzt hätte: Hamann blieb schon zu Lebzeiten eine Randfigur des gesamtgesellschaftlichen Diskurses und endete in den Fängen der westfälischen Katholen um die Gräfin Gallitzkin, deren eifriger Bemühtheit die verhehlte und arme Berühmtheit aus dem protestantischen Nordosten noch jedes Wort erklären mußte.
Es dauerte bis 1880, als endlich Hamanns Bedeutung für die Entwicklung des deutschen Geistes erkannt wurde. So bezeichnete Jakob Minor 1881 Hamann als das Ferment, welches die deutsche Literatur in Gärung versetzte , was wohl insonderheit auf Goethe gemünzt sein dürfte, der Hamann bereits 1771 SCHÄTZEN lernte, allerdings keinen Kontakt zum sehr viel Älteren suchte, was seinen Hauptgrund wohl darin besessen haben dürfte, daß Hamanns tiefempfundene Religiosität den jungen Stürmer Goethe abstieß.
Zu Hamanns Lebenszeiten mag es insgesamt leichter als heute gewesen sein, die Anspielungen zu verstehen, sofern denn jemand versucht hätte, seine Bücher zu lesen. Unser säkularisiertes Zeitalter läßt uns manches nicht erraten, uns manche alttestamentarische Methode, die Wahrheit zu ziselieren, nicht erkennen. Wir erkennen das Typologische selten genug im von Hamann gemeinten Kontext und suchen Allgemeingültigkeit, die es nicht gibt. Daß Hamann auf in der Zukunft geschehene Vorgänge hinarbeitet, ist denkwürdig genug. Es sind Gerechtigkeitsphantasien und Vorschmäcke (Hamann benutzte das Wort Vorschmack statt Vorgeschmack), Vor-Bilder, die durch eine Einst-Klammer verbunden werden, aber dunkel bleiben müssen. Der Magus ist kein Typolog-, sondern Allegoriker. Er benutzt Masken (Verhüllungen), die er Ironie nennt. Wir verstehen heute die Ironie als ein nah am Zynischen bewegtes Bild und können Hamann nicht stilistisch folgen.
Als Hamann 1759 mit den „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ in winziger Auflage ins Licht der literarischen Öffentlichkeit trat, geschah dies als „Liebhaber der langen Weile“, so daß ihn die Rädelsführer der pragmatischen Aufklärung, die um 1760 zunehmend das Sagen in der deutschen Gelehrtenrepublik hatten, der Rubrik der Spötter und Verneiner subsumierten. Die Aufklärer spürten Widerspruch, der ihnen einen ihrer Gralshüter (Sokrates) – diese Stilikone rationalistischer Weltwahrnehmung – wegriß und zum Vor-Bild der obwaltenden Vernunftohnmacht modelte. Sokrates war für Hamann ein Vorbote christlich-paulinischen Erkenntnisdranges und kein rationalisierter Sophist mit Aufklärungspathos. Sokrates war für Hamann nur als Ganzes verstehbar und so mußte das Menschsein auch vermittelt werden, als Ganzheit! Sokrates wollte Vorurteile wegräumen, die den Menschen daran hinderten, seinem Wesen zu entsprechen, dieses zu entwickeln. Es ging ihm nicht um Weisheitsvermittlung und unabdingbare Postulate zum praktischen Gebrauch der Vernunft. Ja, er verneinte das Streben nach der alleinigen HERRSCHAFT der Vernunft, diesen neuen Diktator des Zeitalters, der die Menschen nicht weniger gängelte als die überwundene Herrschaft des Buchstabenglaubens. Anmaßung ist beides. Hamanns Gegenkonzept nimmt das klassische Humanitätsideal vorweg, allerdings in einem Punkt stärker als dieses auf die Auslebung des Gemüts, das Zusammenwirken von Herz, Geist und Zuversicht gemünzt. Es ist dies ein wiedergebärendes Schreiben, Palingenesie, ein eine geistige Gestalt schaffendes Schreiben, das sich aus der Ehrfurcht vor dem eingeborenen Wort (Daimonium) speist. Hamann führt seine Leser an einen Punkt, der es ihnen erleichtern würde, das EVANGELIUM zu hören: Liebet einander und dividiert euch nicht auseinander! Gebraucht euer Herz, aus dessen unmittelbarer Anschauung der Born der Sprache und Poesie quillet, die allein die MUTTERSPRACHE des Menschengeschlechts abgibt. Des Menschen Tun ist begrenzt und nicht unbegrenztes Walten. Prüft alles Tun! Fragen begleitet, aber der Mensch gewinnt Sicherheit durchs Daimonium, er forscht und hebt das Gute zutage, aber er wird es nicht heben, weil er seinem Verstand vertraut. Denn der ist trügerisch und führt nur zum Nicht-Wissen.
Ein Signalwort: Nicht-Wissen ist Glauben. Hamann will statt Wissen Verstehen erzeugen, v.a. das unserer selbst, denn jeder erlebt sich zutiefst und kennt kein Analogon, also keine Allgemeingültigkeit. Er beschreibt ein Wissen, das nicht objektiv erworben werden kann, wie dies die Aufklärer seiner Zeit im Sinne hatten. Wer zugibt, etwas nicht zu wissen, kann das auf ein reines Faktum beschränken oder den Grad des Nicht-Wissens dahingehend erhöhen, daß er es als Ich weiß, daß ich nichts weiß verkündet, was zugleich Selbstbesinnung und Selbstauftrag ist, nämlich, ein Bewußtsein seines Nichtwissens zu besitzen, ein Paradoxum, welches wie eine Art Hefe den Prozeß der SELBSTERKENNTNIS begärt.
Damit verließ Hamann die Gelehrtenrepublik. Er war keiner der altgedienten theologischen Schwärmer, kein Fürstendiener und keiner der Aufklärer. Er saß zwischen allen Stühlen. Wäre er früh gestorben oder hätte Gedichte geschrieben, würden wir ihn heute in sämtlichen Schulbüchern als Unverstandenen zu preisen haben. So aber! Wer den SPOTT als Mittel benutzt, zudem dunkel und hermetisch bleibt, sozusagen ein Ideal des Nichtwissens aufstellt, der wird seine Zeit kaum überleben, taugt nicht als Lieferant von Schulbuchtexten und wird mit seinem Spott schon zu seiner Zeit begraben; es sei denn, ihn findet ein nachgeborener Großer nachdenkenswert, dann könnte er es doch noch weit bringen.
Das mußte den Aufklärern bitter aufstoßen, daß da einer kam und ihnen Götzendienst vorwarf (1. Kor. 8,4), da sie den Verstand dazu einsetzen wollten, nützlich zu werden, das will heißen, Geld zu machen. Hamann lustriert spöttisch die Inkongruenz der Aufklärer, die einerseits eine Politik ins Auge faßten, deren verborgenstes Geheimnis der volkswirtschaftliche Nutzen war und andererseits in einer Art Mystifizierung des Aufklärungspathos an das Allheilmittel menschlicher Verstandestätigkeit glaubten. Welche Vermessenheit und welche Naivität!
Hamanns Auseinandersetzung mit dem PRAGMATISMUS der Aufklärer war zwar zum Gutteil auf Kaufmann Berens und Magister Kant gemünzt, vor allem jedoch Reflexion aus eigener Erfahrung, die Hamann als Kaufmännlein in London machte. Im Händlereldorado London begriff er das Ziel aller Verstandestätigkeit: die schwarze Null. Das war für ihn kein Erleben, das gab kein Ziel ab, das war Götzendienst und Totgeburt, innere Stille. Daß alle (bürgerliche) Politik auf die Vermehrung des Kapitals zielte, wurde ihm dort Gewißheit – und er lehnte dieses Sinnsetzen ab. Statt dessen formulierte er: Vernunft ist ungewiß, Glauben ist Zuversicht. Das Zuversichtliche müsse das Ziel abgeben, dieses zu gewinnen; wer der Vernunft diene, diene einem Götzen und irre ein Leben lang. Diese Irrtümer entstünden durch die Kraft der Trägheit, würden durch den im Willen wurzelnden Stolz verstärkt und drängten als Egoismus in die Welt, der verkauft würde als Selbsterhaltungstrieb, als Individualität.
Hamann haßte das ganz offensichtlich.
Er liebte dagegen die aufbauenden Wissenschaften, die nach den Ursprüngen fragen, die die Knochen bereitstellen, an denen ein fleißiges Gemüt wie er selbst nagen könne; sie seien das Ei, worüber (!) er brüte.
Das Maßgebliche zur Sprache schrieb Hamann in „Kreuzzüge des Philologen“ nieder. Die Sprache basiert Hamann auf der Erfahrung, die Generationen übergreift; sie steht in einem Wechselverhältnis zur TRADITION, dem Überkommenen. Das sinnliche Empfinden geht eine Wechselbeziehung mit dem Überkommenen ein und bildet dieses weiter aus. Eine herdersche Subordination der Sprache unter den Gestaltungswillen Gottes in jeder Sprache könnte hier vermutet werden, wobei Herder im Gegensatz zu Hamann die natürliche Herkunft der Sprache betont, gleichwohl Sprache und Kultur als Artikulationen Gottes betrachtet, also doch wie Hamann metaphysisch präludiert.
Sprache gibt für Hamann das bewegliche Denken wieder und ist Organ der Erkenntnis, Mutter von Vernunft und Offenbarung, quasi eine contradictio in adiecto. Um allgemeines Verständnis zu erzeugen, müßte man den Schlüssel der apokalyptischen Engel besitzen, die in den ABGRUND stoßen und die Erwählten sondern. Doch wer darf einen solchen Schlüssel behaupten? Nein, der Ursprung der Sprache liege bei Gott, aber die Menschen besitzen über viele Generationen gewachsene Urmuster, die ihnen bei ihrer Welterfassung hülfen und gleichsam die Schöpfungsgeheimnisse poetischer Texte erzeugten, die wiederum von Generation auf GENERATION weitergetragen würden. Die Poesie liege vor der pragmatischen Nutzung der Sprache, sie sei die Muttersprache des menschlichen Geschlechts, die, so möchte angemerkt werden, durch Schulmeister aus den Köpfen der Lernenden ausgetrieben werden soll, damit sie funktionierende Rädchen im Weltgetriebe werden. Damals wie heute. Wer die Sprache so begreift, wird in deren auf Nutzen gemünzten vernünftelnden Gebrauch nur Ursprungssinnveränderung erblicken können. Wer die Sprache so begreift, der muß sich aber auch fragen lassen, ob das Wort Gottes vom Ursprung der Sprache verschieden sei, weiter auch, ob es poetisch gewesen, noch weiter, ob der ursprüngliche Sprachnutzer es überhaupt verstehen konnte oder ob das Wort sich nur in die Seele des Menschen einritzte und der alsdann über die ihm zur Verfügung stehenden Mittel seines begrenzt arbeitenden Verstandes eine Dechiffrierung vornimmt, die eben nur unzureichende Ergebnisse zeitigen muß.
Ein Mensch, der den poetischen Grund der Sprache leugne und sie zu einem Regeln folgenden Instrument mache, darüber reflektiere und Wurzelsaft aus ihr presse, der würde keine rechte Poesie zustande bringen. (Das sei allen Lektoren ins Stammbuch geschrieben.)
Wir haben ein feines Organ, das die Schönheit wahrnimmt, vor allem die der Sprache. Regeln können für eine Angleichung sorgen, für ein Gleichmaß, nicht aber Leidenschaft erwecken. Leidenschaft und Sinnlichkeit, darauf kam es Hamann an. Und hierin ist er ganz griechisch, denn den alten GRIECHEN waren Dichter Dolmetscher Gottes, sofern sie in Ekstase gerieten. Regellosigkeit, Mystik, Einversenkung in den Geist, nicht in den Buchstaben, unmittelbare, innige, dunkle und weitaus gewissere Wahrnehmung des Schönen, das im Auswurf des Regellosen mitgeteilt wird. Wie sollte wurzellose Reflexion das leisten? - Auf der anderen Seite standen die Aufklärer, deren Sinn darauf stand, die Sinne und das Erleben aus dem Verstand zu weisen, weil Sinnlichkeit Irritationen bewirke, Maßlosigkeit, Ungerechtigkeit. Nur der bei klarem Verstand Seiende ist in der Lage, nachvollziehbare und gerechte Lösungen zu bewirken. Mordlügnerische Philosophie nennt Hamann den aufklärerischen Versuch der Leugnung des Sinnlichen und Leidenschaftlichen im Denken, Sprechen und Philosophieren. Stümmelei.
Die verstümmelte Gesellschaft des rationalistischen Zeitalters hatte den Dialog zwischen allen Menschen auf den zwischen Individuen geschmälert. Das Ergo sum Descartes‘ wirkte kommunikationsreduzierend, ja herzlos, denn der STREIT sollte nicht den ganzen Menschen erfassen, sondern nur den Gebrauch seines Verstandes betreffen. Die Almosentätigkeit des Mittelalters, die jeden Christenmenschen betraf, weil er Milte und Mitleiden so auslebte und seine Seele reinigte, wurde zunehmend durch kategorische und hypothetische Imperative ersetzt, die letztlich ein allgemeines Erfordernis zu einem subjektiven machten, pointierte Nabelschau statt ganzheitlicher Allerfassung förderten und das ganzheitliche Seelenleben des Menschen auf ein abstrakt-rationalistisches Helfenmüssen wegen eines Imperativs verkleinerten. Letztlich gebar eine Gesellschaft dieses Paradigmas bauernstolze Kathedermoralisten, aber keine Menschen.
Heute haben wir sie zum Gutteil, diese funktionierenden Teilmenschen, die das große Getriebe der Welt laufen lassen und sich in der Freizeit einem Individualismus hingeben, der selbst nur Teilganzheit ist und auch sein will, letztlich aber Stümmelei und Reduktion sein muß. Die Zeiten sind halt so, daß die größten Weltweisen und Dichter in Umstände gesetzt werden, in denen sie entdecken, daß sie nur überleben können, wenn sie funktionieren, daß sie, allzuoft ihrer Schutzengel und Musen beraubt, nur die Möglichkeit besitzen, Einbildungskraft zu retten, indem sie sich dem einfachen Geschäft opfern und zur Pflege eines abgesonderten, künstlerisch-sensiblen Gemütsteils auf Musestunden verlassen, die kommen und gehen.
Freizeitgestaltungstherapie. Sie passen sich an, werden zu Gelegenheitsarbeitern und Spaßivisten am Wortwerk, dem sie sich in Schreibwerkstätten, communities oder im stillen Kämmerlein hingeben gegen Geld, Sozialkontakte oder gute Laune. Sie besitzen keinen Glauben mehr, den sie auch von der Phantasie zu trennen wissen, schließlich ist ihnen die Welt erklärt worden; sie sind aufgeklärt und durchdachten zuvor, was auch immer sie sagen. Auch das Gegenteil davon. Sie geben zu allem ihren Senf, Senf zu dazu. Götzendienst. Die Antithese Hamanns führt zum Bibelwort, 1. Kor. 8: „Erkenntnis bläht auf, Liebe baut auf.“
Dagegen steht nun der Künstler, der auf sein Genie vertraut. Das Genie! Es prägt eine eigentümliche WISSENSCHAFT aus, schafft Wissen. Das Genie fürchtet Gott und sucht Übereinkunft mit ihm, woran ihm mehr liegt als am Fundus des Buchstabenwissens aus den Büchern und Schriften anderer. Es glaubt an die innere Stimme und den Atem Gottes, die Inspiration. Dämonologie. Es ist leidenschaftlich und ruft seine Dämonen wie Engel gleichermaßen an; es lebt mit ihnen und muß sich nicht zerreißen in einen Teil, das anschafft und eines, das schafft. Es stirbt auf dem Altar der Liebe: zum Leben, zum Nächsten, zur Dichtung. Poesie.

Schlußworte: Wer dichtet, der zeigt selten Vernunft. Vor allem dann nicht, wenn er dichtet. Moralisten verlangen Einheit zwischen Dichtung und Lebensgestaltung, Vorbildwirkung. Gedichte sind aber Gefühlssache. Es gibt sie, die reinen Gefühlssachen. Gefühle sind nie falsch, ihnen wird nur oft genug das unzureichende Wort geliehen, um sie mitzuteilen. Vorsicht ist hier falsch am Platz. Beginnt ein Lyriker das in ihm wesende Wort zu erfassen, so befällt ihn Furcht vor dem, was er erahnt. Er benutzt seinen Verstand, um diese Furcht zu gängeln und glaubt, wenn er dieses Gängelband an die Gefühle legt, daß er die Welt, sich selbst, andere belehren könnte. Wie töricht! Stimmungen dringen aus dem Tiefsten, sie kommen und gehen – ja! -, aber sie kommen immer wieder, sind selten genug labil und unstät und können durch intensives Nachdenken nicht zerstört werden. Eine Erregung reicht zu ihrer Aktivierung aus. In dieser erregten Stimmungslage sollte der Dichter am meisten schreiben und alles herauslassen, was in ihm tobt. Idealerweise legt ihm ein (ästhetisch begründbarer) Formwille Scheuklappen an, aber ist der Formwille notwendig? Ist Harmonie zwischen Verstand und Gefühl notwendig? Kaum. Formwille dient lediglich der Kommunikation mit den breiten Massen. Wer das will, bitte! Das sollte der Dichter dann schon selbst entscheiden, ob er seiner Poesie ein Gängelband anlegt.
Dürrenmatt entschied sich für das sprudelnde Wort:

Man muß es endlich einmal wagen hinüberzuspringen

bei einer Zigarre zu dichten, die dabei nur ein Weniges verrauchen darf

zu arbeiten, ohne sich zu korrigieren

die Worte einfach hinzusetzen, wie die Mutter Kinder auf die Welt setzt

ohne sie wieder zurückzunehmen.

Das Zögern einer SEKUNDE verdirbt ein Gedicht.

Auch ist es nicht erlaubt, Worte zu wählen.

So schreibe ich denn, so springe ich denn an ein anderes Ufer.

Ich auch.-

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