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zeitgestaltung

ZEITGESTALTUNG

epische Zeitgestaltung

- in SPRACHE kann dichterische WELT unabhängig vom einzeln Konkreten, aber nicht unabhängig von jedem Bezug zu unserer Welt aufgebaut werden → die Sprachgeschlossenheit der dichterischen Welt

  • notwendiger Bezug zur Wirklichkeit

- Einwirkungen aus verschiedenen Zeiten, die aber nicht grundsächlich mißverständlich sind → ursächliche Zusammenhänge werden deutlich

  • die dichterische Welt ist nicht die alltägliche Wirklichkeit

- Versuch im Werk, die Unzulänglichkeit der WIRKLICHKEIT herauszuarbeiten
- das Wesentliche wird formuliert in geheimnisvollen Zusammenhängen

  • biographischer Bezug; das innere Verhältnis des Autoren zum TEXT

- Wesensgrund des Wachstumausdrucks
- die Gestaltungswelt wächst aus der dichterischen Welt
- Gestaltung in den fundamentalen Möglichkeiten des Daseins, lyrisch, dramatisch, episch (Staiger)

Zeitgestaltung bei Thomas Mann

I. Einleitende Gedanken

Die GESCHICHTE Josephs ist uralt. Ihr ewiger Aufbewahrungsort ist die Genesis, wodurch ihr Alter ungefähr als „uralt“ angegeben werden muß. Vielleicht ist sie dreitausend Jahre alt, vielleicht wurde sie auch erst viel später von einem schriftkundigen JUDEN niedergelegt, um dann nochmals später in die Genesis aufgenommen zu werden, weil sie bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme als sehr alt angenommen wurde. Schauen wir von diesem Zeitpunkt ab in die nähere Vergangenheit, so finden wir unzählige Adaptionen und Darstellungen der biblischen NOVELLE.

Die Josephsgeschichte in deutscher Sprache

Die Akzentuierung des Interesses an der Josephsgeschichte fiel in der VERGANGENHEIT unterschiedlich aus und wird es wohl auch in ZUKUNFT sein: Als erster deutscher DICHTER beschäftigte sich Rudolf von Ems mit dem Bibeltext der Josephsgeschichte oder -novelle, um sie poetisch aufbereitet in seiner Weltchronik, die auf etwa 1252 datiert wird und unvollendet blieb, wiederzugeben. Ich bezeichne den Ems-Text als aufbereitet, da er über eine bloße Übersetzung des BIBEL-Textes hinausgeht.
GRIMMELSHAUSEN schrieb 1667 „Des vortrefflich keuschen Joseph in Egypten erbauliche, recht ausführliche und vielvermehrte Lebens Beschreibung“, wodurch im Titel schon der Aspekt der Keuschheit im Vergleich zu den Unbilden des Lebens Betonung erhält.
Von Zesen legte auf die Darstellung des äußeren Lebens, des Szenarios am ägyptischen Hofe, besonderen Wert und setzte 1670 ins Zentrum seiner Darstellung „Assenat“ (Asnath), die Ehegemahlin Josephs, die in anderen Erzählungen der Geschehnisse um Joseph immer nur einen Randplatz erhielt. Asnath (z.dt. Mädchen), die auch im Mannschen Werk nur einen Randplatz einnimmt, könnte nach von Zesens MEINUNG offensichtlich jedoch einen gleichberechtigten Platz in der BEDEUTUNG neben Mut-em-enet oder Rahel beanspruchen, denn ihre durch die Erziehung begründbare Keuschheit war von Zesen die zentrale Betrachtung wert. Es ist dies ein Kunstgriff, damit über die Betrachtung der von Joseph bewußt gewählten - d.h. sicher jungfräulichen - Ehegemahlin die REINHEIT und Lauterkeit des Wählenden betont werden kann. Im ZEITALTER sich entfaltenden Pomps mit gleichzeitigem Vanitas-Lebensgefühl, Barock eben, ist diese Kunstauffassung von Zesens ein Ausdruck der Verquickung von christlich-asketischer und barock-ausschweifender Lebensbedürftigkeit.
Joseph war im BAROCK ein den Erfordernissen der Keuschheit verpflichtendes Vorbild, welches zur Erbauung beziehungsweise Darstellung einer aus der Keuschheit letztlich erwachsenden Lebensszenerie diente. Das änderte sich achtzig Jahre später. BODMER veröffentlichte 1753 die Liebesgeschichte von „Joseph und Zulika“ (Mut). Die Geschichte ist AUSDRUCK des Paradigmenwechsels in der deutschen LITERATUR des 18. Jahrhunderts, nachdem 1740 quasi der Bruch mit GOTTSCHED eine Neuorientierung der deutschen Literatur auslöste.

Die Akzentverschiebung ist augenscheinlich. Anstelle von Keuschheit im Titel zu sprechen, liegt der Akzent auf der Liebesgeschichte. Es ist dies v.a. ein Ausdruck der Umsetzung von den aufgestellten Präliminarien der Schweizer im GEGENSATZ zur Leipziger Klassizismus-“Frömmigkeit“ (Gottsched), daß nämlich die PHANTASIE zuungunsten der Regel klassizistischen Rollenspiels oder moralisierend-nurrationalen Vernünfteins eingesetzt wird. Es ist das Kunstmittel der Phantasie einsetzbar, wenn es um die Darstellung zeitgenössischer Probleme gehen soll. Gottsched dagegen hatte betont, daß die KUNST ein Mittel sei, die christlich-protestantische MORAL zu stärken; er verstand die Kunst als erzieherisches Mittel. GOETHE schien die vielfachen Veröffentlichungen Bodmers zum Thema Joseph nicht wahrgenommen zu haben, anders ist seine Bemerkung im vierten Band von Dichtung und Wahrheit nicht zu verstehen, daß der STOFF es wert sei, ausgestaltet zu werden. 1770 soll er seine bereits geschriebene Josephsgeschichte verbrannt haben. Festzuhalten bleibt, daß Goethe der Stoff interessierte.
Der Weimarer war der letzte Literat zu nennende Interessent in dieser Reihe, bis 1925/6 Thomas Mann - im weiteren TM - das oben zitierte Goethe-Wort aufnahm und in einem 16 Jahre währenden Schaffensprozeß die vom Weimarer angemahnte Ausgestaltung übernahm. TM nannte seine ARBEIT Joseph und seine Brüder, was zuallererst die Frage aufwirft, warum. Was wird dadurch gewährleistet?
Betrachtet man die bisherigen Titel, so erscheint nunmehr zum ersten Mal ein Autor mit der ABSICHT, den historischen und vorhistorischen Kontext ins Zentrum zu rücken: Stehen sich zwei Parteien im Titel gegenüber, wobei die Polarisation zumindest quantitativ ein Ungleichgewicht ausdrückt, so ist für den unbefangenen Leser damit zu rechnen, daß jede Parteiung ihre begründbare Rechtfertigung erhält und das v.a. eine breitere Ausgestaltung zu erwarten sein dürfte.
Die Geschichte Josephs stand bislang (bis 1925/6) immer im ZEICHEN christlicher, d.h. v.a. kastigierender Absichten, (s.o.) Durch die Präfigierung des Titels mit Bezug auf die Brüder werden andere Fragen ins Zentrum der Betrachtung gerückt; nämlich das Verhältnis zwischen Auserwähltheitsdünkel (Hoffart) und Gewöhnlichkeit, das Verhältnis zwischen einzelnem und der Allgemeinheit, das zwischen GENIE und Durchschnitt, schließlich die psychologischen Probleme zwischen Menschen, die einander lieben aber durch gesellschaftliche Schranken voneinander getrennt sind etc.
Man kann also sehen, daß schon in der Titelwahl entscheidende Betrachtungsabsichten des Autors zum Ausdruck kommen. Das allerdings wird alles zu belegen sein. Es sei nurmehr angezeigt, daß die Titelwahl Joseph und seine Brüder eine solche Denkrichtung im Gegensatz etwa zur Titelwahl Grimmelshausens zuläßt. Die entscheidende Frage jedoch ist, zu fragen, was TM bewogen haben mag, achtzehnhundertundachtzehn Seiten zu einem Thema zu schreiben, das im Zeitalter der POSTMODERNE doch eigentlich bestenfalls antiquarisches Interesse hervorrufen könnte! Dann wird weiter zu fragen sein, wie er die Zeitspanne zwischen dem Heute und dem EINST überbrückte, wie er Verständlichkeit für die Probleme eines emporstrebenden Jünglings aus der Wüste in der Hochkultur Ägyptens erreichte und v.a. wird zu fragen sein, wie die Zeit des Geschehens überhaupt gestaltet wurde (ERZÄHLZEIT und erzählte Zeit) und es wird zu fragen sein nach dem Verhältnis zur Zeit damals. Schließlich kann ein Brückenschlag zu unserer Zeit nicht ausbleiben.
Es sind Fragen von größter Wichtigkeit für alle Menschen! Man stelle sich die Tragweite vor, die ein Ergebnis dieser Arbeit hätte angesichts der MÖGLICHKEIT, in dem Brunnen der Zeit in die bisherig angenommenen „Untiefen“ einzutauchen und Menschen in ihren Handlungen zu verstehen, die vor Jahrtausenden GLÜCK und Unglück, LEID, HOFFNUNG und Zukunft gestalteten. Ja, sie gestalteten es; und es wird zu zeigen sein, daß sie es taten.

II. Äußere Textgestaltungsanalyse

Vorspiel: Höllenfahrt.

Das Vorspiel wurde in den unten aufgelisteten Tabellen nicht berücksichtigt. Es wurde nur herangezogen, was unmittelbar in der von TM genannten Struktur der Tetralogie Erwähnung findet. Die Besonderheit und tiefere Bedeutung des Vorspiels für die Konzeption des Gesamtwerkes soll nachfolgend erläutert werden; für den äußeren Aufbau des Werkes, d.h. für die Gestaltung von Zeit in der eigentlichen Josephsgeschichte der Genesis hat sie zwar eminent und evozierend bedeutsame Wichtigkeit, doch verbietet der essayistische CHARAKTER des gesamten Vorspiels vorerst eine Berücksichtigung in der strukturellen Erfassung der Tetralogie.

Die Geschichten Jaakobs

PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
1: I. HauptstückSchönes GesprächRomangegenwart, VergangenheitZeitdeckung
2: II. Hs.; Kap. 1+2Geschichten von Eliezer und AbrahamVorvergangenheitnicht datierbar/ kommentierende 13 Seiten
3: II/3-5Eliphas, Bethel, EsauVergangenheiterzählte Geschichte
4: IIISichemzeitVergangenheitgeteilt: Ankunft-4 Jahre Aufenthalt-Aufbruch (Sprung)
5: IV/I-3Isaaks TodVorvergangenheit, Vergangenheitwenige Tage/Darstellung weniger Stunden
6: IV/4-6Segensbetrug und FluchtVergangenheitviele Tage/ein Tag und einzelne Stunden der Flucht
7: IV/7-10Ankunft bei LabanVergangenheithalber Tag/ auf 24 Seiten auserzählt
8: V-VII/5LabanjahreVergangenheit25 Jahre/Auswahl einiger Ereignisse
9: VII/6Rahels TodVergangenheiteinige Tage Flucht/ auf 14 Seiten auserzählt
aus: Die Geschichten Jaakobs
PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
1: I. HauptstückSchönes GesprächRomangegenwart, VergangenheitZeitdeckung

Vertiefung der äußeren Analyse: Die Geschichten Jaakobs

Es ist die für den Leser erzählte Romangegenwart, in WIRKLICHKEIT also die Vergangenheit, in der Joseph vor den Augen des Lesers als Gegenwärtiger ersteht, in der Joseph (IV 62-67) ohne Namensnennung erscheint. Der Mondnarr (IV 67-Ende erstes KAPITEL) wird namentlich erst im zweiten Kapitel Joseph (IV 67) genannt. Die Beschreibung des jugendlichen Helden als Ischtar-Jüngling verweist uns in die Vorvergangenheit (eine Vergangenheit vor aller historischen Exaktheit), wird aber durch die Nutzanwendung des Vergleichs gleichsam in die erzählte Gegenwart transferiert. So der Titel des zweiten Kapitels RUHM und Gegenwart. Der ZWECK des Transfers ist die Vorbereitung auf das GESPRÄCH zwischen Vater und Sohn. Im vorangestellten Gespräch zwischen Jaakob und dem zeitlosen Boten (IV 77) Jebsche werden erstmals theologische Prinzipien kundgetan, die den unmittelbaren Kontext zu Josephs pädagogisch-philosophischer Ausbildung darstellen. Es ist die Höhe, die ihr Äquivalent in der Tiefe sucht: Gleichwie die SONNE stets aus einem bestimmten Wegzeichen wirke und in demselben erscheine, wie sie ihr LICHT den Planeten leihe, so daß diese nach ihrer Sonderart das SCHICKSAL der Menschenkinder beeinflußten, so auch vereinzele sich das Göttliche und wandle sich ab von den Gottheiten…wobei er [der VERSTAND gewahr werde, daß das Heilige mit Reinheit nichts oder nicht notwendig etwas zu tun habe. (IV 75) Die Höhe, d.i. GOTT; die Tiefe ist das Schicksal der den LEIB zurückfordernden Mutter ERDE. Jebsche, dessen REDE nicht als gesprochenes Wort (Figurenrede), sondern in berichtender FORM wiedergegeben wird, steht für die Ewigkeit der Überlieferung und gleichzeitig für die Anzeige des theologischen Unterschieds zwischen dem Umfeld der Israeliten und eben denselben, denn Jaakob antwortet dem Sinnbild des Orients Jebsche: Er wünsche nicht, irgend jemanden, am wenigsten aber dem GAST seiner Hütte und eines mächtigen Königs Busenfreund und Boten in den Überzeugungen zu kränken, welche Eltern und Tafelschreiber ihm eingepflanzt. Aber auch die Sonne sei nur ein Werk aus El eljons Händen und als solches zwar göttlich, aber nicht Gott, was der Verstand zu unterscheiden habe. (IV 76)
Entscheidend für die Konstruktion des ersten Abschnitts ist lediglich die expositionelle Disposition, die das Jebsche-Gespräch auf das spätere und wichtigere zwischen Vater und Sohn besitzt.
Nach diesem einleitenden Gespräch sitzen Vater und Sohn am Brunnen der Tiefe, den TM bereits im Vorspiel leitmotivisch vorstellte (IV 9). Jaakob beginnt ein Schweifen in die Zeit, derweil Joseph ihm von Augenblicken der höchsten Spannung in der Geschichte der Vorzeit berichten will: Wirklich hörte Jaakob nicht zu, sondern >sann<. (IV 91) Es ist die Tiefe der Erinnerung (IV 92), die Jaakob verträumenden Geistes zum Knaben, der am Rand des tiefen Brunnens sitzt, blicken läßt; sein ERWACHEN holt die Vergangenheit aus der Tiefe herauf und bestimmt ihm, seinem Sohn dem Geltungsbedürfnis des Gefühls (IV 92) entsprechend, grundlegende Dinge zu sagen. Das ist der AUGENBLICK, in dem sich die geistige WÜRDE und die Be-deutung von Jaakobs geistiger und ontogenetischen Herkunft als Reichtum an mythischen Ideenverbindungen (IV 93) dem Sohne offenbaren werden!
TM motiviert Jaakobs Entäußerungsdrang psychologisch. Es ist des Alten Besorgnis…, Joseph möchte in die Zisterne stürzen! Das kam aber daher, daß er die Brunnentiefe nicht denken konnte, dieses uralt mythische Erbgut der Völker (IV 93).
Also, so möchte man fortfahren zu denken, muß Jaakob es ihm erklären! Jaakob erzählt ihm die Tammuz-Geschichte gefühlsbetont und im BEWUßTSEIN als ein furchtbares Aufgehen der Gegenwart im Vergangenen, als das völlige Wiederinkrafttreten des einst Geschehenen, seine, des Jaakob, persönliche Einerleiheit mit Noah (IV 94) und SO weiter. Es sind die ängstlichen Erinnerungen aus alten Tagen (IV 94/5), die ihn dahin brachten, dem Sohne das Vergangene als Gegenwärtiges vor die Augen zu bringen. Er erinnert sich seines Kampfes mit Gott, d.i. Jisrael, >Gott führt Krieg< (IV 95), der die Kraftvorräte der SEELE zur äußersten Anspannung bringen wollte, denn mit der Auserwähltheit hatte der Weitäugige seine ZWEIFEL. Seitdem lahmt Jaakob ein wenig in der Hüfte, sei aber mit knapper NOT noch… zur Zeit gekommen. Diese nun gilt es im Sohne, ihm, ZU bewahren. Aber das steht nicht im Text, doch welchen anderen Schluß läßt das Gegebene zu als den, daß Joseph nunmehr dazu auserkoren ist, den Kampf mit Gott -Jisrael- zu bestehen, und die Wahl des Weitäugigen (alle IV 96) in die Zeit zu bringen?
Das Gespräch setzt sich im ersten Teil so fort, uns soll diese Wiedergabe aber vorerst genügen, da das PRINZIP der Verschachtelung verschiedener Zeitformen deutlich geworden sein müßte: Jaakob holt aus der Vergangenheit, in der er sich gegenwärtigt (Noah!), Argumentationsmaterial, um die ANGST, die er angesichts des am Brunnenrand sitzenden Lieblingssohnes erfährt, diesem bedeutsam zu machen. So erfährt die Vergangenheit eine übergreifende Funktion; sie gibt der Gegenwart einen Punkt, von dem aus betrachtet wird, der demnach zufällig ist. Demgegenüber ist der Fixpunkt der Gegenwart gewollt, daß heißt bestimmt, denn es ist genau der Zeitpunkt, der Zukunft Maß zu geben durch die Betrachtung des Vergangenen als zeitlos Gültigem. Der Sohn wird die Zukunft leben müssen, d.i. Gottes Ratschlag, aber er muß gewappnet sein.

PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
5: IV/1.-3. KapitelIsaaks TodVorvergangenheit, Vergangenheitwenige Tage/Darstellung weniger Stunden

Am Anfang dieses vierten Hauptstücks reflektiert TM:
Geschichte ist das Geschehene und was fort und fort geschieht in der Zeit. Aber so ist sie auch das Geschichtete und das Geschieht, das unter dem BODEN ist, auf dem wir wandeln, und je tiefer die Wurzeln unseres Seins hinabreichen ins unergründlich Geschichtete dessen, was außer- und unterhalb liegt der fleischlichen Grenzen unseres Ich, es aber doch bestimmt und ernährt, so daß wir in minder genauen Stunden in der ersten Person davon sprechen mögen und als gehöre es unserem Fleische zu… (IV 185)
Es mag jetzt nicht interessieren, was genau den Gang des Geschehens ausmacht; nein, an dieser Stelle interessiert einzig und allein die oben zitierte objektive Formulierung des allgemeinen Gangs von Geschehen und die praktizierte Schichtung im ausgewählten Textsegment. Was heißt Geschichtetes und was geschieht!
Es vermengt sich in Jaakob. Als der vor dem Grabe seines Vaters, Isaak, steht, erzählt ein GREIS (IV 187) von einem Knaben, welcher beinahe geschlachtet worden wäre, womit er sich selbst meint, und von der Opferung Abrahams auf dem Berge Sinai, die Gott zu verhindern wußte nach dem Glaubens- und Vertrauensbeweis. Isaak war in seinem Greisenalter das Opferkind nicht fremder und nicht in höherem Grade außer ihm… als er es selbst gewesen. Der Sohn, Jaakob, sieht's und alle Geschichten standen vor ihm auf und wurden Gegenwart in seinem GEIST. Aus der Schicht des Vergangenen erfolgt die Hebung ins Gegenwärtige. In dieser Inkarnation des Vergangenen, des geprägten Urbildes, ersteht die Aufgabe des Vaters in ihm: Jaakob fühlt sich als Segensträger, denn im Unterschied zu Esau, dem rechtmäßigeren Segensträger, weil Älteren, empfindet der jüngere Bruder das Vergangene als Gegenwärtiges und Zukünftiges; er will den durchsichtigen Grund, der aus unendlich vielen Kristallschichten bestehenden Vergangenheit in sich aufgenommen wissen, denn er wandelte oben in seines Fleisches Geschichten als Jaakob der Gegenwärtige. Wieder wird psychologisch der MYTHUS motiviert, der im Segensträger Rechtfertigung findet: Jaakob ist in seiner PERSÖNLICHKEIT zweifelsfrei fehlerfrei bestimmt (alle IV 188).
Esau aber wird Edom! Die Unbestimmtheit muß zu Neuem werden. Esau empfindet nicht den Segen und das LEIDEN der Vergangenheit; er muß heraustreten aus dem Geschichteten und ein Neues begründen, d.h. Anfang sein. Da es kein Anfang sein kann, nur ein Scheinanfang, ist es vermindert und somit philosophisch uninteressanter als das sich auf ewigen Füßen stehend Dünkende. Obwohl Esau als zeitlos Überindividuelles von TM aufgenommen wird, bleibt dennoch ein Makel, der in dem ist (IV 189) aufgehoben wird. Esau ist die zeitlos, über-individuelle Zusammenfassung des Typus (IV 189) „Ziegenvolk“, d.i. Edom!.
Die Differenzierung zwischen Bewußtheit und Unbewußtheit des Vergangenen ist Anlaß für ein essayistisches Einsprengsel über ein GEHEIMNIS, nämlich jenes des Vergangenen. Das Wesen des Vergangenen ist die SPHÄRE. TM formuliert den Unterschied zwischen Strecke (herkömmliche Zeitbetrachtung) und Sphäre. Oben (himmlisch) ist die Zukunft, aber sie ist auch unten (irdisch); diese beiden Sphären ergänzen und entsprechen sich, bilden ein doppelt Halbes, das sich zu Einem schließt (IV 190). Die Spannung zwischen dem Gegensätzlichen ergießt sich im Wechselgesang der Drehung, so daß die Götter Menschen, Menschen dagegen wieder Götter werden können. (IV 190) Die Zeit tritt als Schwingung (IV 191) auf, die in sich beschließend wechselt. Aus dem Unteren (Jaakob als Zweitgeborener) wird das Obere (Segensträger): Jaakob wird der Erste, weil er das Bewußtsein dazu hat!
Die Bestattung des Vaters, ein AKT der Gegenwart, ist Jaakob zugleich ein Akt der Vergegenwärtigung des Vergangenen, denn alle Geschichten standen wieder in ihm auf und wurden sinnende Gegenwart (IV 195).
Die Ausgewogenheit der Liebesgabe, dem Vater der Erstgeborene und der Mutter das Nesthäkchen, der den Tölpel überwand, als der Vater die Bestimmbarkeit des Körperlichen durch das Seelische (IV 198) erleiden mußte, als gewisse Dinge haben geschehen können, die zu geschehen haben (IV 199).
Isaak, der Segensträger Abrahams, flüchtete sich in die Blindheit, eine psychosomatisch deutbare Entschuldigung des Folgenden, die ihn der Gottes-Strafe enthielt vor dem, wovor er die Augen verschlossen halten mußte, um es nicht zu sehen (IV 200), weil er ansonsten den Erstgeborenen der Wüste hätte anheimgeben müssen. Der >kleine< Mythus (IV 200) der Durchsetzungskraft des wahrhaftig Erwählten hinderte ihn daran, die Bedeutsamkeit der Erstgeburt für das Kommende anzuerkennen; die Zeit würde geraderücken, was er falsch beschlösse. Also ließ der kleine Mythus auf den großen schließen, wer beide waren, in welchen Spuren sie gingen und auf welchen Geschichten sie fußten (IV 200); der kleine für den einen Bestimmten und der große für die Linie, für alle Bestimmten! Die Zeit würde es zeigen, inwiefern er richtig handelte. Ob er's wüßte oder auch nicht; die Augen des Greises nahmen ab, damit Gott Erleichterung fände in seinem Heilsplan, denn Jaakob war der Rechte, auch Esau wußte bereits vor dem großen ZORN gegen den Bruder, der ihn betrügen würde, daß alles Geschehen ein Sicherfüllen ist… nach geprägtem Urbild (IV 201).
Also betrog Jaakob Esau!
Isaak legte… dem zitternd Kauernden die Hände auf, ihn zu segnen aus allen Kräften… Er legte auf ihn den Bund, gab ihm zu tragen die Verheißung und fortzuerben das Gegründete in die Zeitläufte (IV 211).

Der junge Joseph

PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
1: IDer junge Joseph, Erziehung und LebenRomangegenwart (vergegenwärtigte Vergangenheit)ca. 10 Jahre/ Auswahl einiger Stunden
2: IIEliezer und AbrahamVorvergangenheit, Romangegenwartnicht datierbar
3: IIIJoseph und BenjaminVergangenheit, Romangegenwartirgendwann im siebzehnten Lebensjahre/einige Stunden
4: IV/1-3Der SchleierVergangenheit10 Tage/einige Stunden
5: IV/4-6Josephs TräumeVergangenheit7 Tage/einige Stunden
6: V-VIDie erste GrubeVergangenheit12 Tage/auserzählt
7: VIIJaakobs TrauerVergangenheit7 Tage/auserzählt
aus: Der junge Joseph
PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
1: IDer 17-jährige Joseph, Erziehung und LebenRomangegenwart (vergegenwärtigte Vergangenheit)ca. 10 Jahre/ Auswahl einiger Stunden
2: IIEliezer und AbrahamVorvergangenheit, Romangegenwartnicht datierbar
3: IIIJoseph und BenjaminVergangenheit, Romangegenwartirgendwann im siebzehnten Lebensjahre/einige Stunden

Vertiefung: Der junge Joseph

PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
1: IDer junge Joseph, ERZIEHUNG und LebenRomangegenwart (vergegenwärtigte Vergangenheit)ca. 10 Jahre/Auswahl einiger Stunden

Nach fast vierhundert Seiten Chronologie der Geschichten Jaakobs bleibt die Zeit stehen, vermischen sich erzählte Zeit und Erzählzeit: Joseph war siebzehn Jahre alt (IV 393). Es war schon lange FRIEDEN und Segenszeit (IV 397). Allgemein ist die Ruhe, allgemein ist das Stillstehen und die Häufung des Besitzes, was Jaakob fett machte (IV 397). Fetter war er als zu den Zeiten, da einst die Auen von Sodom den Abram und Lot zusammen nicht getragen. (IV 398) Also teilte der Isaak-Segensträger seinen Besitz und Joseph ward ein Hirte der Bestände seines Vaters, der gönnte ihm viel freie Zeit zu höheren Beschäftigungen, die gleich zu kennzeichnen sein werden. (IV 398)
Der Leser wird darauf vorbereitet, in einen scheinbar genau datierten Zeitraum gestellt zu sein, da er die Erziehung des Siebzehnjährigen, d.h. die PHILOSOPHIE und Schulweisheit der bislang (auf vierhundert Seiten) nicht genau datierbaren Josephszeit erfahren wird. TM benötigt die Beschreibung eines Stillestehens, um den ewigen Charakter der Unterrichtsweisheiten präsentieren zu können, denn diese im Vorgriff (siehe oben) erwähnten Weisheiten bilden einen wesentlichen Charakterzug des Titelhelden und verdienen schon deswegen ausführlichste Wiedergabe.
Durch Eliezer erfährt Joseph die Stellung des Menschen innerhalb Gottes SCHÖPFUNG. In der Zeit ist die Schmeißfliege (IV 400) dem Menschen vorangegangen. Die Schöpfung diente Gott zur Demütigung des Menschen und zu seiner Erhöhung; Letztgeschaffenes ist besonders! Aber das war nur ein Beispiel (IV 400), das Wesentliche in Eliezers PÄDAGOGIK bestand darin, das GEMÜT vorzubereiten auf die Empfängnis des Strengeren und heilig Genauen. (IV 401) Eliezer und TM benutzen die gleiche Technik: Vorgriffe im gedehnten Abschnitt aufs Kommende und Wichtigere!
Die Dehnung aber wird bewußt gemacht durch die vielfach ausgesprochene Bekanntheit des Bekannten, die Wiederholung des längst bekannten Augenblicks, des Stillestehens in der Erwartung des Eigentlichen. Man sitzt gleich Joseph unter dem Unterweisungsbaum (IV 400) und sieht im Zeitlupentempo die Weisheiten als BILD vor sich erstehen. Dadurch vergegenwärtigt TM das Vergangene und läßt es in der Romangegenwart vor den Augen des Lesers erstehen. Durch die Technik des Dehnens enthebt er das Geschehen der Vergangenheit. Es ist das Gespräch, das oft sich wiederholende, in dem die Weisheit des Alten Orients als Geheimnis gefeiert wird. In der Repetition der Augenblicklichkeit von Erkennen feiert sich die Ewigkeit wieder und immer wieder. Es ist eine beharrliche Wiederholung der großen Kreisläufe. Es ist das Bewußtsein des Gesetztseins in die Zeit und den Raum, den es für Eliezer genau zu bestimmen gilt! Er ist Josephs Lehrer und gleichzeitig der des Menschengeschlechts zur Josephszeit und, so möchte man hinzufügen, zu allen Zeiten, denn in Eliezer ist das Wissen seiner Zeit aufgehoben.
Es war gut, das Notwendige einzusehen und Gottes Gemütsart dabei zu durchdringen. (IV 404)
Das Notwendige ist, was sich immergleich wiederholt; es sind dies im einzelnen der Tag, die NACHT, das Aufgehen des Mondes, die Sterne, die Sternenzeichen, die Jahreszeiten, die Zahl, die es beschränkt und zur erkannten Gleichmäßigkeit bringt, bringen soll. Denn die ZAHL reicht nicht hin in ihrer Abstraktheit, der UNENDLICHKEIT die Grenze zu geben.
Gottes Zahlenwunder war nicht ganz tadellos (IV 404), das will heißen, die zwölf Mondumläufe hatten nur dreihundertvierundfünfzig Tage, so daß man berichtigen mußte, denn ein Sonnenumlauf maß dreihundertundfünfundsechzig und einen Viertel-Tag. Die Dreizehn, die notwendig wurde, um die Diskrepanz zwischen einem Sonnenumlauf (JAHR) und zwölf Mondumläufen (fast ein Jahr) auszugleichen, wurde deswegen zur Unglückszahl; schließlich dauerten dreizehn Mondumläufe länger als ein Sonnen-Jahr und Benjamin, der Dreizehnte und Dina, die für das Unglück wohlwissend geopfert wurde (IV 183), gaben den Verlust, den sie mit sich brachten (Rahel verliert das Leben bei der Geburt Benjamins) nur schlecht wieder. Ein Vergleich, eine Raum-Zeit-METAPHER, dient der Bewußtwerdung des ewigen Kreislaufes, der Wiederholungen des Gewesenen (IV 405); Benjamin, da er durch den Hohlweg zwischen den Gipfeln des Weltberges ging, und fast erlegen im Kampf mit der Unterwelt, weil er Jaakobs Dreizehnter war. Aber Dina war angenommen worden als Ersatzopfer, und sie verdarb. (IV 404)
Die Geburt in einer Zeit, da die Arithmetik nicht mehr stimmte, da die Zwölfzahl, mit der sich's so gut rechnen ließ (Zodiakus, Monate) gestört war in himmlischen Sphären durch die SEHNSUCHT nach der Geburt einer Sicherheit von der Liebsten: Was, mochte Jaakob denken, wenn der Dudumi starb? Aber Rahel starb bei der Geburt des Jüngsten. Sie war der größere Verlust, die LAST an Benjamin.
Der Weltberg, gebildet durch die Zwölfzahl, die ungenaue, die zwischenzeitlichen Hohlwege zur Korrektur, wozwischen Benoni dem Lebenssiege fast erlegen: Rahel ging statt seiner, um die Zahl zu richten. Dennoch, die Unstimmigkeit, die große, blieb; man mußte das Opfer einsehen, es entsprach Gottes Gemütsart, denn der Mensch mußte es verständig ins gleiche bringen (IV 404), darin liegt sein SINN.
Die Unstimmigkeit?
Die Unstimmigkeit schwoll im Gang der Umläufe ZU schaudervoller Ausdehnung. (IV 404)
Eintausendvierhundertundsechzig Jahre! Der größere Kreislauf. Die Frist, um das fehlende Viertel eines Tages mit den Jahren in den Einklang zu bringen. Soweit zur Mond-Erde-Arithmetik; schwindlig könnte Joseph es erst werden, als der Kontext in den großen Raum verlagert wurde, zum größten Kreislauf: Vierhundertundzweiunddreißigtausend Jahre maß das große Sternenjahr und alles war wieder ins rechte Lot gerückt, hatte sich einmal um sich SELBST gedreht. Darum hießen die Weltumläufte >Erneuerungen des Lebens<, Äonen, vorbehalten der Kenntnis einiger weniger. Es sind die Ausdrücke der menschlichen Möglichkeit, Zeit und Geschehen zu denken. Gott war der HERR der Äonen und gab dem Menschen diese ins HERZ als ERINNERUNG an seinen hohen Rang, derweil sich der in gewissem Sinne ebenfalls zu ihrem Meister aufzuschwingen… (alle IV 405) imstande sein möge.
Die große Arithmetik spiegelte sich wider im Alltag, wurde Hohlraum und… Gewicht (IV 406), womit Josephs Bestimmung vorgreifend vorgezeichnet ist!

PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
2: IIEliezer und AbrahamVorvergangenheit, Romangegenwartnicht datierbar

Die Leute sprachen in der Gegenwart, meinten aber die Vergangenheit und übertrugen diese auf jene. (IV 419)
In den Aufbau des Gesamtwerkes ist die Geschichte Abrahams eingeflochten. Sie ist zeitlich betrachtet ein Zurückgehen in eine Vergangenheit, die durch die Gestalt Eliezers verlebendigt scheint. Eliezer ist der älteste Knecht. Er war es und wird es sein; mythisch ist die Aufgehobenheit des vor dem Vergangenen Liegenden, als Abraham den Bund mit Gott schloß, den „historischen“ Sprung von der Vielgötterei zum Monotheismus vollzog. Der Text wandert in eine neue Zeitschicht, in die Vorvergangenheit, in eine Zeit voll von viel älteren Vorgängen, die aus fernster Vergangenheit auf eine nähere, nur sechshundert Jahre alte übertragen wurde. TM meint die Unermeßlichkeit des Abstands, die die Vergangenheit sich im Göttlichen verlieren (alle IV 420) läßt.
Die Vorvergangenheit scheint in die Gegenwart durch. Verbindet man (wie TM) diese Zeitformen vermittels iterativer Raffung, wird der AUGENBLICK greifbar, vergegenwärtigt, in dem Eliezer ICH sagt; gleichsam jedoch sind alle Zeiten der Welt davor in ihm aufgehoben. Eliezer, der Knecht Abrahams, der wiederum selbst der Gottesknecht gewesen. Was in Eliezer aufgehoben, das kommt zu Isaak, zu Jaakob, zu Joseph, der (siehe oben) die Lehre empfängt. Eliezer ist die Klammer zu Abraham, der Fleisch wurde, was vorher Sternenhaft gewesen war… (IV 423)
Der Plusquamperfekt drückt die Vorvergangenheit aus. Eliezer lebt; er ist die Verlebendigung der Vorvergangenheit. Sein Bewußtsein trug ihn durch die Zeiten, eine tropische AMBIVALENZ, die die Schwierigkeit der Differenzierbarkeit von Einzelwesen in der Vorzeit anzeigbar macht.
Zum Bund: TM erklärt den Bund psychologisch, ironisch pointiert. IRONIE mag jetzt nebensächlich sein. Es berührt nur tangentiell die Aufgabenstellung, nämlich in dem Punkt, als daß sich Gott die Frage stellen mußte, wie er mit seiner Aufgabe, die er dem Menschengeschlecht stellte, in die Zeit kommen sollte?11 Gott hatte keine Kinder… Er war allein, und das war ein Merkmal seiner Größe. (IV 432) Das ALLEINSEIN war ein Ergebnis des Vergangenen, nicht aber auch der Zukunft, - vorausgesetzt, daß… man die Zukunft erzählen kann, sei es selbst in der Form der Vergangenheit. (IV 433)
Damit ist die Zeitschicht eingeholt und der Bund beschlossen. Gott erwartete in der Gegenwart das Zukünftige; sein Ausblick aufs Zukünftige verlieh der Größe Gottes einen Zug von Erwartung, eines Zukünftigen. Die Zukunftsmusik des Jüngsten Gerichts klingt leise durch {Im Tosen von zehntausend… Posaunen… - IV 434), als Gott im Kampfe mit Abraham liegend (ob der Unumschränktheit), ihn auserwählt und ihm Zukunft verspricht, was Abrahams Apotheose in sich schließen, dessen Name fortan ein Segenswort sein würde (IV 434).
Und so begann Geschichte. Der Bund war geschlossen: Abraham versprach Treue und Gehorsam dem Alleinigen, der sich nunmehr verstärkt auf Erden verwirklicht sehen würde. Die Bande waren geknüpft, die den Schwung aus der Vorvergangenheit in alle Zeiten und v.a. die Zukunft verspräche.
Eliezer erzählt dem Knaben Joseph diese Geschichten. Er erzählt sie aus einer entfernteren PERSPEKTIVE, die der Sphärenhälfte angehörten, in welcher Herr und Diener nicht mit dreihundertachtzehn Mann, sondern allein, aber unter Beihilfe oberer Geister die Feinde über Damaschki getrieben hatten (IV 436).
Diese Ellipse, dieser Sprung aus dem Vorvergangenen in das Gegenwärtige des Romangeschehens, dient der Vergegenwärtigung, auch des Zukünftigen, denn dadurch wird nicht nur Joseph erzogen, sondern in seinem zukünftigen Tun in die Reihe gestellt.
TM benutzt zur Erfassung zeitlicher Kontinuitäten wieder das Bild der „rollenden Sphäre“, schaltet analeptisch Geschehen zurück, weiter als zurück, mythisch Überliefertes wird in die Gegenwart transferiert. Das Oben und Unten vermengt sich in der Verlebendigung des Schulmeisterknechts, der nicht nur platte Lebensklugheit dem Schüler vermitteln, sondern v.a. ein Bewußtsein der Auserwähltheit in den Plänen Gottes, dem Heilsgeschehen erhalten soll:
Was Wunders also, daß dem Joseph in gewissen träumerisch verworrenen Augenblicken die Gestalt seines Ahnen… in ferner Durchsicht zusammenlief mit der des Bei zu Babel… wer will sagen, was er [Abraham] zuerst gewesen war und wo die Geschichten ursprünglich zu Hause sind, droben oder drunten? Sie sind Gegenwart dessen, was umschwingt, die Einheit des Doppelten, das Standbild mit Namen >Zugleich<. (IV 439)

PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
3: IIIJoseph und BenjaminVergangenheit,irgendwann im Vorvorvergangenheit, siebzehnten Lebensjahre/Zukunft (Weissagung)einige Stunden

Nach dem Verhältnis des Titelhelden zum ältesten Knecht nunmehr zum Verhältnis der beiden Rahel-Söhne beziehungsweise zum Verhältnis des Titelhelden gegenüber dem Jüngsten der Jaakobs-Nachkommenschaft:
Benjamin und Joseph unterhalten sich im Adonishain über die Wiederkunft des Frühlingsfestes, die Auferstehung des Tammuz, ADONIS, DIONYSOS. Er ist der Dulder und ist das Opfer. Er steigt in den ABGRUND, um daraus hervorzugehen und verherrlicht zu werden. Dessen war Abram gewiß, als er das Messer hob über den wahrhaften Sohn… Aber das Geheimnis… ist beschlossen im Sternenstande von Mensch, Gott und Tier und ist das Geheimnis des Austausches. Wie der Mensch den Sohn darbringt im Tiere, so bringt der Sohn sich dar durch das Tier. (IV 449)
Joseph wendet das bei Eliezer Erlernte an; es ist Astralmystik, ein Hin- und Hergleiten durch die Zeiten, die im Feste wiedergeboren werden. Die Zeitschichten wirbeln durcheinander, weder Raffung noch Dehnung können im Feste Nennung finden; das Elementare des Vorgangs, die Austauschbarkeit (Permutabilität) des Namens, da im Geiste die Auferstehung aus dem Totenreiche eigentliche Wiederholung des Naturkreislaufes bedeutet, ist oberes Gestaltungskriterium, ist der Grund der Darstellungstechnik. Es decken sich erzählte Zeit und Erzählzeit und decken sich doch nicht, denn es ist eine Deckung in der Deckung, eine Verschachtelung. Joseph erzählt dem Bruder einen TRAUM, der geraffte Passagen enthält (vier mal zwei Stunden werden im Traum ausgespart, IV 462), was dem Leser jedoch als Kontinuum erscheint, da er samt den Brüdern als Zuhörer im Adonishain, dem äußeren Rahmen der Erzählzeit, verweilt.
Der Absturz in die Zeiten während des Aufstiegs zu den Himmlischen ist immens. Tammuz, Adonis, Dionysos… alles Namen ein und desselben, des Jünglings, der um seiner SCHÖNHEIT und Jugendlichkeit willen von der unsterblichen Göttin der Fruchtbarkeit zum Gemahle auserkoren wurde. Die Köre DEMETER, die Herrin Aschtarte, der die Kleider fielen im Angesicht des blühenden Lebens, ist es, derentwegen er sah die Nasen heben und schnuppern in den Wind unseres Aufstiegs (IV 462).
Es ist keine direkte Gestaltung einer Zeitschicht; es ist die Durcheinanderwirbelung der Ewigkeiten in den sieben Sphären des Lebens. Benjamin und Joseph erfahren einander die Ewigkeit in der Wiederholung des Festes und empfinden sich als gemeint: Was für ein herrliches Fest [nachdem Adonis auferstand] in allen seinen Stunden! Und dem Herrn ist nun das Haupt erhöht für dieses Jahr, aber er kennt die Stunde, da Ninib ihn wieder schlagen wird im Grünen, [meint Benjamin] Nicht >wieder<, belehrte ihn Joseph. Es ist immer das eine und erste Mal. (IV 454)
Die Zeit der Jugend schreitet fort und Joseph vergibt sich den Dünkel; der Bruder erfährt auch den hoffartigsten Traum, den Himmelstraum. Und so erzählt Joseph den Traum vom Fluge mit dem ADLER in die Himmelssphären:
Dort [in der Mitte des Großen Palastes] ist der Wagen und ist der Stuhl der Herrlichkeit, den du täglich fortan bedienen sollst, und sollst vor ihm stehen und Schlüsselgewalt haben… (IV 463), sagt der Herr zu Joseph. Diese Vorwegnahme (Antizipation) des Kommenden in Josephs Traum schließt den Kreis der Zeiten. Er ist hinabgetaucht in die Unendlichkeit des Sphärischen und emporgekommen als Erwählter, den Schlüssel zu den Toren des Lebens zu tragen. Diese Hoffart erst macht die Flüge möglich in die Sphärenharmonie, worin der ewige Kampf des Guten mit dem Bösen tobt. Joseph ist der Auserwählte vor den Augen des Herrn, bietet im Traum sogar eine Begründung seines Dünkels, indem er den Herrn sagen läßt: Den stelle ich an den Eingang zum Siebenten Söller und setze ihn darauf, denn ich will's übertreiben. (IV 466)

Joseph in Ägypten

PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
1: I-II/2Die Reise nach ÄgyptenVergangenheithalbes Jahr/ Reisebeschreibung
2: II/3+4EindrückeVergangenheit, Ewigkeiteinige Tage/Reflexion
3: II/5-IIIAngekommenVergangenheiteinige Tage/ Reisebericht
4: IV/1ZeitläufteRomangegenwart (nunc stans); Vorvergangenheit, Vergangenheit, Gegenwart, ZukunftReflexion
5: IV/2-VJosephs Aufstieg bei PotipharVergangenheitsieben Jahre/Chronologie auf 170 Seiten
6: VI-VIIJoseph und MutVergangenheitdrei Jahrewesenovelle auf 304 Seiten
aus: Joseph in Ägypten
PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
2: II/3-5EindrückeVergangenheit, EWIGKEITeinige Tage/Reflexion

Siebenhundertdreiunddreißig Seiten mythische Vorzeit haben mit Josephs Eintreffen in ÄGYPTEN ein Ende gefunden. Es war im achtundzwanzigsten Jahr der Regierung Pharao's, nach unserer Ausdrucksweise Mitte Dezember. (V 734) Joseph, der Entraffte trifft ein in der Zeit des unseligen (siehe oben) dreizehnten Sternzeichens, nach babylonischer Manier des Raben, nach heutigen Vorstellungen des Ophiuchus. Die Ungenauigkeit der Benennbarkeit des Datums wird spielerisch reflektiert: Das hiesige Jahr lag mit der Wirklichkeit fast immer in Widerstreit; es wandelte, und nur von Zeit zu Zeit, in ungeheuren Abständen, fiel sein Neujahrstag einmal wieder mit dem tatsächlich-eigentlichen zusammen, an dem der Hundestern wieder am Morgenhimmel erschien und die Wasser zu schwellen begannen. (V 734)
Entscheidend ist, daß vermittels inhaltlicher Wiederholung des astralmythischen Gesprächs zwischen Eliezer und Joseph (IV 398ff.) der Zeitpunkt der Ankunft Josephs von TM so festgelegt wurde, daß sich nahendes Unglück abzeichnet; Unglück, das der Tiefe, in die Joseph wandern mußte - auch dem Begriffe des Entrafftseins, seines ersten „Todes“ - entsprechen möge. Allerdings bleibt die Prolepse ungewiß; der Leser wird nicht über das kommende Unglück informiert. Andererseits weiß er es durch die Bekanntheit des Stoffes.
Was also könnte interessant gewesen sein für TM beim Eintreffen Josephs in Ägypten?
Es galt, neue Akzentuierungen zu setzen. Der auktoriale Erzähler versetzt sich in seinen Helden, der die Neuheit des Erlebten fragend mit dem ihm Bekannten vergleicht, der unsicher ist ob des weiteren aber sich sicher dünkt in dem GLAUBEN an den Heilsplan El eljons. In dieser Wechselbeziehung stellt sich auch die zeitliche Gestaltung dar; eine bekannt-unbekannte Prolepse liegt über den folgenden Geschehnissen!
Joseph wurde in das >Hinab< (V 734) Ägyptens geführt; „sein“ CHARON war gleichzeitig sein Lebensretter. Kein Wunder also, daß Joseph dem WISSEN von der mythischen Erkennbarkeit der Wirklichkeit Fragen stellen mußte, die romanstrukturell nunmehr zu lösen waren:
Etwas verwirrt also in Dingen der Zeit und des Raumes, zog er in seinen Stationen dahin..} (V 735) Die unfreiwillige Reise führt zu einer Erweiterung des Weltbildes. Indem der bekannte Raum durchschritten wird und der neue unbekannte ihn aufnimmt, indem die Zeit, zusammen mit dem Raum… Einheit und Gemeinsamkeit schuf des Aspektes der Welt und der Geistesform (V 736), wird Joseph die Unmöglichkeit des Einzigartigkeitsdünkel bewußt, daß der Segen der Väter als sorgender Gottesausschau… nicht so sehr ihre unterscheidende Vorzugssache gewesen war, als es [das Sorgen und Schauen] der Zeit und dem Raum… angehörte (V 737).
Josephs Ankunft in Ägypten ist begleitet von reflektierender Rückschau. Er vergleicht das ihm Bekannte der Vergangenheit mit den ersten Eindrücken des Neuen, ihm Zukünftigen, verklammert also Vergangenheit und Zukunft. In dieser sorgenden Vorausschau - denn schließlich ist er in der Tiefe, im >Hinab< - begreift er das Erlebte formelhaft als >lebende Wiederholung< (V 737). Darin ist die Romangegenwart aufgehoben. Joseph konnte nunmehr offenen Auges das weitere Geschehen beobachten und aufnehmen. Der Boden war fest. Er betritt das Neue! On.

Ägypten:
Raum, der sich verengt. Die Pyramiden sind Ausdruck der sich verengenden Enge, die den Punkt als kleinstmöglichster Ausdehnung suchen. Diese engste und starrste Ewigkeit ist der Gott, ist Atum-Re, allerdings weiß sich der in den unendlichen Flächen des unter ihm Liegenden mit den Sonnengottheiten der anderen Völker in ein weltläufig-ausschauendes Einvernehmen zu setzen - ganz im Gegensatze zu dem jungen Amun in Theben, dem jede spekulative Anlage fehle und dessen HORIZONT in der Tat so eng sei…, daß er nicht über die eigene NASE hinaussehe. (V 742).
Die zusammenstrebenden Schenkelseiten der schönen Figur (V 741) lassen den Raum zusammenschauend erkennen. Oberhalb - zur Sonne, zum Licht, zum Hellen und Klaren - der Breite des Sinnbildes Atum-Re, der Starre, der Herr des Tempels, der zeitlos Herrschende, der Ewige. Im Gegensatz dazu die KONKURRENZ des Tiefblickenden und Bewegungslosen. Amun-Re will starr bleiben in der Enge, nicht weitläufig Kontakt pflegen zur Wesensschau des Allgemeinen.
Zum Ende des Kapitels eine gewiß-ungewisse Prolepse: Die Ismaeliter aber schieden, sehr ANGENEHM berührt, von On an der Spitze des Dreiecks, indem sie ihre Schritte tiefer hinab- oder hinauflenkten in Agyptenland. (V 743)

Die Sphinx:
SYMBOL der Ewigkeit, des ewigen Fragens. Die unvordenkliche Chimäre, die lebt in einer Gegenwart, deren ABSTAND und Unterschied von der damaligen in ihren Augen zweifellos nichtig war. Sie schaut aus hell-offenen Augen, intelligent und berauscht vom tiefen Zeitentrunke, gen Osten [wo die Sonne aufgeht]… wie eh und je. So lag sie in sinnlicher Unveränderlichkeit (V 748) auch in der Gegenwart vor Joseph und seinen Verwandten aus dem Osten.
Wieder wird die mythische Vorvergangenheit vergegenwärtigt. Die Sphinx selbst erhält den Nimbus der teilweisen Zeitlichkeit durch die Bestimmbarkeit des festen Zeitgrundes eines festen Steines zu Füßen der Sphinx. Er ist die Sicherheit vor dem Abgrund in die Ewigkeit, aufgerichtet beim Regierungsantritt des Pharaos Tutmosis III., ca. 1480 v. Chr., und somit ein fester Punkt in der Zeit, da zudem mit einer Geschichte versehen (V 748/9).
Das Sinnliche erhält seine Bedeutung, wenn es gegenwärtig wird. So tritt das Sphinx aus der Dunkelheit seines Ursprunges (V 750). Das Rätsel bestand im Schweigen. Damit tritt es an Joseph heran, der die Löwenjungfrau aus dem Steine gehauen sah, als ABBILD eines Trugbildes, das lüstern nach jungem BLUT war und die Drohung der Zukunft auszusprechen imstande sei. Das kann nur gelten für denjenigen, der Angst vor der Zukunft mitbringt, sich nicht auf dem rechten Weg weiß. Doch diese [ihre] Zukunft war wild und tot, denn eben nur Dauer war sie und falsche Ewigkeit, bar der Gewärtigung (alle V 751).
Joseph erliegt nicht dem mythischen Zauber, der Verheißung „ägyptischer“ DAUER. Er ist ein Kind der Zukunft, der sich fortentwickelnden Zukunft, holt sich Kraft aus der Vergangenheit im Andenken an seinen Vater, spürt…, wes Geistes Kind [er] ist, weiß sich ihr letztlich durch die Bewußtmachung des Vergangenen als Auftrag fürs Zukünftige zu entziehen. Der Triumph des Dünkels ist vollkommen, als er im Traume ihre Niederlage entgegennehmen kann. >Tu dich zu mir und nenne mir deinen Namen, von welcher Beschaffenheit ich nun auch sei!< , fordert ihn die Vernachlässigte auf. Doch Joseph verfing nicht der stillen Frage nach der Herkunft des Ewigen und Göttlichen, er konnte nicht ein solches Übel tun und wider Gott sündigen (alle V 752), indem er ihm hoffärtig den Rahmen seines Beginnens anzeigt, denn Joseph ist auf dem Heilswege samt Gottes Ratschlag. Das genau ist der Prozeß der Menschwerdung durch Gott.
Das war Josephs erste Keuschheit in Ägypten.

PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
4: IV/1ZeitläufteRomangegenwart (nunc stans); Vorvergangenheit, Vergangenheit, Gegenwart, ZukunftReflexion

Das Vierte Hauptstück beginnt mit einem märchenhaften Einschub: Es war ein Mann, der hatte eine störrige Kuh, die das JOCH nicht tragen wollte, da es den Acker zu pflügen galt… Nahm der Mann ihr das Kalb weg … Das Kalb blökte und der Mann brachte sie wieder zusammen. Nun war die Kuh nicht länger störrisch. Der Mann: Gott; die Kuh: Jaakob; das Kalb: Joseph; das Pflügen des Feldes: Gottes Weltplan. So der Plan.
Aber, das Kalb blökt nicht, es verhält sich totenstill, denn die Zeit ist noch nicht reif für den großen Plan, obwohl es durchaus eine IDEE von des Mannes Zwecken und langfristigen Anschlägen besitzt.
Die Zeitform „Präsens“ ist beachtenswert; es ist das historische Präsens, was Allgegenwart indiziert. Wir befinden uns in der Romangegenwart, gleichsam im nunc stans, der Allgegenwärtigkeit des Geschehendseienden.
Jehosiph oder Osarsiph weiß um seine ENTRÜCKUNG, deren Ausdruck die Reise nach Ägypten ist, weiß um den schwimmenden Weg der Sterngötter (alle V 823), weiß aber auch um seine Bestimmung als Segensträger, weiß um die Erfüllbarkeit (V 824), der die Entrückung ins Ägyptenland folgen mußte. Nun aber das unbewußte Ungewisse, was die Ungewißheit des Zukünftigen anzeigen hilft, denn mit Entrückung allein ist es nicht getan; ein anderes muß noch hinzutreten, was einen Hinweis aufs Zukünftige gibt, das aber steht bei Gott. - Die Erzählung ist „ange-halten“, um auszublicken. Joseph hat das Gefühl - und darum geht es im Folgenden! - des >Schongesehen< und >Schongeträumt< (V 824); er denkt sich wissend des Erfahrungssschatzes vom Kommenden, denn was wir in unserer Sprache seine Vaterbindung zu nennen versucht sind, ist mythisches Vexierspiel und Bewußtwerdung im PHÄNOMEN der Nachfolge (alle V 824). Joseph empfindet dieses Gestelltsein, so daß ihm die imitatio als Unentscheidbares in bezug auf die Wirklichkeit seiner Person bewußt wird. Er war mit dem Schicksal eins und war es im Vater vor Zeiten: Er war Jaakob, der Vater! Die Vergegenwärtigung geht aber noch weiter „zurück“: Wieder, nach der Verkündigung des >Einst<, war Abrams Same fremd in einem Lande, das ihm nicht gehörte, und Joseph würde dem Laban dienen, wie Jaakob dienen mußte; nur frug es sich der Held, wie lange denn wird er ihm dienen?
Die Erzählperspektive wechselt hier ins Innere zur Innensicht: Er war Jaakob… eingetreten ins Labansreich… flüchtig vor Bruderhaß… Joseph würde dem Laban dienen, das wußte er.
Die epische Darstellung des TELLING im Praesens historicum verbindet die verschiedenen Zeitschichten miteinander. Joseph tritt als Denkender, sich Einfühlender auf. TM schafft eine personale ERZÄHLSITUATION im Gegensatz zur sonst vorherrschenden auktorialen Erzählweise. Ob dieser Wechsel nunmehr auf die Fremdrepräsentation TMs zurückzurufen sei, ist zu bezweifeln, vielmehr ist zu mutmaßen, daß Abram, Isaak und Jaakob in Joseph repräsentiert werden sollen. Der Präsens tritt als Erzähltempus der Darstellung auf, soll das Fiktionale verwirklichen helfen, ist ein Wirklichkeitsbericht empfunden-zeitlosen Geschehens in der Vergegenwärtigung des Augenblicks, da Joseph ihn empfand als Ewigkeit. TM benutzt repetitive Frequenzen, indem Joseph sich des Geschehens auf den bisherigen achthundertvierundzwanzig Seiten erinnert - d.i. Zeitdehnung -, denn in aller Ausführlichkeit wird dieses Bewußtwerden des Ewigen, der IMITATIO in den Vätern, beschrieben, erzählt, wiedergegeben als Empfindung eines Augenblicks, dem eine ganze Erziehung vorhergehen mußte.
Nach dieser Sequenz kehrt TM nicht ganz und sofort zur auktorialen Erzählsituation zurück, bedient sich dennoch des pluralis narratoris, um die Geschichte mit ihren verwirklichenden Bedenken hinsichtlich der Zeit- und Altersfrage zu befragen. TM blickt nunmehr aus Jaakob, der die Augen auf den zeitlich Unberührten richtete, da er ihn für tot und zerrissen hielt (alle V 825). Welcher Irrtum und wie recht er doch damit hatte!
Vergleicht man die Unterweltsjahre Jaakobs mit denen Josephs, so stehen vor dem Autoren die entscheidenden Fragen der Strukturierung, die er nunmehr beantworten will und wohinein er den Leser scheinbar verwickelt: Die befestigte Überlieferung läßt es [die Anzahl der Jahre in der zweiten Grube] im ungewissen; wenig besagende Wendungen sind alles, was ihr zur Klärung der Zeitverhältnisse innerhalb unserer Geschichte abzugewinnen ist.
Die Zeitverhältnisse sind es, die den entscheidenden Rahmen für die weitere Gestaltung des Erzählten abgeben müssen, denn die Josephsgeschichte lebt durch ihren festgesetzten Rahmen, durch ihr Bewußtsein von glücklichem Ende, durch das Errechenbare, ihren Raum, der nur nach hinten verschoben werden kann und Vergegenwärtigung gelegentlich und v.a. im Feste zu finden hofft. Das ist die erzähltechnische Angel des weiteren und Rekurs aufs Bisherige, denn: Niemals sind wir darauf ausgegangen, die Täuschung zu erwecken, wir seien der Urquell der Geschichte Josephs. Die Geschichte war da, sie quoll aus demselben Born, aus dem alles Geschehen quillt… seitdem ist sie in der Welt. (alle V 827)
Das Neue aber der Darstellung TMs ist die Bewußtwerdung, die Verbindung des Mythus (im Sinne von Geschehen) mit der PSYCHOLOGIE des erahnbar Genauen und Wirklichen, worin Selbstbesinnung einst mit ihr eins gewesen. So ist Spiel und Möglichkeit dezidierterer Gestaltung möglich, denn wir lassen uns mit Vergnügen herbei, zu fragen, wie es denn anders hätte sein können. Die Zeit wird psychologisiert.
Josephs Weg ins Haus Potiphars ist durch das Gegebene vorgezeichnet, Freiheit in der Gestaltung erwächst aus gewissen, ewig ablaufenden, MENSCHLICH-individuellen aber auch ebenso sozial-überindividuellen Verhaltensmustern.
Wie lange also blieb Joseph bei Potiphar? Welchen Zeitraum gilt es im folgenden Romangeschehen zu beschreiben bzw. darzustellen?
Joseph ist siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre alt bei der Ankunft in Ägyptenland. Es mag eine Weile dauern, bis aus dem Jüngling im Sklavendienste ein Mann würde werden können, ein Mann, der das Geschehene „verarbeitet“ würde haben, der die nachgewiesene, überlieferte Lebensstufe hätte beschreiten können, denn mit dreißig Jahren tritt man hervor aus Dunkel und Wüste der Vorbereitungszeit ins wirkende Leben; es ist der Zeitpunkt der Sichtbarmachung und Erfüllung. Dreizehn Jahre also vergingen von des Siebzehnjährigen Eintritt in Ägyptenland, bis das er vor Pharao stand, das ist sicher. (V 826) Also setzte >Potiphar< den chabirischen Sklaven nicht am zweiten oder dritten Tage über all sein Eigen… Es dauerte seine Zeit… Mit einem Worte: Zehn Jahre lang blieb Joseph bei Potiphar… (V 828): zehn Jahre Potiphar, dazu drei Jahre Gefängnis, die zweite Grube.
Die Rechnung ist einfach und überzeugend, sie ist eine psychologisch motivierte und symbolhaft-gedoppelte Analogie: Was liegt näher als die Vermutung, den drei Tagen in der Grube zu Dotan drei Jahre Aufenthalt in Zawi-Re zuzuschlagen, warum nicht wieder die Dreizehn ins Rollenspiel bringen?
Selten sind auf überzeugendere Weise Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zusammengefallen als in dieser Tatsache. (V 829)
Nachdem dies alles im ersten Kapitel des Vierten Hauptstücks geklärt wurde, kann das Folgende des Romangeschehens nurmehr eine Auseinanderfaltung des soeben Besprochenen sein: Da sehe man, wie kein Falsch ist an der Geschichte, wie alles… rein und genau im Wahren und Richtigen harmonisch aufgeht.
Und in diesem „historischen Brokat“ persiflierenden Schlußwort des Kapitels wird einerseits die fiktive Realität der ägyptischen Welt als romanhafte Vergegenwärtigung des Menschsein angezeigt und andererseits findet eine grandiose Vorwegnahme des Kommenden ihr stilistisches Ende in der Doppelbedeutung des Da sehe man… (V 830), was sowohl auf das Vorhergehende wie auch das Kommende weisen sollte.

Joseph der Ernährer

PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
1: 0Vorspiel in höheren RängenVorvorvergangenheitnicht datierbar
2: I/1-4Die zweite Grube IVergangenheitdreißig Tage/Chronologie
3: I/5GeschichtsinterpolationVergangenheitUmdatierung eines längeren Prozesses/Reflexion
4: I/6-IIDie zweite Grube IIVergangenheitfast drei Jahre/Chronologie
5: IIIBei PharaoRomangegenwart, Vergangenheiteinige Stunden/auserzählt auf 78 Seiten
6: IVSieben (fünf) fette JahreVergangenheitsieben Jahre/Chronologie
7: VThamarVergangenheitnicht datierbar
8: VIWiedersehen mit den BrüdernVergangenheitzwei Jahre/Chronologie
9: VIIWiedersehen mit JaakobVergangenheitsiebzehn Jahre/Chronologie
aus: Joseph, der Ernährer
PhaseInhaltZeitschichtungDauer des Erzählten/Erstreckung im Roman
5: IIIBei PharaoRomangegenwart, Vergangenheiteinige Stunden/ auserzählt auf 78 Seiten

Eine Untersuchung der in den vollständigen Tabellen gelisteten Ergebnisse hinsichtlich der Vielseitigkeit von Zeitgestaltung wird feststellen müssen, daß in jedem Romanteil verschiedene Aspekte der Zeit dargestellt wurden. TM hat in jedem ROMAN wenigstens einmal die Perspektive der Darstellung gewechselt, ist entweder nur eine GENERATION zurückgegangen (Abraham-Geschichten) oder weiter zurück (Vorspiel), in jedem Falle jedoch erfolgte die Verschiebung quasi nach hinten. Die Geschehnisse um Joseph bilden die uns Heutigen am nächsten liegende Zeitschicht und werden in die Gegenwart v.a. durch die Vergegenwärtigung des Gesprächs transferiert. Lediglich in einzelnen essayistischen Einsprengseln vernimmt sich Mann seiner ansonst treuen Darstellungsweise der Vergangenheit und drückt ihr in dem essayistisch näher Beleuchteten den Stempel des Ewigmenschlichen auf, so daß das Vergangene gleichsam im Heutigen aufgehoben erscheint.
Nun steht methodisch die Aufgabe, in den gelisteten größeren Abschnitten (ab Kapitelgröße) den Wechsel der Zeitgestaltung zu analysieren .

Nach dem Fall in die zweite Grube und dem angesprochenen dreijährigen Aufenthalt dort wurde Joseph durch des Pharaos eilenden Boten zu diesem bestellt. Die Ankunft in der Stadt des Blinzeins (V 1400), On, ist geprägt von vorgreifendem Optimismus Josephs: Joseph war zwar gespannt auf das Kommende,… aber seine ERWARTUNG war Zuversicht, weil …nämlich Gott es heiter, liebevoll und bedeutend meinte mit ihm, [dessen] war er gewiß. (V 1401) Bei seiner ersten Ankunft spielte On (V 740) die Rolle der freundlichen Vermittlung ägyptischer Wirklichkeit. Die Unterweisung in die RELIGION Atum-Res als aufnehmender und toleranter Sonnenreligion spiegeln Joseph die GEWIßHEIT wider, eine innere Prolepse liegt über der Szenerie; dennoch bleibt erzähltechnisch dem Leser Spannung, denn es ist nur die Hoffnung Josephs, die aus der Innensicht kundgetan wird, nicht ein objektiv-faßlicher Optimismus durch den auktorialen Erzähler. Der jedoch kommt gleich im Anschluß an das letzte Zitat zu Wort in der narratio pluralis, indem er die subjektive Hoffnungserwartung der Gewißheit, die ebenso auch ein Ausdruck innerer Gefestigtheit sein könnte, durch Ungewißheit begünstigende Zukunftsaussichten dämpft: Wir… wollen ihm keinen Vorwurf machen aus seinem Vertrauen (V 1401). Als ob es anders kommen sollte!? Aber: Der Präsumptuose Joseph war auf dem Wege zum Pharao, das war gewiß.
Der Weg durch die Palastanlagen, der nicht Stunden wird gedauert haben, wird von TM ausführlichst beschrieben. Jedes Wort, das Joseph auf dem Wege wechselte, ist niedergeschrieben, jede Nuance in der Architektur wiedergegeben usw. Die Zeit bis zum Zusammentreffen ist demnach gedehnt bis zum Äußersten, was nur insofern Verwunderung erregen müßte, als Joseph durch einen berufsmäßig schweratmenden Boten eilends zum Pharao gerufen wurde. Die Darstellung könnte mehrere Funktionen erfüllen:

  1. die Bekanntheit des historischen Ausgangs erlaubt die Verwirklichung der fiktiven Realität im Roman durch ausführliche Beschreibung der Umstände, die natürlich einer fiktiven Wirklichkeit entsprechen, dennoch als diese dargestellt ist (Pharao's Absteige-Palast zu On lag östlich des Sonnentempels, verbunden mit ihm durch eine Allee von Sphinxen und Sykomoren, auf welcher der Gott dahinzog, wenn er seinem Vater zu räuchern gedachte. Das Lebenshaus war leicht und lustig hingezaubert, ohne Verwendung von Stein, welcher nur ewigen Wohnungen zukommt, aus Ziegeln und Holz gemacht, wie alle Lebenshäuser, aber natürlich so lieblich und voller Zier, wie Kernes kostbare Hochkultur sich's nur hatte erträumen mögen, verwahrt in seinen Gärten von blendend weißer Umfassungsmauer (Peribolos), vor deren erhöhtem Durchlaß an vergoldeten Fahnenstangen bunte Wimpelbänder sich im leichten Winde regten. - V 1402);
  2. die Spannung vor dem ersten Zusammentreffen zwischen Joseph und Amenhotep IV. wird geschürt, durch retardierende Momente {Aufschübe des eigentlich Erwartbaren durch Beschreibungen (Schurzdiener besprengten und kehrten den Boden hier, trugen Fruchtteller davon, versahen die Raucher schalen… -V 1402), Situationsanalyse (Der Mann sah ihn von der Seite an, und zwar wiederholt. Zwischendurch sah er geradeaus, wandte dann aber mit einer gewissen Raschheit, als habe er vergessen, nach etwas zu sehen, oder müsse schnell etwas nachprüfen, was er gesehen hatte, wieder den Kopf nach dem Geführten, so daß dieser gezwungen war, den Seitenblick zu erwidern. -V 1405), Gedanken wiedergäbe (…ein Nicken, das auszudrücken schien: >Ja, ja, so steht es, wundere dich nicht, du hast ganz recht gesehen. < -V 1405)} nach hinten verschoben und
  3. Pharao kann durch mehrere kleine Seitenbemerkungen von Hausdienern vorgestellt und erhöht werden im Bewußtsein des Lesers (Schnell schärfte der Bote dem Joseph noch ein, er möge gleichfalls sehr rasch und keuchend atmen, wenn er vor Pharao komme, damit dieser den schönen Eindruck habe, daß er ohne Rast den ganzen Weg her vor sein Angesicht gelaufen sei…-V 1403 oder „Weißt du dich zu benehmen?“… „Allenfalls und im Notfall“, antwortete Joseph lächelnd. „Nun, der Notfall wäre dann wohl gekommen“, erwiderte der Mann.).

Durch diese vielen kleinen Verzögerungen, z. B. Einschübe der auktorialen Erzählerinstanz (Beschreibungen, Wiedergabe von Denkvorgängen), durch die analysierende Detaildarstellung eines rascher ablaufenden Vorgangs (Situationsanalyse) wird die AUFMERKSAMKEIT des Lesers auf das kommende Gespräch fokussiert. Der Vorgang des wiederholten Begleiterblickes (alle V 1404) war sicherlich ein Akt weniger Sekundenbruchteile (in der fiktiven Realität), dehnt aber den tatsächlichen Zeitraum des Romangeschehens und verschärft die Aufmerksamkeit aufs Kommende. Das nennt man Zeitlupe. Sie dient der Konzentrationsfähigkeit aufs kommende Gespräch zwischen Joseph und Pharao Amenhotep IV.
Pharao ist innerlich… höchst angespannt, eifrig und sorgenvoll. (V 1414) Joseph dagegen ist sich seiner Sache sicher (V 1401). Das ist die psychologische Ausgangssituation. Sie wird ausgeleuchtet, indem TM Pharao intellektuell vorstellt, d.h., die Grundüberzeugungen des jungen Königs zur Sprache bringt. Man plaudert; schließlich ist Pharao in der Stimmung {„Dies ist der Augenblick“, bestimmte er plötzlich. „Jetzt ist Pharao aufgelegt, die Deutung zu hören…“ - V 1429), Joseph seine Träume zu erzählen.
Es fällt auf, daß der dringende Wunsch der Hinführung Josephs (Eile des Boten) zu Pharao nicht zur schleppenden Darstellung, dem Small-Talk, von Josephs „Audienz“ passen will. Eine Erklärung könnte sein, daß die wirklich wichtigen Dinge - und Pharao nimmt seine Träume wichtig! - nicht jedermann versteht, im Sinne Pharaos; daß dessen Unsicherheit (V 1414) erst im Gespräch überwunden sein will, daß Joseph erst das Vertrauen gewinnen muß und es durch sein abwartendes und wenig devotes Verhalten dem jungen König auch abgewinnt. Die Traumanalyse lehnt sich an die Technik der sokratischen Mäeutik an: Joseph bringt den jungen König dazu, sich den Traum selbst zu deuten. Das Ergebnis ist bekannt und soll hier nicht weiter interessieren; interessant dagegen, im Sinne der Aufgabenstellung dieser Arbeit, ist das weitere Gespräch: Die weitere Deutung des Traumes beruft sich auf die Existenzialität von Zeit, will die Wahrnehmung des Zeitlichen deuten in der Konstanz der Zeit, der Ewigkeit: Denn wie ich nötig war, damit der KÖNIG träume, so war er nötig, damit das Lamm weissage, und ist unser Sein nur der Treffpunkt vom Nicht-Sein und Immer-Sein und unser Zeitliches nur das Mittel der Ewigkeit. Aber doch nicht nur! (V 1434)
Pharao bringt das Problem des Besonderen in bezug aufs Allgemeine zur Sprache. Es geht im Folgenden um die Verhältnisfähigkeit des Zeitlich-Einzigen im Vergleiche zu Wert und Würde … vom Ewigen her (V 1434). Das sagt Pharao, doch Joseph nimmt die Bewußtheit von der Würde des Einzelnen in der Zeit als Gesprächsthema auf, um schelmisch seine Befreiung aus dem Gefängnis zu erwirken.
Der Einzelne steht dem Nacheinander der Zeit gegenüber, was auch auf den Wert der Wertschätzung durch die Sukzession der Nennung entspricht. In der Würde steht der Sohn vor der Mutter, obwohl sie vor ihm war, obwohl Joseph sie nur aus der NOT des Wortes, das der Zeit angehört und verwiesen ist aufs Nacheinander (V 1436) an zweiter Stelle nennt. Das ist die Technik des Vorgriffs, einer Joseph gewissen Prolepse (die zu seiner Befreiung führen soll und nur Pharao im MOMENT der Ansage noch ungewiß ist), einer psychologisch motivierbaren Aufnötigung seiner Gedanken in Pharao, der auch prompt sich des Eindrucks nicht entheben kann, dieses Josephsche Gebot eigener Vorsorge aufzunehmen und nur zur Sprache zu bringen, gleichsam als „eigenen“ Gedanken ZU entäußern: „Hast du nun gesprochen oder hast du nicht gesprochen? Du hast gesprochen, indem du nicht sprachst und uns nur deine Gedanken belauschen ließest, nämlich die, die du erst zu denken gedenkst.“ (V 1437)
Diese Gedanken führten zur Glückseligkeit Ägyptens, der Vorsorge gegenüber den dürren Jahren, die Pharao im Traume erschienen. Also soll Joseph sein wie ich [Pharao] und Vollmacht haben von mir in dieser Sache…(V 1439). Joseph ist am Ziel. –

Zusammenfassung der äußeren Analyse

Am Anfang der ARBEIT stand die äußere Analyse des Gesamtwerks. Die Ergebnisse in den aufgeführten Tabellen zeigen deutlich, daß der Autor die Zeit zwar grundsätzlich chronologisch abrollen läßt, doch auch, daß v.a. im ersten Teil der Tetralogie Umschichtungen vorgenommen wurden. So stehen romangegenwärtige Handlungen (Gespräche) neben den Erinnerungen an nicht mehr lebende Vorfahren. Diese aber treten aus der Vergangenheit in die Romangegenwart, indem ihr Erlebtes erzählt und so vergegenwärtigt wird.
Diese Technik bewirkt die Schichtung des Romanwerks. Allerdings beschränkt sie sich fast nur auf den ersten Teil und wird nicht im zweiten und dritten Teil wieder aufgenommen, in dem v.a. essayistische Einsprengsel Erzählabsichten reflektieren beziehungsweise die Mut-NOVELLE breiten Raum einnimmt. Erst mit der Wiederaufnahme im vierten Teil wird die Schichtungstechnik des ersten Bandes wieder aufgenommen, indem die Thamar-Geschichte als Rückerinnerung den Auftakt für das große epische Finale bildet (siehe unten).
Ziel der Übung des ersten Teils war es, eine solide Ausgangsbasis für vertiefende Analysen und Interpretationen zu erhalten, tiefer in die Schichtung und Gestaltung des Erzählten, den zeitgenuinen Ablauf zu blicken.

III. Vertiefung der Analyse

“Zeitgestaltung in Thomas Manns Joseph-Tetralogie“ heißt das Thema der vorliegenden Arbeit. So ist es nunmehr an der Zeit, zu fragen, wie Zeit überhaupt gestaltet werden kann beziehungsweise dies im konkreten Fall geschehen ist. Die Reihenfolge des Vorgehens mag überraschen, denn in den meisten wissenschaftlichen Arbeiten steht am Anfang ein methodenformulierendes Fragen, von dem aus das Folgende abgeleitet wird. Das ist auch für viele Arbeiten eine angemessene Methode. Im vorliegenden Fall jedoch verbietet es sich geradezu, denn die Geschichte, die erzählt wird, war da, bevor irgend jemand über das VORHANDENE, das reflektierte. Zumindest ist nichts Überliefertes zuhanden, dem das Merkmal “Reflexion“ zugeschrieben werden könnte. TM reflektiert erst spät (V 825 ff.) über das Tatsächliche seiner Geschichte, seines Plots: Niemals sind wir darauf ausgegangen, die Täuschung zu erwecken, wir seien der Urquell der Geschichte Josephs. Bevor man sie erzählen konnte, geschah sie; sie quoll aus demselben Born, aus dem alles Geschehen quillt, und erzählte geschehend sich selbst. (V 827)
Somit ist nichts anderes möglich, als eine sukzessive, grundsätzlich chronologische Gestaltung. Allerdings wird die Chronologie des Geschehens, die in der Genesis (Kapitel 25 bis 50) vorgezeichnet ist, eingehalten. Dennoch, oder gerade deshalb schaltet TM einige vorhergehende Kapitel dazwischen (z.B. die Abram-Geschichte oder Eliezers Geschichte oder flechtet historische „Tatsachen“-Sphinxabenteuer Josephs im Angesicht des Steines von Tutmosis III. ein), die die Schichtung des Romans verkomplizieren. Selbst im oben zitierten Text gehen Vergangenheitsform (quoll) und Gegenwartsform (quillt) ein friedliches Miteinander ein, stehen so kataphorische und anaphorische (quillt muß als ein fortdauernder Prozeß mit Zukunftsoption aufgefaßt werden) Elemente einander ergänzend und den zeitlichen Rahmen umschließend nebeneinander. Da zudem gelegentliche essayistische Einsprengsel (Roman der Seele, Höllenfahrt) ebenfalls vergangene Zeiten beziehungsweise vorvergangene Zeiten vergegenwärtigen, wird die Chronologie ständig gebrochen. Dennoch: Der chronologische Grundcharakter des Erzählten verliert sich nicht in Parallelhandlungen oder Perspektivenwechsel auf eine Nebenfigur (Hauptakzent der Betrachtung durch den Erzähler), sondern wird immer wieder auf den vorgegebenen Erzählboden zurückgeführt.

Halten wir also als Ausgangsthese fest, daß es sich grundsätzlich um ein chronologisches Werk handelt.

Diese These wird v.a. dadurch gestützt, daß es im Romangeschehen keinerlei Parallelhandlungen gibt, die die Verschachtelung der vorgegeben HANDLUNG in ein noch komplexeres Verhältnis bringen könnten. G. Müller meint über die Frage der Zeitgestaltung in der Joseph-Tetralogie grundsätzlich: Wohl ist im Joseph-Roman die Frage der Zeitgestaltung besonders gelagert, denn hier wird der knappe alttestamentliche Bericht von Joseph in seinem Verlauf streng beibehalten, das Werden des Verlaufs aber aus stummen Bezirken tief und breit entwickelt.
Das trifft, wie die unten stehende Tabelle auch zeigt, für den Teil der Vergegenwärtigung Josephs auch zu. Eine Ausnahme bildet die Thamar-Geschichte, mit deren Einfügung es eine besondere Bewandnis hat, wie E. Heftrich nachweist: Die Thamar-Geschichte diente TM als Wiederaufnahme der Josephs-Geschichte, nachdem er zuvor Lotte in Weimar beendet hatte, benötigte er einen guten Neuanfang, der ihm die Tore Ägyptens weit aufzustoßen in der Lage sein mochte. In einem BRIEF vom 30.7.40 steht die entscheidende Frage: Geschichte Jehudas voranstellen? Die Frage mußte sich der Romancier stellen, dem es um die Sukzession, die Kontingenz, die kompositorische Geschlossenheit seines Werkes ging, denn wie ein Fremdkörper reißt die Einschaltung der Thamar-Jehuda-Geschichte die Genesis-Erzählung auseinander. (Sie steht zwischen Jaakobs Trauer um Joseph und dessen Aufstieg bei Potiphar.) An dieser Reihenfolge des Geschehens kann sich ein Romancier wie TM nicht orientieren; und das, obwohl die Genesis-Wiedergabe letztlich mythisches Geschehen rekapituliert! Dennoch hat er sich mit Grund nicht daran gehalten. In der Thamar-Geschichte spielt u.a. ein Bruder Josephs eine Hauptrolle; dies mag entscheidend gewesen sein, diese Geschichte als Einbettung für die Wiederbegegnung und als Einläuten des großen epischen Finales zu begreifen.
Abweichungen von der in der Genesis vorgegebenen Handlungen basieren ansonsten auf dem Gedanken des Weiterausholens, eines weiteres Zurückgehens in die vorvergangenen Zeitläufte, z.B. zu Abraham- oder Eliezergeschichten, die in der folgenden Tabelle nicht berücksichtigt wurden, ebensowenig wie die vorvergangene „Zeit“ der Sintflut oder der mythologisch-mystischen Menschwerdung, die von TM in Höllenfahrt oder dem Roman der Seele abgehandelt werden.

Vergleicht man die Wiedergabe der Josephsgeschichte in der Genesis und bei TM, so ergibt sich folgendes Bild:

GenesiskapitelbezeichnungEntsprechung bei TM
Esaus und Jakobs Geburt 25.19-28Wer Jaakob war GJ/1L2
Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht 25.29-34(?) … Esau GJ/II.5
Isaak und Rebekka in Gerar 26.1-11Wer Jaakob war GJ/II.2
Isaaks Streit mit den Philistern 26.12-33Wer Jaakob war GJ/II.2
Jakobs List 27-28.9Der große Jokus GJ/IV.4
Die Himmelsleiter 28.10-22Die Haupterhebung GJ/II.4
Jakob dient um Lea und Rahel 29.1-30In Labans Diensten GJ/V
Jakobs Kinder 29.31-30.24Jaakobs Hochzeit; Von Gottes Eifersucht; Von Rahels VERWIRRUNG; Die Dudaim; Die Geburt; Die Gesprengelten GJ/VI.2- VI.5 und VII.2+3
Jakobs Flucht aus Labansland 30.25-3 1.54Der Diebstahl GJ/VII.4
Begegnung mit Esau 32.1-22Esau GJ/II.5
Jakob kämpft am Jabbok 32.23-32.33Der Vater; Wer Jaakob war GJ/I.3; GJ/II.2
Versöhnung mit Esau 33Esau GJ/II.5
Das Blutbad zu Sichern 34Die Geschichte Dinahs GJ/III
Gott segnet Jakob in Bethel 35.1-15(?)…Benoni GJ/VII.6
Rahels Tod und Jakobs Heimkehr 35.16-35.29Benoni GJ/VII.6
Josephs Träume 37.1-11Die Garben JJ/IV.4
Joseph reist nach Schekem 37.12-14Joseph fährt nach Schekem JJ/V.2
Der Mann auf dem Felde 37.15-17Der Mann auf dem Felde JJ/V.3
Die erste Grube 37.18-24Joseph wird in den Brunnen geworfen JJ/V.5
Joseph kommt nach Ägypten 37.25-36Die Ismaeliter; Der Verkauf; Joseph wird zum andern Mal verkauft und wirft sich aufs Angesicht JJ/VI.1+3+ JÄ/III.7
Thamar 38Thamar JE/V
Joseph als Sklave bei Potiphar 39.1Der Auftrag; Huij und Tuij; Joseph redet vor Potiphar; Joseph schließt einen Bund; Joseph tut Leib- und Lesedienst JÄ/IV.4+5, 6+7, V.1
Joseph ist gesegnet 39.2-6Joseph wächst wie an einer Quelle JÄ/V.2
Mut 39.7-18In Schlangennot; Das erste Jahr; Das zweite Jahr; Von Josephs Keuschheit; Der Neujahrstag; Das leere Haus; Das ANTLITZ des Vaters JÄ/VI.5-8, 15-17
Joseph im Gefängnis 39.19-40.23Das Gericht; Die andere Grube JÄ/VI. 18; JE/I
Joseph bei Pharao 41.1-36Die Träume des Pharao; Die Entführung; Das Kind der HÖHLE; Pharao weissagt JE/JI.4; III. 1-3
Josephs Erhöhung 41.37-57“Ich glaub‘ nicht dran!; Allzu selig; Die Zeit der Erlaubnisse JE/III.4-5; JE/IV
Erste Reise der Söhne Jakobs nach Ägypten 42Sie kommen; Das Verhör; ‚Es wird gefordert;‘ Das Geld in den Säcken; Die Unvollzähligen JE/VI.3-7
Zweite Reise 43Jaakob ringt am Jabbok JE/VI.8
Josephs Brüder werden geängstigt 44Myrtenduft oder das Mahl mit den Brüdern; Der verschlossene Schrei; Bei Benjamin! JE/VI.10-12
Joseph gibt sich zu erkennen 45Ich bin’s; Zanket nicht; Pharao schreibt an Joseph; Wie fangen wir’s an?; Verkündigung JE/VI,13-17
Jakobs Reise nach Ägypten; Namensregister der Reisenden 46.1-7; 46.8-27Ich will hin und ihn sehen; Ihrer siebzig JE/VII.1+2
Das Wiedersehen 46.28-34Traget ihn!; Jaakob lehrt und träumt; Von absprechender Liebe JE/VII.3-5
Jakob vor Pharao 47.1-26Jaakob steht vor Pharao JE/VII.6
Jakobs letzter Wunsch 47.27-31Nach dem Gehorsam JE/VII.8
Jakob segnet Josephs Söhne 48Ephraim und Manasse JE/VII.9
Jakobs Segenssprüche über seine Söhne 49.1-28Die Sterbeversammlung JE VII.l0
Jakobs Tod und Bestattung 49.29-50.21Nun wickeln sie Jaakob; Der gewaltige Zug JE/VII.I 1+12

Legende:

  • JJ - Der junge Joseph
  • JÄ - Joseph in Ägypten
  • GJ - Die Geschichten Jaakobs
  • JE - Joseph, der Ernährer

Erläuterung zur Tabelle

Auf der linken Seite steht die eigentliche Chronologie, die wir nur kritisch in dem Sinne wahrnehmen müssen, als das eigentliche Geschehen (das frühe Heilsgeschehen) durch Quellen (literarische Augenblicksmarkierungen) uns überliefert ist. Das bedeutet, daß die Abläufe in der Genesis jedenfalls AUCH nicht hundertprozentig der WAHRHEIT, der quasi historischen beziehungsweise vorhistorischen Wahrheit entsprechen. Allerdings ist die PRÜFUNG des Verhältnisses zwischen Darstellung in der QUELLE und dem „tatsächlichen“ Verlauf nicht in dieser Arbeit zu leisten, sondern Aufgabe historischer oder theologischer Arbeiten. Hier ist lediglich festzuhalten, daß zwischen Wirklichkeit und Quelle bereits eine Diskrepanz in bezug auf den Wahrheitsgehalt der historischen Wirklichkeit bestehen dürfte. (Das war so und ist selbst heute im Zeitalter modernster Kommunikationsmittel nicht anders.)
Der Abrieb zwischen Wirklichkeit (ein Wort, das Entsprechungen vorzuziehen ist, da es das Prozeßhafte bestens wiedergibt) und Darstellung der Wirklichkeit beziehungsweise Vorstellung von Wirklichkeit wird bleiben. Es wird niemals eine Quelle geben, die die Wirklichkeit wiedergeben könnte; bestenfalls einen Teilbereich, ein Stück, das durch eine andere Quelle widerlegt werden könnte.

Im Falle von TMs Interpretation, Dokumentation, Recherche (die genaue Sujetbezeichnung für seine Tetralogie wird noch gefunden) der sich selbst erzählenden Geschichte (V 829) füllt demnach eine Betrachtungsebene weg: Wirklichkeit und Quelle fallen zusammen und müssen noch hinsichtlich der Fiktionalität auf die eigenen Absichten geprüft, gestutzt oder geweitet werden. Das genau ist zu prüfen, denn mit der Beantwortung dieser Frage, inwiefern TM die Chronologie der im Bibeltext vorliegenden Reihenfolge einhält, lassen sich Erzählabsichten erkennen. Ein anderer bedeutenderer Aspekt der Zeitgestaltung liegt in der Differenzierung von Mythischem und Historischem:
Joseph ist als eine historische Gestalt im Bewußtsein des Abendlandes präsent. Zwar streitet sich die FORSCHUNG um die historischen Fixierung der LEBENSZEIT Josephs (Jeremias nimmt das 15./14. Jahrhundert an; die meisten anderen spätestens das 16. Jahrhundert v.Chr.), doch ist das relativ unerheblich im Vergleich zur Bodenlosigkeit der ahistorischen Untiefe mythologischer Welterschaffungsphantasien. Der Genesis-Text läßt Wünsche in bezug der Eindeutigkeit des Pharaos zu.
Ob das Pharao-„Zitat“: WIE KÖNNEN WIR EINEN MANN FINDEN, IN DEM DER GEIST GOTTES IST WIE IN DIESEM? (Gen. 41.38) der Tatsächlichkeit entspricht, also Monotheismus zumindest vorstellig macht - denn hätte Pharao nicht korrekterweise vom höchsten Gott sprechen müssen im polytheistischen Ägypten des 16. Jahrhunderts? -, bleibt ein zumindest vorläufiges Geheimnis der Niederschrift. Immerhin aber (1. ein Forscher sieht AMENHOTEP IV. beziehungsweise ECHNATON als Zeitgenossen Josephs; 2. ein Bibelzitat läßt monotheistische Interpretationsmöglichkeiten für ein Pharao-Wort zu) steht TM mit seiner dichterisch-fiktionalen Zusammenführung von mythischer und historischer Wirklichkeit nicht im wissenschaftslosen Raum!

Was füllt v.a. auf, betrachtet man gestaltungsquantitative Unterschiede zwischen Bibelfülle und TMs Wiedergabe? Wo sparte der Autor aus, wo füllte er die logischen und fiktionalen Freiräume?

Es fällt auf, daß v.a. im ersten Teil der Tetralogie die Zeitläufte im Vergleich zur Bibeldarstellung bunt gemischt sind. Wer Jaakob war steht am Anfang der Darstellung, da man eine Geschichte mit der Geburt beginnen kann. Dann jedoch erfolgt bei TM ein Wechsel der Perspektive. Josephs Jugend steht nunmehr im Zentrum der Romangegenwart, so daß die Ontogenese Jaakobs vorerst keine Wiedergabe findet. TM stellt Haupterhebung und List um, weil er so eine psychologische Motivierung des Betrugs erreichen kann, im Gegensatz zur Heilsabsicht Gottes, der Jaakob quasi erst nach dem BETRUG erhöht.21 Deshalb kann für TM auch die Ausgestaltung von Jaakobs Leben erst nach dem Betrug vollends erfolgen. Der Kreis schließt sich in TMs Darstellung mit Jaakobs Flucht aus Labanland und der Versöhnung mit Esau.22 Ab sofort hält sich TM an die vorgegebene Chronologie der Genesis. Den ersten Teil, Die Geschichten Jaakobs, könnte man wie folgt wiedergeben:

1.Schicht: 1. Hauptstück (Romangegenwart)

2.Schicht: II.+III. Hauptstück (vorzeitig zu 1. Schicht)

3.Schicht: IV.-VII. Hauptstück (vorzeitig zu 2. Schicht)

Allerdings berühren sich das II. und IV. Hauptstück in ihren Anfängen. Beide führen auf Abram zurück; nur dient die Berufung auf Abram im II. Hauptstück der Ausfüllung, romangegenwärtigen Vergegenwärtigung des Mythus in bezug auf Isaak und seine Frau, währenddessen im IV. Hauptstück die eigentliche Chronologie nach Genesis-Muster eben mit Abram beginnen muß. Das II. Hauptstück setzt also nach dem Tode Rahels - womit das VII. Hauptstück endet - ein und endet im III. Hauptstück mit dem Gemetzel an Dinas Schänder(n).

Die ersten drei Hauptstücke bei Der junge Joseph finden keine Entsprechung in der Genesis. Besondere Möglichkeiten zur epischen Ausgestaltung des Genesis-Textes dürften sein: der Aufenthalt bei Potiphar samt der Mut-Geschichte, der Gefängnisaufenthalt, das Gespräch bei Pharao. Diese drei Lebensstationen stehen dann auch im “exegetischen“, ausgesprochenen, auserzählten Zentrum der Darstellung bei TM. So finden die achtzehn Verse in der Genesis (39.1-18) vom Aufenthalt bei Potiphar insgesamt einhunderteinundsiebzig Seiten Entsprechung (eng - nur Textvergleich mit Genesis - gerechnet; weit - samt essayistischen Einsprengseln und Nebenhandlungen - gerechnet sind es über dreihundert Seiten). Der Gefängnisaufenthalt in der Genesis (39.19-40.23), insgesamt achtundzwanzig Verse, wird von TM auf dreiundachtzig Seiten ausgestaltet (JA/VI. 1 8+JE/I). Die sechsunddreißig Verse des Gesprächs bei Pharao in der Genesis (41.1-36) finden bei TM dreiundsiebzig Seiten (JE/II.4-III.3) Entsprechung. Rechnet man diese drei Hauptereignisse im Leben Josephs zusammen und vergleicht sie mit der biblischen Entsprechung, kommt man zu folgendem Ergebnis:

18+28+36=82 Verse von 873 Versen (Gen. 25-50); ca. 9%
171+83+73=327 Seiten von 1818 Seiten; ca. 18%

Das Verhältnis steht schon zugunsten der Genesis, denn in den achtzehnhundertundachtzehn Seiten Joseph-Tetralogie sind Teile der Abram-Geschichte enthalten (eingeschichtet), die in der Berechnung keine Berücksichtigung auf Seiten der Genesis fanden und das Verhältnis dementsprechend noch weiter zugunsten der Tetralogie ausfallen ließen. Aber welches Verhältnis eigentlich? Man muß schon bei dieser Rechnung davon ausgehen, daß einem Bibel-Vers 2,09 Seiten TMs entsprechen. Das bedeutet, daß im vorliegenden Fall einem Vers des ausgewählten Textes ungefähr vier Seiten TM-„Exegese“ entsprächen. Man kann an diesen Zahlen deutlich sehen, worum es TM bei der Erzählung ging, welche Schwerpunkte er setzte.

Günther Müller und der Begriff der Zeitraffung

Ich folge im weiteren dem Gedankengang einer Vorlesung Günther Müllers, der erstmals den Begriff der „Zeitraffung“ vorschlug und wie folgt darauf hinführte, daß jede dichterische Wiedergabe Zeitraffung sein muß:

Der Erzähler muß ausholen, aus dem Vergangenen schöpfen, denn es liegt in der Natur der Sache, daß Erzählen ein Vergegenwärtigen für diejenigen sein muß, die nicht dabeigewesen, denen etwas verkörpert werden muß, daß sie hören (hörend erleben!), in jedem Falle wahrnehmen, indem sie selbst sich in eine oder mehrere Situationen begeben oder durch den Erzähler gestellt werden. Die Ursprünglichkeit des Erzählten soll durch den Erzähler gewährleistet sein. Der aber ist nicht die erste Instanz, denn „diese läßt sich überhaupt nicht feststellen“23. Das ist der Mannsche Brunnen, der die Untiefen liebkost, der die sprichwörtliche Untiefe des Zeitlichen nicht ausloten kann.
Nun muß man sich fragen, welche Zeitformen der Erzähler zur Verfügung hat, um zu GESTALTEN? Es sind drei Zeitformen, zweimal drei Zeitformen:

abstrakte Zeitformkonkrete Zeitform
1. Vergangenheit1. dichterische Z.
2. Gegenwart2. biologische Z.
3. Zukunft3. physikalische Z.

Die physikalische Zeitform ist die meßbare. Anhand des Sternenstandes oder dem des Chronometers beziehungsweise der Sanduhr etc; also Abmessungen im Raum, läßt sie sich konkret bestimmen. Eine Darstellung derselben wäre immer noch dichterisch.
(Christian Morgensterns „Fisches Nachtgesang“ könnte als Beispiel für die Verbindung von physikalischer und dichterischer Zeitformgestaltung herhalten.) Schwieriger wird es für die biologische Zeitformgestaltung, weil diese Zeitform an den Begriff der Entwicklung gebunden ist, an das LEBEN des Einzelnen, so daß es leicht möglich ist, vergangene Entwicklungsstufen inne zu haben und trotzdem ganz Gegenwart zu sein. Genau in diesem Punkt aber berühren sich dichterische und biologische Zeitform, weswegen G. Müller auch zu der Einschätzung gelangt, daß die in Dichtungen waltende Zeit der biologischen verwandter [ist], als die physikalische. Das Biologische ist ans Leben gebunden, somit in erzählerischem Sinne fragmentarisch nur wiederzugeben: Der Erzähler überträgt wiedergebend das von ihm selbst Wiedergegebene. (Darin liegt das ganze Geheimnis der Instanzen, auch der Differenzierung von den verschiedenen Zeitformen.)

Der Erzähler holt sich den STOFF aus allen abstrakten Zeitformen, kann jedoch die Diskrepanz, die zwischen dem Erzählen als Vorgang und dem Erzählten als Gestaltetes, nicht vollends ausfüllen (was u.a. die Joycesche Ausführlichkeit weismachen will). So ist im Genesis-Beispiel die Joseph-Geschichte ein sich selbst erzählender Vorgang, wie TM dies auch feststellt (V 827), der sich zudem außerhalb der Erzählung im Leben der Erzväter abspielte! Die Diskrepanz zwischen Leben, das sich lebt und Erzählung, die ausschnitthaft wiedergibt, kann nicht überbrückt werden! (Wie viele Seiten hätten gefüllt werden sollen, um Josephs Leben in aller Genauigkeit wiederzugeben?) Aber, die Erzählung kann verdichten, kann einen Ausschnitt wählen und vermittels Dehnung ausgestalten. G. Müller kommt abschließend zum Begriff der ZEITRAFFUNG, den er vorschlägt und begründet: Jede Erzählung muß zeitraffende Passagen enthalten, selbst in der höchsten Form von Genauigkeit ist sie zeitraffend. G. Müller stellt fest, daß Zeitraffung intensiviert, die Möglichkeit verheißt, in bestimmte Zeitphasen hineingebannt zu werden: Zeitraffung kann das Erzählte in möglichst genauem Wortlaut wiedergeben oder nachholen Kraft des polaren Bezugs von Erzählzeit und erzählter Zeit.

Werkinterpretationen von Käte Hamburger, Jean Finck und Helmut Beck

Hamburger meint: „Zu den größten darstellerischen Reizen gehört… der Stilunterschied zwischen der pastoralen Naturwelt der Patriarchen und der Kulturwelt Ägyptens.“ Allerdings ändern sich ERZÄHLINSTANZ und Darstellungsweise nicht. Auch in Ägypten leben ca. 1386 v. Chr. moderne (IV 23) Menschen, Menschen, die wilde Tiere domestizierten und vielleicht in „komplizierten ökonomischen Verhältnissen“ leben, was aber nur eine “märchenhafte Staffage“ abgibt für die „religiösen Gefährdungen und Schwierigkeiten, die [die] anmutige Geschichte Josephs“ wiederzugeben helfen. Aber es fällt auf, daß die Darstellung der Geschichte Muts gegenüber den sonstigen Geschehnissen Josephs in Ägypten einen breiten Raum im Gegensatz zur biblischen Darstellung einnimmt: zwölf Verse stehen dreihundertundvier Seiten gegenüber.
Für diese ausschweifende Darstellung einer historischen Vergangenheit bedurfte es eines gehörigen Hintergrundwissens, namentlich in Forschungskenntnissen festzumachen, die der Erzwingung von Wirklichkeit (XI 655) dienstbar gemacht wurden. Ein Bereich von Forschungsergebnissen mußte und muß vollends ausgespart bleiben, der mythische. Dieser darzustellende psychologische Ursprung der Selbstbestimmung der Helden (Jaakob und Joseph) kann auf keinen Forschungsergebnissen fundieren, lediglich exegierende Schriften könnten zurate gezogen werden; was jedoch bestenfalls ein heiteres Vexierspiel von Romanwirklichkeit und Wirklichkeit zuläßt. Aus dem Wechselspiel von Forschungsergebnis und wissenschaftlicher HYPOTHESE mythischer Unwissenschaftlichkeit zieht der Autor eine Spannung, die ironisiert wird. (Humor liegt auf einer anderen Ebene.) Die Forschung wird ironisch pointiert, denn der Mythus lebt in seinem Erzähltsein, in seiner „modernen“ Wiedergabe, kann also über wissenschaftliche Ergebnisse bestenfalls müde lächeln:
Was sollten die bewirken? Würde der Mythus dadurch weggewischt oder vergegenwärtigbarer? Daß sie einen Teil des Mythus, die Vergangenheit, zu vergegenwärtigen helfen kann, das liegt in ihrer Aufgabe. Eben dazu haben Menschen Wissenschaft „erfunden“, daß sie hilft, in der Zeit sich besser zurechtzufinden. Aber, im Gegensatz zum Schwerpunkt des Mythus, der in der Vorvergangenheit liegt und aus dieser in Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit wirkt, versteht sich die Wissenschaft als pragmatisches Korrektiv, als Hilfsmittel zur „Bewältigung“ der Gegenwart, zu dessen Behuf gelegentlich – opportunistisch - das Vergangene herhalten soll. Einen Schnittpunkt der Interessen von Mythus und Wissenschaft bildet die beiden gemeinsame Wirksamkeit in die Zukunft:
WISSENSCHAFT und Mythus haben starke Akzidentialkräfte für die Zukunft, beide wollen und werden in der Zukunft repräsentiert werden! Im Unterschied zum Mythus jedoch kann die Wissenschaft das Vorvergangene nicht vergegenwärtigen. Jedes wissenschaftliche Ergebnis verschöbe bestenfalls die Grenzen des Erkennbaren weiter nach VORN. Die Diskrepanz zwischen dem Vergangenen und Vorvergangenen bliebe, weswegen der Mythus unantastbar für die Wissenschaft bleibt, nicht jedoch für das Empfinden und FÜHLEN des Menschen, der im Feste das Vorvergangene vergegenwärtigt, im Feste und in manchen Erlebnissen der Gegenwart, in der Religion oder auch emphatischen Gefühlsäußerungen atheistischen Naturells. Das ist ganz gleich. In der Religion ist es nur am augenscheinlichsten. Wir befinden uns mitten in der TMs Werk immanenten Frage nach dem Verhältnis von Humor und IRONIE:

Hamburger sieht in Joseph ein „religiöses Hochstaplerchen“, bedingt durch die Intellektuellen-Erziehung, die Jaakob seinem Liebsten angedeihen ließ. Jaakobs Grund: In Zukunft… würde es vielleicht.., nützlich und wünschenswert sein, daß der Gesegnete auch ein Studierter sei. (IV 416) Hamburger bezeichnet es als eine „deutsche IDEE“, durch RATIONALISIERUNG unheimlicher ekstatischer Zustände diesen entgegen zu wirken. SCHÖNHEIT, GLAUBE, Wahrheit, LIEBE oder FREIHEIT: Allesamt sind Gedanken von erhabener Blässe (IV 394), die eben doch nur und bestenfalls zum Verstande reden könnten, nicht aber zum Herzen gelangen, wenn das HERZ nicht dafür empfänglich ist. Allerdings stehen die rationalen Erziehungsinhalte in besonderen Verhältnissen zueinander; sie bedingen einander und dürfen keine Vereinzelung als Weltergreifung praktizieren wollen. Dies zu verhindern, weil auch Dünkel daraus entsteht, ist der Erzieher, ist der pädagogische Philosoph berufen: Wahrheit und Schönheit [z.B.] müssen aufeinander bezogen werden; sie bleiben, für sich genommen und ohne die Stütze, die eines im anderen findet, höchst schwankende Werte. Schönheit… wäre leere CHIMÄRE… (IX 528) - (Chimären entstehen, wenn ein innerer Wunsch einem äußeren Begriff zuvorzukommen glaubt und dies standhaft behauptet, auch wenn die REALITÄT anderes verdinglichte.)
Da es aber eine ausgemachte Sache sein muß, daß der Gesegnete auch ein guter Mensch sei, kommt K. Hamburger dahin, das Thema HUMOR unter solchen ironischen und parodierenden Wortschöpfungen wie „Hochstaplerchen“ zu subsumieren; sie verwechselt hier Ironie und Humor. Ironie ist etwas, daß vom Verstande kommt, Humor aber ist nicht durch kritische Distanz vermittelbar, sondern kommt vom Herzen.

Finck hat sich ausführlich der Differenzierung von Humor und Ironie bei TM angenommen. Er beginnt mit einer Kritik des RATIONALISMUS, setzt SCHOPENHAUER und NIETZSCHE als die Zertrümmerer des Glaubens, als diejenigen, die „das DOGMA von der VERNUNFT als dem tiefsten… Wesensgrunde des Menschen“ zerschlagen. Das Zitat kannte TM, zumindest stand das Buch in seinem Bticherschrank. Schon erhält die Ausbildung Josephs eine andere Konnotation und Jaakobs Bemerkung (IV 416) gewinnt eine ironische Potenz, die sich im späteren Verlauf des Romans entäußert, als Joseph unbewußt der Vettel Mut nachgibt (JÄ!VI. 16), so weit zumindest, daß die zweite Grube gerechtfertigt erscheinen muß. Fincks Prämisse lautet demnach:

Der Mensch muß gedacht werden als “ein dynamisches Drama zwischen Körper, Seele und Geist“, als existierende Einheit und organische Totalität; die cartesianische Trennung zwischen KÖRPER und Geist ist aufgehoben, die DICHOTOMIE in einer GANZHEIT zusammengeführt.

Von dieser Prämisse ausgehend läßt sich die humanistische Grundhaltung TMs erklären, die er über Eliezer Joseph angedeihen läßt und die romanstrukturell wichtig ist - auch im Gegensatz zur Genesisdarstellung der Joseph-Geschichte, in der es keinen Eliezer gibt! -, da in Eliezers Vermittlung des Menschheitswissens ein „erziehendes Bescheidwissen über die profunde GLEICHHEIT und Ebenbürtigkeit aller Menschen“ wurzelt, das in Josephs Erziehung zum prägenden Erlebnis wurde. Aber, statt diesem Humanismus zu dienen, kann man dem Helden ein „tief wurzelndes Abwehrverhalten“ und „Trotz gegenüber den Mitmenschen“ nur bescheinigen, einen Dünkel, der ihn schließlich in die erste Grube führen wird.
Das ist Ironie als Gestaltungsmittel im Sinne eines Entwicklungsprozesses. Der Held muß in die Grube, weil er nicht bis ins Innerste, Tiefste seines Wesens vordrang, zum humanistischen MENSCHENBILD, sondern aus der distanzierten Haltung heraus seine Mitmenschen dünkelhaft betrachtete. Ironie ist's, wenn man nicht bis in den Kern des Menschseins vordringt, aber sich als besser dünkt, d.h., „der ironisch Betrachtende würde zur Hinfälligkeit gezwungen werden“! Dieses ist von TM (beziehungsweise den Brüdern) ganz wörtlich genommen mit dem Ergebnis des ersten Falls losephus. Dünkel basiert auf fragmentarischem Erkenntnisekel (auf Ekel und Angst vor der Tiefe)‚ auf ungleichmäßiger Beleuchtung des Vergegenwärtigbaren. Der Teil wird fürs Ganze genommen, wird zum Charakteristischen stilisiert, was zum WAHN der Überlegenheit führt. (Das ist eine Technik der Weltbetrachtung, auf der u.a. der RASSISMUS steht.) Dies führt zur Ignoranz der Mitmenschen und ist ein Strukturelement auf Josephs Weg, denn Joseph darf es mitunter auch nicht verstehen, daß er in der Grube sitzen mußte; er darf es und er darf es nicht: Weiß er's, ist diese FORM der Ironie als Gestaltungsmittel nicht mehr zu halten, dann wird's ZYNISMUS, bleibt er dabei. (Allerdings ist ERKENNTNIS niemals zu Ende, womit sich ungeahnte Gestaltungsmöglichkeiten für den Autoren eröffnen, denn der Dünkel der einen Grube muß nicht in die zweite führen; das kann ein anderer.)
Finck bezeichnet aber, um den Gegensatz zu Joseph auszudrücken, Mephisto als Zyniker, als denjenigen, der die bewußte Ironie lebt. Ironie aber ist die Blindheit der SEELE, ist nicht der Mann auf dem Felde mit den halbgeöffneten Augen, die sich nur auf das Merkwürdige beziehen wollen: Liebst du die Menschen? fragt dieser Eigenschaften des Teufels [Joseph:Ich habe keine Mutter… Der Mann: Ich auch nicht… (IV 538)] Wir lächeln einander meistens, die Menschen und ich (IV 541), antwortet Joseph. Was ist HOCHMUT? Das.
Josephs disjunktive Antwort, eine ihn selbst enthebende im Sinne der “Gefühlsbegegnung“ mit den Mitmenschen, enthebt den Gefragten dem Kern des Menschseins, birgt Verdichtung der Zukunft, denn Gottes Heilsplan kann keinen Ironiker als Segensträger bestimmt haben? Oder geht TMs Ironie so weit, dies zu behaupten? Die Unsinnigkeit einer solchen Annahme erweist sich schon in der Frage. Im Unterschied zur eben besprochenen Ironie definiert Finck Humor als „wissendes Wohlwollen“, als „gültige Erfahrenheit“, die den gesamten Menschen mit allen seinen Schwächen ernst nimmt, aber unernst wird, wenn es gilt, diese in die eigenen antagonistischen Tendenzen zu stellen. D.h., der Mensch ist auf dem Wege, erfährt und erlebt das Leben. Damit schwindet das Distanzgefühl zum Ideal, zum Erlernten, zur RATIO, zum Heilsplan: Finck aber sieht im Gesamtwerk als Grundthema die Existenzmöglichkeit des wissenden Geistmenschen, die aber im Gegensatz zum Zauberberg nicht gestellt wird, doch immer als Frage mitschwingt. Dagegen: Wenn die Existenzmöglichkeit des Geistmenschen, als den wir Joseph doch immerhin bezeichnen möchten nicht im Heilsgeschehen letztlich die Praktikabilität des Geistes beweisen hilft, dann bleibt für die Charakterisierung des Romans nur Zynismus als Hauptaussage zurück. Schließlich wäre ein Verzicht auf Verwirklichung, auf humorvolles Begehen des Wagnisses Leben, nichts im Sinne eines Weitergehens, eines humanistischen Anliegens.

Fassen wir Fincks Gedanken in bezug auf die Differenzierung von Ironie und Humor zusammen:

  1. Ironie entsteht an der Oberfläche. Sie erfaßt einen Teil vom Ganzen und läßt den Betrachteten ob seiner Hinfälligkeit halbbeleuchtet, halbgeöffnet. Der Ironiker sagt zum Mißverständnis JA unter Vorbehalt, kultiviert demgemäß psychologisches Teilverständnis als Verstehen.
  2. Humor entsteht in der Tiefe des Menschseins. Er erfaßt ebenso einen Teil des Ganzen, einen naturgemäß Unfertigen, ist aber nachsichtig ob der darstellenden Schwäche des Menschseins; der Humorist aber desavouiert die Perspektive des mißverständlichen Verstehens und verlegt sein Verständnis auf das ominöse Später des Paradieses. Er wird vom mitmenschlichen Gefühl getragen, nicht ausschließlich vom Verstande.

H. Beck hat die Ironie als epischem Gestaltungsprinzip bei TM untersucht und ist von folgenden Vorüberlegungen ausgegangen:

  • Ironie ist eine Verstellung, bezeichnet eine Diskrepanz zwischen dem Ausgesagten und dem Aussagenden.
  • Ironie ist als Tonfall ein rhetorisches Mittel.
  • Epische Ironie entsteht, wenn der unvoreingenommene Erzähler vom Fortgang der Geschichte berichtet, ohne scheinbar davon Kenntnis zu haben.

Ein Problem war es für Beck, Ironie im TEXT selbst kenntlich zu machen. Er findet einzelne Passagen, wie z.B. den unerschrockenen Umgang mit Gott oder bemüht H. Mayer, der die calvinistische Haltung Josephs anzeigt, weil der Gott nachhilft und GOTT schulmeistert, indem er sich auserwählt dünkt.
Ist das eine wirkliche oder eine scheinbare Bevormundung Gottes? Zudem kommt noch die Unbewußtheit des Verbessern hinzu; Joseph weiß nichts von einer Gottesvormundschaft. Die Ironie tritt hier als Kunstschein des Tatsächlichen auf. Das ruft die PSYCHOLOGIE auf den Gestaltungsplan, denn worin könnte sich ein distanziertes Verhalten deutlicher zeigen als in der psychologisierenden Gestaltung der Handlungsträger? Muts Ehrenrettung steht neben der parodierenden Abschmeichelung des Ketonet oder dem Stutzenmachen beim Bäumestutzen in Potiphars Garten. Das doppelte Gespräch vor Pharao mit dem doppeldeutbaren Inhalten, mit einem Helden, der die Genesis-VORLAGE psychologisiert, d.h. in allen möglichen Nuancen dem Leser darreicht. Die Traumdeutung in ihrer Rationalität und Plausibilität nimmt ihr das Wunderbare und erhebt sie zugleich; und das sogar doppelterweise im Gefängnis und außerhalb.
All das sind psychologisierende Beschreibungen, die Beck anführt, um seine These zu erhärten, daß die epische Ironie als Gestaltungsmuster letztlich in einem dialektischen Verhältnis zur Psychologisierung steht, was TM dazu veranlassen kann, die Authentizität wiederum zu behaupten. Dem kann man weitgehend zustimmen.

Eine Frage allerdings wird von Beck vollends ausgespart: das Verhältnis von Ironie und Humor. Ironisches und Humoristisches sind ihm Synonyme in der epischen Gestaltung. Das ist falsch. Eine andere Frage ist von Beck nicht einmal ausgespart geblieben, sondern überhaupt nicht erfaßt worden: Welchen Sinn macht epische Ironie?
Der Sinn epischer Ironie wäre leer, würde er in der Parodie oder dem Ironisieren des Bekannten liegen. Die Becksche Anfangsthese von der scheinbaren Unkenntnis des Erzählers über den Fortlauf des Romangeschehens halte ich ebenso für unhaltbar. Sie ist haltbar bis zum romantheoretischen Bekenntnis TMs (V 823 ff.). Nachdem auch dem letzten Leser klargeworden sein müßte, daß TM keine umerzählte Neuausgabe des Geschehens im Sinne trägt - Kennen wir unsere Geschichte, oder kennen wir sie nicht? … Der Erzähler, wird man finden, soll in der Geschichte sein, eins mit ihr und nicht außer ihr, sie errechnend und beweisend. (V 827) -, fällt die These dritte Becks in sich zusammen, denn von nun an kann im Roman von einem auch nur scheinbaren Unwissen seitens des Erzählers nicht mehr die REDE sein.

TM spielt mit der Wirkung des Gedankens der „Rollenden Sphäre“ der Erzähler ist zwar in der Geschichte, aber er ist nicht die Geschichte, er ist ihr Raum, aber. sie nicht der seine, sondern er ist auch außer ihr, und durch eine Wendung seines Wesens setzt er sich in die Lage, sie zu erörtern (V 827).
TM bestreitet die IDENTITÄT von Geschichte und Erzähler, läßt aber keinen ZWEIFEL daran, daß die Geschichte zur Genüge sattsam bekannt ist. Darin liegt Ironie als Gestaltungsmuster - eingebettet in den Raum des Sichselbsterzählens der „Rollenden Sphäre“ -, nicht in dem Vorgaukeln scheinbarer Unwissenheit des Ausgangs oder des Verlaufs! Ebenso füllt der GEDANKE einer ironisierenden Distanz in sich zusammen, wenn der Erzähler in der Geschichte ist, nicht draufsieht.
Verwirrend an der Beweisführung der Beckschen Thesen ist nur, daß er bei der Stoffwahl TMs drei Gründe psychologischer Natur angibt, die alle drei auf sympathetischem Grund stehen:

  1. Liebe zu Ägypten,
  2. Auflehnung gegen die Nazi-Ideologie und
  3. der Reiz, in Goethes Spuren zu wandeln.

Ginge man in der Beweisführung von diesen Gründen aus, käme man schnell zur Differenzierung von Ironie und Humor beziehungsweise zur Bedeutung der Ironie innerhalb des Gestaltens.

Also steht es nicht zu befürchten, daß die Wissenschaft den Mythus aufhebt, weil er ihr aus eben der gegensätzlichsten Wesenheit nicht paßt, nicht passend gemacht werden kann: von den rührseligsten Vermittlern nicht. Es steht eher zu erwarten, daß der Mythus die Wissenschaft verwirft, da sie Ungeheuerlichstes zuwege gebracht; allerdings würde eben der Mythus auch die Wissenschaft wieder ins Leben rufen, denn die Wissenschaft gehört zum Mythus, zur Wesenheit des Menschen.
Was die Wissenschaft dementsprechend leisten kann, ist die Faktizität des Details, das einfließt in den Fluß des Mythus, Geschichte geheißen, aber niemals den Mythus erfassen hilft. Ihn zu erfassen hieße, ihn leugnen. Das ist die Trennung zwischen der rationalen Erfahrbarkeit von Welt und der Wirklichkeit. Die Diskrepanz könnte nicht größer sein. Deswegen Ironie als Gestaltungsmittel: „Indem er die … verwirklichten Gestalten und Begebenheiten an der über sie bekannten und ihrerseits erörterten Überlieferung vergleichend mißt, nimmt er sie von ihrem Wirklichkeitsanspruch nicht ganz ernst, aber wiederum auch nicht die Überlieferung in ihrem Anspruch, die autochthone Quelle des Wissens … zu sein“.

Wenden wir uns wieder dem Text zu und vergleichen, wo TM die Vergangenheit der Bibel benutzt, um sie in der Romangegenwart zu vergegenwärtigen: Da ist v.a. das Gespräch mit Pharao zu nennen. In der Bibel sechsunddreißig Verse, im Romanwerk vier Kapitel, ungefähr achtzig Seiten lang. Es geht TM darum, in aller Genauigkeit festzuhalten wie es sich damals zu On in Unter-Ägypten wirklich begeben. (V 1479) Auf diesen vergleichsweise vielen Seiten steht die Zeit relativ still, erzählte Zeit und Erzählzeit decken sich und sind gleichzeitig gedehnt, denn die Schwierigkeit des Stoffes zwingt den Leser, sich der besprochenen Inhalte durch Einhalten selbst zu vergegenwärtigen, d.h., er setzt mit dem Lesen aus und bedenkt das Besprochene. Das sind zwei Beispiele (MUT und Pharao-Gespräch), die zwingendsten, zur Beweisführung einer strukturierenden Tatsache der Zeitgestaltung im Romanwerk, der Auserzählung von knappster Darstellung in der Genesis. Der Unterschied zwischen den gewählten Beispielen liegt in der Dauer des Erzählten. Ist einerseits die Mut-Novelle auf dreihundertundvier Seiten Gestaltungsthema über einen Zeitraum von sieben und drei Jahren, so gestaltet sich das Gespräch, wie der Name es schon bedeuten mag, als ein Kontinuum, als Zeitzusammenhängen weniger Stunden, aber doch immer noch so lang, daß Jaakobs Sohn.. .vom Stehen vor Pharao schon fast so müde [war], wie er einst gewesen…, als er den Stummen Diener hatte abgeben müssen für die Alten im Lusthäuschen. (V 1454)

Damit ist zweifelsohne auf die Wirkung der Zeit in zweierlei Hinsicht angespielt:

  1. die Vergegenwärtigung eines bereits Geschehenen (JÄ IV/5) und
  2. die unmittelbare (romangegenwärtige) Wirkung des Stehens vor Pharao, wodurch auch die Anstrengung des Stehens in der Zeit (das Anstrengende des NUNC STANS) angedeutet werden könnte, denn schließlich muß die Bedeutsamkeit des Gesprächs für Joseph sich auch irgendwie in einer körperlichen Anstrengung widerspiegeln. Das erwartet der Leser.

Heftrich meint zudem, daß die Ermüdung nicht nur auf die physische Anstrengung durch langes Stehen zurückzuführen sei, sondern v.a. auf die „inhaltliche Anstrengung“ des ständigen Wiederholens von Joseph bereits Bekanntem.

Sujetbestimmung nach Fricke/Zymer

Eine grundlegende Untersuchung im Sinne Fricke/Zymers käme zu folgendem Ergebnis in bezug auf die allgemeingeltende Erzählsituation beziehungsweise Erzählperspektive in der Joseph-Tetralogie:

- vorherrschendes Telling (Diegesis) mit vorwiegend kommentierenden Einschnitten.

Beispiele: Aber es war ein Mißverständnis, denn auch jener für seinen Teil legte sich in seinem Schlafzimmer nieder und machte die Kunst der Ärzte zuschanden mit seiner Krankheit, die Liebe war. (V 918)

Oder, um den vorgreifenden Charakter gelegentlichen Kommentars zu illustrieren: Der Preis war gepfeffert, zumal da der Alte sehr recht getan, den wildwüchsigen Askalotten und dem stark populären Fenechierwein den Charakter der Zuwaage zu geben und eigentlich die ganze Forderung auf den Jungsklaven Osarsiph zu rechnen war, - eine dreiste Bewertung, selbst zugegeben, daß von den Siebensachen der Reisehändler, die berühmten Myrrhen nicht ausgenommen, nur diese eine den Transport nach Ägypten lohnte, ja, selbst, wenn man die Dinge unter dem Gesichtswinkel betrachtet, daß der ganze Handel der Ismaeliter nur eine Zugabe war und ihr alleiniger LEBENSSINN darin bestand, daß sie den Knaben Joseph hinab nach Ägypten brächten, damit sich die Pläne erfüllten. (V 809)

Der Erzähler reflektiert über den Verlauf der Geschichte, kommentiert das bereits Geschehene, greift vor und schaut aufs Vergangene und redet mit dem Leser, den er zur gedanklichen Mitarbeit auffordert, als ob es die Zukunft des Romangeschehens gemeinsam zu gestalten gäbe. Er ist immer anwesend und bevorzugt die auktoriale Erzählsituation als typisch epischer Darstellungstechnik.

Beispiel: Hier ist nicht viel abzustreiten und viel zu verzeihen. Wir brauchten nur den Blick zwischen Renenutet, der Rindervorsteherin, und einem bestimmten, recht schmucken Unterbefehlshaber der königlichen Leibwache, ja, außerdem… Es ist nicht unsere Sache, sittenrichterlich den Stab zu brechen über Wese - solche große STADT… (V 1008)

Das Zitat belegt zudem die vorherrschende Außensicht, die aber gelegentlich mit der Innensicht wechselt, scheinbar wechselt, denn wie das obige Beispiel zeigt, wehrt sich der Autor dagegen, ein Werturteil abzugeben oder überhaupt seine persönliche MEINUNG einzubringen; es sei denn, es ist für den vorgegeben Verlauf der Geschichte bedeutsam. In diesem Spiel ergeben sich ironisierende, v.a. aber irisierende Möglichkeiten, auf die der Autor nicht verzichten mochte und die zum Wesen seiner Darstellung gehören, denn er will das Vergangene gegenwärtigen, was schlecht dazu passen kann, es in irgendeiner Weise durch persönlich gefärbte Wertungen zu diskreditieren oder auch zu loben.

Fassen wir das Frickesch/Zymersche Schema zusammen, so ergibt sich folgende Grundbezeichnung für die Joseph-Tetralogie:

  • telling/SHOWING Aa Ab
  • Ich-Erzählung/Er-Erzählung Ba Bb
  • Innen-/Außensicht Ca Cb.

AA+BB+CA/CB=OLYMPIERBERICHT/RECHERCHEROMAN.

Jürgen Hohmeyer fand für das Gesamtwerk zwei Zentren der Erzählsituation:

  1. Orientierungszentrum im Erzählakt (d.i. die auktoriale Erzählsituation)
  2. Orientierungszentrum liegt in der erzählten Welt (d.i. die personale Erzählsituation).

Er bezeichnet deshalb den Roman als Vermischungsroman von Ich- und Er-Erzählung. So sieht er Jaakob gleichsam durch das Erzählen erst erschaffen. Es sind die Verben innerer Vorgänge, die äußere und innere Vorgänge kausal miteinander verknüpfen und so fiktive Realität erschaffen. Besonders die Funktion der Adverbien macht anschaulich, daß im Gesamtwerk die erzählte Schicht gegenüber der Erzählschicht vorzeitig zu nennen ist. Das ist insofern bedeutsam, als im ersten Teil (GJ) der Erzählrahmen eine Schichtung zur Folge hat, was in der eigentlichen Josephs-Erzählung (Bände 2-4) dann nicht mehr der Fall ist, da eine sukzessive ERZÄHLWEISE bevorzugt wird. Im Jaakob-Teil dagegen erschafft sich der HELD durch das Erzählte und fällt im Erzählen immer wieder in die Vergangenheit, aus der die deiktischen Adverbien (einst, damals, heute) den Kausalzusammenhang mit der Romangegenwart herstellen, Jaakob konstituieren. J. Hohmeyer kommt hinsichtlich der Romantypus-Bezeichnung zu folgendem Ergebnis: „Die Joseph-Tetralogie erscheint aufs ganze gesehen, als ein seiner epischen SUBSTANZ nach fiktionales Erzählwerk, das aber durch auktoriale Zusätze [strukturelle Veränderungen der Erzählsituation und stofflich-thematische Bereicherungen durch die Essays] (die Einmischungen des Erzählwerks) eine besondere Ausprägung erhält.“

Man könnte nunmehr andere Kriterien aufstellen und im Romanwerk Beispiele finden, z.B., ob es eine Rahmenerzählung (möglich in GJ nachzuweisen) gibterzählungen (z.B. die Mut-Novelle, die Thamar-Geschichte) oder inwiefern der Erzählstrang vom Autor durchgehalten wurde (Bedeutung der Essays im Romanwerk). Allein, eine solche Arbeit würde in diesem Falle ins Unermeßliche führen und gehört nicht in den engeren Rahmen der Aufgabenstellung, soll also mit den Klammerbeispielen zur Genüge abgehandelt sein. Was im Sinne der Aufgabenstellung nunmehr interessieren soll, ist die Vergegenwärtigung des Vergangenen und Vorvergangenen, die Verbindung von Mythus und Psychologie, die TMs Leitthema im Romanwerk sein dürfte, was nichts anderes bedeutet, als die Bedeutung der Zeitgestaltung für die beabsichtigte Aussage der Romantetralogie zu untersuchen.

Zusammenfassung der vertiefenden Analyse

Weil die Geschichte da war, bevor jemand über sie reflektieren konnte, muß sie chronologisch wiedergegeben werden. Aus diesem Grunde überrascht es nicht, daß in werkinterpretierenden wissenschaftlichen Arbeiten v.a. auf das Verhältnis von Mythus und Psychologie und der damit zusammenhängenden Frage der Pointierung, also dem Verhältnis von Humor und Ironie gefragt wurde.
So kann G. Müller anhand des Gesamtwerks seine These von der Zeitraffung entwickeln, während K. Hamburger v.a. gestalterische Absichten TMs hinsichtlich des Stilunterschieds zwischen pastoraler Naturwelt der Patriarchen und der Kulturlandschaft Ägyptens betont.
Diesen Stilunterschied wiederum setzt J. Finck in einen psychoanalytischen Kontext und untersucht das menschenkonstituierende (nicht in einem rassischen, sondern in einem charakterlichen Sinn) Verhältnis zwischen Naturkind und Kulturmensch. Er kommt zu dem Ergebnis, daß das Dogma der Vernunft sowohl damals, als auch heute menschheitskonstituierende Gültigkeit besitzt, womit er letztlich TMs Absicht von der Vergegenwärtigung des mythisch Vergangenen/Geschehenen als möglich zustimmt.
H. Beck hat es unternommen, diese Gestaltungstechnik der Vergegenwärtigung als episches Kriterium nachzuweisen. Ihm ging es darum, das dialektische Verhältnis zwischen epischer Ironie und Psychologisierung, also die Authentizität der Romanfiguren aufzuzeigen.
Mit der Romansujetbestimmung nach Zymer/Fricke sollte dieser Teil der Arbeit abgeschlossen werden, doch erwies sich deren Schema als unzureichend, denn es ist sowohl möglich, TMs Werk als Rechercheroman zu bezeichnen und auch als Olympierbericht. Deshalb zog ich noch J. Hohmeyers Arbeit heran, der diese Doppelbenennbarkeit auflöste, indem er das Werk einen Vermischungsroman von Ich- und Er-Erzählung nennt.

Der nächste Teil der Arbeit soll die Frage beantworten, wie die Zeit, als ein Leitthema, Gestaltung fand:

IV. Verdichtete Betrachtungen über die Zeitgestaltung im Josephsroman

Erneuerung! Unter diesem Stichwort läßt sich das Gesamtkonzept zusammenfassen. TM wollte die Genesis-Geschichte mit allen modernen Mitteln erneuern und erzählerisch frisch hervorbringen. (XI 654) Manns Arbeit stellt sich also dar unter dem Motto der Ausgestaltung (XI 654). Auszugestalten war das Goethe-Wort von der zu kurz geratenen Geschichte, die in allen Einzelheiten auszuführen sei. Wie aber sei dies zu vollziehen?
Die Antwort besteht für TM darin, das längst Vergangene näher heranzurücken, obwohl er von der Täuschungstatsächlichkeit dieses Prozesses weiß, will er den Kunstschein mit allen Mitteln der Sprache und Psychologie (XI 655), allen modernen Mitteln eben, in fiktiver Wirklichkeit aufgehoben wissen. Das eigentliche Interesse lag aber nicht in der Beantwortung dieser technischen Frage, sondern in einer psychologisch-zeitgemäßen, einer merkwürdigen Koinzidenz von persönlichem Interesse am allgemein Gültigen, zeitlos Gültigen - bedingt durch das eigene Lebensalter, das ein INTERESSE am Mythischen und Typischen bedinge - und dem allgemeinen Interesse an Ur-Normen, die zu Menschheitsfragen führen (beide XI 656). Der Josephsroman sollte also führen zu einer humoristisch getönten, aber ironisch abgedämpften… verschämten Menschheitsdichtung. (XI 657) Aus dieser Absicht lassen sich Fragen formulieren:

  • Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Wiederkehr des Gleichen (eine mögliche Formel des Mythischen) und der historischen Situation?
  • Wie wirkt sich dieser Zusammenhang auf die Zeitgestaltung aus?

Entscheidend dürfte die Auseinandersetzung mit ROSENBERG werden - wenn wir uns vorstellen, wir stünden am Anfang des Unternehmens -, den TM als obskuranten Gegenrevolutionär bezeichnet. Es muß also gelingen, den Mythus bis in den letzten Winkel hinein durch Sprache (beide XI 658) zu humanisieren. Wieder steht ein persönliches Interesse mit einem überpersönlichen beieinander: TM will Kontaktnehmen mit dem Mythus, ihn nicht der „Dunkelheit“ (obscuritas) überlassen, sondern ans Licht des Humanismus führen durch Vergegenwärtigung. Die dazu verfügbaren Hilfsmittel sind die der modernen Wissenschaften, vermittels derer der moderne Mensch die Möglichkeit erhalten soll, das längst Vergangene zu verstehen, als ob es heute geschähe. Der metaphysische Grund dieser Annahme liegt in TMs Uberzeugung, daß das moderne INDIVIDUUM nach hinten offen steht; seine Identität demnach die Möglichkeit bietet, Vergangenes aufzunehmen.
Deshalb steht zu Beginn die Brunnenfahrt in die Untiefe mythischer Vorvergangenheit, ein phantastischer ESSAY. Der Essay soll sein eine anthropologische Overtüre zum Gesamtwerk, soll sein eine Reise zu den Müttern. Der Brunnenfahrt folgt Das schöne Gespräch und leitet über in den ersten Band, der im Gegensatz zur Chronologie der Genesis sehr verschichtet daherkommt, was TM so erklärt, daß die Geschichte Abrams es verlangte, wenigstens in die Perspektive mit aufgenommen zu werden, wodurch die vergleichsweise komplizierte Schichtung erklärbar wird. Deswegen ist der erste Teil vorwegnehmend und zurückgreifend (alle XI 659) zugleich, im Gegensatz zu den weiteren Bänden.
Eine Ausnahme bildet hierin nur die Thamar-Geschichte, mit der es eine eigene Bewandtnis hat; sie ist die markante Frauengestalt des vierten Bandes, das weibliche Paradigma der Entschlossenheit. (XI 662) Ihre Geschichte ist als geschlossene Novelle (XI 662) in das Gesamtwerk eingebettet. Thamar, die verblüffendste Figur dieser ganzen Geschichte (V 1563), ermöglichte TM den erneuten Zugriff nach längerwährender Beschäftigung mit anderen Werken (Lotte in Weimar; Die vertauschten Köpfe). Thamar diente auch dazu, die befürchtete anti-climax zu durchbrechen (XI 678), die zwischen Joseph in Ägypten und Joseph, der Ernährer zu entstehen drohte.

Eine nächste wichtige Frage ist die Stoffwahl: Warum benutzte TM die jüdisch-christliche Erzväter-Geschichte?

Er selbst gibt folgende Auskunft: Das JUDENTUM ist nur Vordergrund und Stilelement (XI 663) für die Darstellung der menschlichen Einheit, die als Einheit imaginiert werden soll. (XI 664) Joseph tritt uns als mit vielerlei Mythologemen behaftet entgegen, trägt gleichermaßen ADONIS, Tammuz oder später die HERMES-Rolle zur Schau. Der eigentliche Reiz des Mythologischen liegt aber für TM in der Darstellung menschlicher Schwächen, die zum ersten Mal geschahen. Mit dem metaphysischen SALTO MORTALE, der Sphärendrehung, will er diese Schwächen (Liebe, NEID, HAß, Mord), die zuweilen auch Stärken sein können, als Abbilder des ewig Menschlichen im Bewußtsein der Leser (gegenwärtigen Menschen) transponieren und aufsuchen, denn der mythische Charakter sucht im zeitlosen, mythischen Schema seine Würde (beide XI 665), d.h., der Mensch entdeckt sich immer wieder neu und muß dies aus Gottessorge auch tun, um nicht sündhaft am Veralteten festzuhalten.
In Josephs Werdegang will TM ein Exempel statuieren für die Menschheit. HOFFNUNG, Warnung und Gewißheit sprechen sich aus im symbolhaften Charakter Josephs, der aus seiner INDIVIDUATION heraus zurückmündet ins Kollektiv, das zusammenwirkt, weil es aus freien und unterschiedlichen Nationen unter dem ZEPTER des Rechts besteht. (XI 667) Gott nämlich benötigt zu seiner eigenen Entwicklung den Menschen; er trägt Sorge für den Menschen, daß der sehen möge, was die Glocke geschlagen hat (XI 668), daß der die Zeichen der Zeit erkennt und den Pulsschlag der Weltenstunde hört, der Forderung des Äons nachkommt und nicht, gleich Laban oder Potiphars Eltern, am Alten und Vergangenen festhält. In diesem Sinne formuliert TM sein Postulat für die Zukunft, daß man nämlich nach den Dummheiten der Vergangenheit den Frieden als Gottesklugheit gewinnen möge! (XI 669) Um die Befindlichkeit des DUMMHEIT überwinden werdenden Menschen hinsichtlich der Gottesklugheit zu verfeinern, sei der Mythus zu traktieren, der eben das ewige Wissen um die HUMANITÄT, die Aufgabe des Menschengeschlechts enthalte. Das im übrigen unterscheidet TM von R. WAGNER, der pathetisch dem Mythus gegenüberstand und verbinde ihn mit Goethe, der lächelnd ob der ewigen menschlichen Schwächen, nicht an der Aufgabe des Menschengeschlechts zweifelte. (XI 677)
Die Höllenfahrt als mythischer Beginn des Romanwerks stellt den Anfang des Menschengeschlechts dar, ist die Overtüre des Menschseins. Die Möglichkeit überhaupt, das alles zum ersten Mal geschah, Liebe, Mord und Betrug - all die kleinen und großen Schwächen und Stärken des Menschen -, war ihm ein Anlaß, diese Anfänge, die in der Tiefe liegen, aufzusuchen und mit dem Herzen, d.h. humoristisch zu befragen. Deswegen die Form des Essays. TM wollte Kontakt nehmen mit dem Mythischen, persönliches und sachliches Interesse (Zerschlagung der Dunkelmänner) verbinden, indem er Licht in die Sache brächte durch Kontakt, durch „empirisches“ Erleben, denn eines ist dem Menschen gewiß, daß er nach hinten offen steht, also auch Neues erleben kann und für sich nutzt.
Das Judentum bot sich als Nurvordergrund der eigentlichen Idee von der menschlichen Einheit dar, die nunmehr aber als Einheit imaginiert werden soll. Das ist die Aufgabe des Werkes, diese Einheit beschleunigen zu helfen.

Thesen

TM will eine Geschichte, eine längst bekannte Geschichte mit modernsten Mitteln, sowohl geistigen als auch technischen, erneuern und dem Leser frisch hervorbringen. Sein Motto lautet: Ausgestaltung! Das ist die erste These. Die Realisation erscheint ihm aber problematisch. Sie muß Täuschung und SPIEL bleiben. Der HUMOR als Gestaltungsingredienz kommt in diesem Spiel in jedweden Kommentaren zum Bibelgeschehen zum Ausdruck, gehört zum Spiel. Joseph ist v.a. eine humorgetönte Figur, die ironisch abgedämpft wird. (XI 657)

TM ist nicht der Autor des Erzählten, das Werk erzählt sich selbst. In diesem Sinne sind die Erörterungen des Dichters/Erzählers zu verstehen. Auf die hypothetisch gestellte Frage nach dem Grund des Interesses gibt er an, daß ein gewisses Lebensalter zwangsläufig ein Interesse am Mythischen oder Typischen, was ihm Synonyme des Menschheitlichen sind, wachruft. Es sind die immer wiederkehrenden Ur-Normen, die im Vergleich mit dem Gegenwärtigen eine neue Ebene der Beschäftigung mit der Gegenwart versprechen, was bei ihm persönlich zur Erhöhung der künstlerischen Stimmung führte. Die konkrete historische Situation seiner Zeit wirkte naturgemäß in das Werk hinein. Der Mythus sollte traktiert werden, um Rosenberg ‚ dem Präzeptor Hitlers (XI 658) die obskurante Gegenrevolution zu vermiesen, den Mythus im Lichte erstehen zu lassen, statt in die dunklen Tiefen des blutgetränkten Bodens verschwinden zu sehen. Das ist die zweite These.

Mythus lebt durch das FEST, die Vergegenwärtigung. Das Fest aber gilt es durch den gegenwärtigen Menschen zu gestalten. Daran ist die Gottessorge geknüpft. Gott benötigt für seinen Weltplan den Menschen, der sich entwickelnd ihn selbst entwickelt. Gott steht nicht still. Der Gott, der Abram noch ein Menschenopfer (beinahe) abbedang ist nicht mehr der Gott des Neuen Testaments. Er ist es und ist es nicht. Gottes Sorge geht dahin, daß die Menschen das Veraltete für richtig halten und danach leben. Es gilt aber die Übereinstimmung zwischen Gott und den Menschen herbeizuführen. Der Mensch muß sehen, was die Glocke geschlagen hat, welche Äonenstunde, welche Weltstunde angebrochen ist und muß danach handeln. Dies ist der philosophische Ur-Grund der Joseph-Tetralogie, ein epischer Gegenentwurf Schopenhauerscher Konvenienz gegen den Nationalsozialismus, der TM zufolge auf Hegelschen Dialektik-Gesetzen steht; quasi notwendige Folge dieser Gesetzlichkeit ist. Das ist die dritte These.

Für unsere Aufgabenstellung ergibt sich daraus die NOTWENDIGKEIT der Kenntnisnahme Rosenbergs (weiter als AR). Im weiteren soll die Forschungsliteratur befragt werden, wie TM den Mythus vergegenwärtigte. Diese soll zur Beweisführung der ersten These befragt werden. Für die zweite These ist die Lektüre „Mythus des 20. Jahrhunderts“ notwendig und hinsichtlich der Mythus-Formulierung zu excerpieren. Der Vergleich des Mythus-Begriffes könnte schon zu einer Antwort führen. Für die Beantwortung und Beweisführung der dritten These ist die Kenntnisnahme Schopenhauers nötig.

Rosenberg und TM

In „Mythus des 20. Jahrhunderts“ schreibt AR über TMs Haltung in bezug auf das Friedens-Diktat von VERSAILLES 1919, daß dieser „keinen Protest im Herzen“ (S. 444) getragen habe. Damit ist die grundsätzliche Ablehnung TMs durch AR gegeben und gleichzeitig ihr irrationaler Grundcharakter deutlich geworden.
Protest aber bleibt leer, höhlt den Menschen aus, wenn er die Wut, die ihm folgt, nicht rational auflöst im Verständigungswillen. Doch wie sollte VERSTÄNDIGUNG möglich sein, wenn im Herzen der Protest verankert ist? Protest sollte vielleicht vom Herzen ausgehen, doch nicht sechzehn Jahre später immer noch die Grundlage der Auseinandersetzung bilden.
Der zweite Vorwurf an TM bildet dessen Zusammenarbeit mit der jüdischen Presse, will heißen mit dem „Berliner Tageblatt“, dessen HERAUSGEBER ein Jude gewesen. Es konnte ein Vorwurf für AR sein, da der Nationalsozialismus, als dessen ideologischen Begründer er sich ansah, rassische Grundlagen besaß, die AR selbst bereits 1922 folgendermaßen formulierte: „Wir erkennen Geschichte nicht mehr an als ‚ewige Entwicklung der Menschheit‘, sei es zur Humanität, …sei es zu einer irgendwie vorgestellten Menschheitskultur, auch nicht als rohen KLASSENKAMPF, sondern als eine Auseinandersetzung seelisch-rassischer Mächte mit ihrer Umwelt und anderen Rassen.“ Die v.a. ins Auge gefaßte feindliche Rasse waren die Juden, die AR als die Finanzgewalt des Auslands betrachtete und als deren deutschen Kompagnon er TM begriff (S. 444) Wir erkennen in ARs Ansatz die andere Seite in bezug auf TMs Humanismus! Aber vorerst noch vertiefende und angewandte Forderungen des Münchner Ideologen:
AR betrachtet den Mythus als zeitgegeben! Er begründet es mit der Unmöglichkeit „alle Richtungen des ICH“ (S. 459) zusammenfassen zu können. Statt dessen weist er bestimmten Zeitaltern ein sie tragendes Mythologem zu, den GRIECHEN z.B. weist er das Mythologem des APOLLO zu, als einem der Schönheit, in dem zudem KRAFT Ausdruck eines Lebenswillens ist. Dieses Mythologem entstand aus dem Selbstverständnis, in dem sich der Grieche, dessen Herkunft AR germanischen Ursprung zuweist, als einen Ausdruck der Stärke Zeusens und der Schönheit Apolls begriff. Der altgriechische Ursprung sei mütterlich (Nacht, Erde, Tod), das habe zuerst GÖRRES in seiner Polaritätsidee (Mann gegen FRAU) als weltgeschichtlichen Kampf ausgesprochen. Nach dem SIEG des germanischen Lichts kam aber aus den Sümpfen des Nils, den Gewässern Kleinasiens und den Wüsten Libyens vernichtendes Mutterrechtsgedankengut und vernichtete den eigentlichen Griechen, die Verbindung aus nordischer Gestalt und Ur-Griechen. (S. 41.) An diesem Beispiel sollte der Argumentationsverlauf ARs deutlich gemacht werden. Im gesamten Buch hielt er sich daran und ließ in einer kontinuierlichen Entwicklungslinie nunmehr sämtliche Epochen der Weltgeschichte anhand dieser Folie REVUE passieren. In diesem Zusammenhang fällt auch die Verneinung Spenglers auf, der einige Jahre zuvor (1918 bis 1922) ebenso eine morphologische, phylogenetische Betrachtung über die Entwicklungsgesetze der WELTGESCHICHTE schrieb, „Der Untergang des Abendlandes“.
Spengler, der auf TM zunächst (bis 1924) eine große Wirkung ausübte, wird folgendermaßen abgehandelt: Er prüfe nicht die rassisch-organische Entstehung der Kulturkreise, in denen Geschichte konstruierbar ist ‚ sie seien ihm einfach „auf die Erde gefallen“ (S. 403.). Spengler verbinde, laut AR, naturalistisch-marxistische und vorderasiatisch-magische Denkansätze, die er unter dem faustischen Mantel subsumiere, was zu unabänderlichen Folgen für das Kommende führe. Allerdings sehe Spengler zurecht nunmehr das Zeitalter des rassischen Denkens angebrochen, habe also „heimgefunden zu urewigen Werten“ (S. 404.).
Einen Ur-Mythus sieht AR im Judentum verwurzelt. Der Anfang des Judentums liege in Jakob58, darin, daß das erdenschwere Wesen Ahasvers sich an das erlahmende GEMÜT hänge (ISRAEL, d.i. „Gott kämpft“ und verliert; zurück bleibt ein lendenlahmender Jakob!), dessen Kinder an der “goldenen Fesselung“ der anderen wirken, seitdem. Das Wesen des Judentums sei es fortan, sich den Vorteil zu erschleichen, nicht zu erstreiten. Es sei die Sache der Juden seither immer gewesen, durchs „Zusammenballen aller Kräfte auf das irdische Wohlergehen“ (S. 272.) zu wirken. Dies sei eine amoralische Geisteslage, denn sie ziele auf Vorteilsdenken. Daraus schlußfolgert AR die Herrschaft des Zinses im Falle der Herrschaft der Juden in der Welt, die „Schmarotzerherrschaft“ (S. 460f.). In Joseph, dem Sohne Jakobs, eröffne sich der ausdrückliche Mythus des Judentums, der Auserwähltheit lautet und nach der indirekten Weltherrschaft strebe.
Indem AR diese Grundlegung des Judentums setzt, ist der Feind schon vorgegeben. Gegen den Mythus setzt AR den des 20. Jahrhunderts, den deutschen Mythus: „Fritzischer Ehrbegriff, Moltkes Zuchtmethode und Bismarcks heiliger Wille“ (S. 522.). Wohlgemerkt, dies ist der Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Bewegung, der in der Befreiung vom Judentum, das für AR mit der Zinsherrschaft gleichgesetzt wurde, gipfeln soll. Zu diesem Kampfe ist nicht in erster Linie eine Überzeugung Voraussetzung, sondern das Blut. Es zeichnete sich in der Darstellung ARs schon ein wesentlicher Unterschied der Mythus-Auffassung gegenüber TM ab. Kann AR den Mythus modifizieren, indem er epochenbewußt, d.h. „naturalistisch-marxistisch“ (S. 401.), die Grundfragen der EPOCHE analysiert und eine bestimmte Hauptaufgabe feststellt, die er im „deutschen Mythus“ festzumachen glaubt, so kann TM dies nicht, denn seine Weltauffassung steht nicht auf naturalistischen Füßen oder marxistischen, gar darwinschen - was an sich schon ein Bonmot in bezug auf AR sein muß, denn welche Ironie liegt darin: die Nazi-Ideologie läßt sich marxistischen Entwicklungsgesetzen gemäß erklären!60 -, sondern auf Schopenhauers, der zudem der große Intimfeind Hegels gewesen. Ein Streit des 19. Jahrhunderts wird so auf furchtbare Weise im furchtbareren, weil technisch weiteren 20. Jahrhundert fortgesetzt.

Thomas Mann und Schopenhauer

Was dies bedeutet, sei kurz vorgestellt:
In Schopenhauer-Aufsatz von 1938 stellt TM seine philosophischen Grundlagen sicher. Es ist das philosophische Schema, das seinem Josephsroman untergeschoben werden kann. Nicht umsonst beginnt TM mit einer differenzierten Betrachtung vom Wesen des Geistigen und bemerkt konterkarierend zu AR, daß MORAL entsteht, wenn das Sinnliche zugunsten des Geistigen entwertet wird. Das ist der mythopoetische Grund, auf dem die Erscheinung nur durch die Idee verwirklicht werde (XI 533). Die ERSCHEINUNG ist ein Bild, das durch die Zeit bewegt wird. Das ist der Mythus! Die BEWEGUNG durch die Zeit, das bewegte Bild der Ewigkeit (XI 534), zeitigt verteilte und verstückelte Ansichten des Ewigen, darin das Spiel der KUNST, die sich drehende Artistik, die Abbildlichkeit des Ewigen im Detail. - TM spielt hierbei mit der Idee vom PATHOS der Mitte, worin er das Wesen der Ironie definiert. Die Mitte, das ist jener Raum, der das Mittlertum des Künstlers ausmacht, jene Spielwiese des Artisten, der zwischen Geist und Leben vermitteln will, da er sich beiden Formen zugehörig fühlt. In dieser Vermittlung findet der Mensch die höchstmögliche Objektivation des Willens (XI 569), im künstlerischen Zustand findet der Mensch Erlösung vom LEIDEN des Lebens.
Schopenhauer verbindet somit romantische und emotionale Vorstellungen: Romantisch ist die Vorstellung der Erlösung im Künstlerischen, das Erfüllung nur dann findet, wenn die Form mit dem Vorgestellten Übereinstimmung findet und emotional ist die scheinbare Loslösung von der unmittelbaren Willensabsicht des Lebenmüssens. Es geht um glückliche Augenblicke, um Verwirklichung des Menschseins. Diese sind sich ähnlich seit Menschengedenken, so daß bestimmte Bilder durch alle Zeiten wandern, gleichsam als mythologische Bilder… die Fron des Willens beschreiben. (XI 574) Fron, d.i. ein Ausdruck des Leidens. Die Kunst vereinigt beide Sphären, Leben und Geist. In diesem Punkt trifft sich Schopenhauer mit Goethe:

Denn das Leben ist die Liebe
und des Lebens Leben - Geist. (aus der Suleika)

Allein dieser Spielcharakter des Mythischen trennt TM grundsätzlich vom kämpferischen Charakter ARs, der immer das Vorwalten einer das andere bezwingenden Idee als Grundthema des Weitgesangs auszumachen glaubte (genau wie bei den hundert Jahre vorher streitenden „Archetypen“ HEGEL und Schopenhauer). Der Mensch aber ist den drei Formen der menschlichen Erkenntnis unterzuordnen, Zeit, Raum und KAUSALITÄT, die erst zur transzendenten Erkenntnis entwickelt würden werden, wenn der Mensch die Wendung gegen die Vernunft vollzöge, d.h. die immanente Erkenntnis als bloße Erkenntnisform betrachten (XI 536) würde. INSTINKT oder Rasse sind keine Formen der Erkenntnis, sondern müßten kausalen Prinzipien weichen. Das ist KANT, auf dessen Füßen stehend, Schopenhauer sich immer verstand.
Dennoch: Gegen diese Erkenntniskritik setzt er die Wesensfremdheit der Erkenntnis, die der WILLE zu eigen hat, dem Willen ist alle Erkenntnis FREMD! (XI 543) Die ERSCHAFFUNG der Welt war ein erztörichter Willensakt Gottes, der nie hätte statthaben dürfen. Deshalb Entzug vom Willen, Quietät, wie TM es nennt, um den Willen umzukehren, ethisch zu handeln. Darin liegt die einzig mögliche Freiheit: im esse (SEIN), nicht im operari (HANDELN). Der Mensch, der handelt, muß töricht handeln; allerdings stand es nicht bei ihm, sondern bei seinem Willen, der auch hätte anders handeln können. Im mythologischen Raum, der Ewigkeit, bedeutet dies, daß die Handlung vorherbestimmt gewesen, denn die Not, die Handeln nötigte, zielte aufs Sein, nicht auf das Handeln (XI 548).
Damit hebt Schopenhauer die IMPUTABILITÄT des Handelnden auf, schaut hinter den Schleier der MAJA, sieht, das Unterschiedenheit Täuschung sein muß, aber er tut es nicht aus dem Gram misanthropischer Verwegenheit, sondern aus MITLEID (SYMPATHETIE!) und Liebe gegenüber dem Menschengeschlecht. (XI 563)
Allerdings aber ist das nur die metaphysische Seite der Betrachtung, die aufs Leben bezogene sieht den inneren Widerstreit des Willens, eben ins Leben wirken zu wollen. Logischerweise folgert Schopenhauer daraus, daß diese Erkenntnis zum Quietiv des Wollens führen muß. Man muß verzichten! Das ist Keuschheit. Verzicht ist Keuschheit! Leben ist Leibesdienst. Verzichtet man auf den erscheinenden Willen, das Bedürfnis des Leibes, ist dies die Erkenntnis, die zur AUFHEBUNG der Willensartikulation Leib führt. Dann bleibt der metaphysische Trost von der eigenen Erhaltung in der Gattung - irgendwo bei irgendwem - im Falle eigenen Ablebens: Dies ist es, daß ich leben werde! Es wird leben, … und daß dieses Es nicht ich bin, daß ist nur eine Täuschung, das war nur ein IRRTUM, den der Tod berichtigen wird. (I 656)
Diese Replik ganz im Sinne Schopenhauers steht in seiner metaphysischen, aber intellektuellen Grundeinstellung gegenüber dem Leben noch weitestgehend im 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert dagegen wird nach TMs Meinung der Instinkt zuungunsten von Rationalismus und Intellektualismus verherrlicht (XI 579), METAPHYSIK in Instinkt eingetauscht, bisweilen sogar damit verwechselt. Der Nationalsozialismus (als stärkste Bewegung des Instinkts) trägt einen Haß gegen den Geist zur Schau, drängt auf Ent-Humanisierung des Lebens. Dem will TM entgegentreten.

TMs literarische Antwort auf den Rosenbergschen Mythus

Wir sahen den einen Mythus-Zielstellung (Unterwerfung des 20. Jahrhundert mit dem Zynismus Friedrichs II., dem Stahlgewitter Moltkes und der Unbedingtheit Bismarcks) sich artikulieren, der aus den Tiefen der Irrationalität Welterkenntnis zugunsten triebhaften Verhaltens verwirft, gegen den ewigen Mythus von der Humanität antreten und wollen jetzt in TMs Werk den Nachweis führen, daß TMs Mythusauffassung ein geeignetes Mittel gegen die Unmenschlichkeit rassistischen Dünkels bilden konnte.

K. Hamburger bezeichnet das Werk als „Bibel-Roman mit der Idee der Vergegenwärtigung“, denn es verzichtet auf eine Rahmenerzählung, die den Leser aus der Gegenwart in die Vergangenheit führt; statt dessen wird das Vergangene vergegenwärtigt. Das bedeutet für das Erleben von Autor und Leser ein ALS-OB, das Als-ob der Gegenwart, eine Fiktion, die durch die Doppelbedeutung des Adverbs EINST am besten umschrieben ist. Aufgrund dieser Vergegenwärtigungsabsicht und -durchführung im Roman, zu deren Hilfe TM mythologische Motive vor den Augen des Lesers „modern“ erstehen läßt, unterscheidet sich das Romanwerk wesentlich von den naturalistischen Romanen und positivistischen Geschichtsbetrachtungen des 19. Jahrhunderts (FLAUBERT!), denn TM steht im Helden seiner Geschichten.
Dessen bedarf Lebenswirklichkeit! Der Leser wird an die Lebenswirklichkeit der Helden herangeführt. Er erlebt imitierende Handlungen, die Identifikation schaffen. Isaak fühlt sich im Schwester-Betrug als Abram (GJ 11/2), dem viele Jahre zuvor ein gleiches geschah. Das sind Formen des mythischen Denkens, denn indem so Isaak sich in Abram wiederfindet, imitiert TM eine Identifikation, die - bei Lichte (!) besehen - keine sein kann, denn Isaak lebt vierhundert oder fünfhundert Jahre später als Abram! Egal. Entscheidend ist die Einbeziehung und Vergegenwärtigung, die ihren Ursprung im einfachen Weiterleben hat, in der Identität beziehungsweise Gleichförmigkeit des Geschehens, das die Zeit schrumpfen läßt. Es ist die „Bedeutungslosigkeit der dazwischen liegenden Zeit“, die zur Identität von Romangegenwartsheld und mythischem Vorfahren führt. Thieberger bezeichnet diese Erkenntnis sogar als „das wichtigste Ergebnis des Thomas Mannschen Monumentalwerks“.
Man könnte sich in die Problematik des Zauberbergs zurückversetzt fühlen, in die Thematisierung des NUNC STANS; allerdings besteht zwischen der Zeitauffassung im Zauberberg und der in Joseph und seine Brüder ein entscheidender Unterschied: Im Lungensanatorium zu Davos stand die Zeit still, zumindest die sieben Jahre währende Erzählzeit. Im heiligen Land gilt dies ebenfalls; nur sind es fünfhundert, sechshundert Jahre, die schrumpfen und den Helden immer wieder als einen erstehen lassen. Doch währenddessen Hans C. (die Hauptfigur aus dem Zauberberg) jener höheren Zeitlosigkeit bei der Betrachtung astralmythologischen Karussellfahrens (III 514) nicht habhaft wurde, weiß Joseph nach jedem Auferstehen aus den Gruben ein wenig mehr davon! Hans C. grübelt über die Ewigkeit, Joseph findet Spuren seiner Identität und imitiert sie in der Unermeßlichkeit der Zeit, um die er weiß. Hans C.s Ende ist recht ungewiß; seine Handlung verliert sich irgendwo. Joseph ist zum Ende der Hermes-Bürge, der Sachwalter des New Deals, der Segensbringer, der Ur-Mensch, der Glücksbringer, denn er hat das Mensch-Sein begriffen und lebt es.
Der Josephsroman ist deswegen eine Steigerung in zeitmetaphysischer Hinsicht, von der Typologisierung, die ein Grübeln ist, zur Mythologisierung, die ein Vergegenwärtigen, somit Wissen und Handeln ist. Allerdings ist diese Steigerung auch ein ABSCHIED. TM verabschiedet sich mit dieser pragmatischen Sendung seines Helden von den idealistischen Vorstellungen vom Pathos der Mitte, die er an der deutschen Sendung für die Welt 1919 in seinen epochemachenden Betrachtungen eines Unpolitischen festmachte. Diese Sendung hatte sich, zumindest vorerst, 1945 erledigt. ZIVILISATION und Demokratie hatten Kultur und ARISTOKRATIE besiegt, das GELD hatte sich durchgesetzt. Dieses Thema war TMs Lieblingsthema, wie er in der Miszelle Das mir nächste meiner Bücher (XI 686) zugab. Ihm widmete er sich v.a. in Dr. Faustus.
Es war aber Der Zauberberg, der bereits vor dem Josephsroman mythologische Motive leitmotivisch benutzte: So sieht W. Berger in der Schneevision (III 657ff.) einen vom Mythus inspirierten Traum, weil „er dem Träumer den Stand und STAAT des homo Dei auf Erden enthüllt“. In diesem Wechselspiel wird das Geratensein, das in der Spannung zwischen Einzigartigem (Erleben) und Typischem (Allgemeingültigem) durch Hans C.s sittliche Entschlußkraft erfährt, in einem Lebenswillen des Helden münden. Dieser Lebenswille ist zugleich als essentielle epische Gewißheit zu verstehen, d.h. vom Autoren zu gestalten.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal die Idee von der Steigerung/Sukzession der formalen Tiefgründigkeit im Gesamtwerk TMs aufnehmen, denn gerade an der Differenzierung der Verwendung mythologischer Motive läßt sich zeigen, daß Joseph und seine Brüder in formaler Hinsicht den Höhepunkt Mannschen Romanschaffens bildet:

  1. Buddenbrooks - geprägt von der eigenen Lebensherkunft; lebensnah und unmittelbar; dem Naturalismus zumindest nahestehend. („FAMILIE“, sagt Berger, S. 13.)
  2. Königliche Hoheit - Übergangsprodukt eines auf dem Wege zu typisierender Darstellung Befindlichen; nur im Kontext zum Zauberberg verständlich als Allegorie zum Dissens zwischen PFLICHT und Neigung. (NATION)
  3. Zauberberg - typisierende Darstellung der Identitätssuche in Raum und Zeit. („EUROPA“, sagt Berger, S. 13.)
  4. Joseph-Tetralogie - mythologisierende Darstellung der Identitätsbewußtheit in der Ewigkeit durch Imitation, Rollenspiel und Vergegenwärtigung mythologischer Motive. („MENSCHHEIT“, sagt Berger, S. 13 .)72

Es ist nunmehr zu fragen, wie der Mythus erzählstrukturierend einwirkte. Der Stoff des Mythus wird vom stets anwesenden Erzähler (Olympier?) auktorial vor die Instanz des kritischen Geistes gestellt. Die Auseinandersetzung des Helden mit der Überlieferung und den Spuren, die ihm vorgegeben, könnte einerseits DISTANZ bedingen, andererseits jedoch wird diese Distanz durch essayistische Einsprengsel zu einer eigenen Erzählstufe verdichtet, auf der der Held steht und diesen Mythus gewinnt. Das ist der strukturierende Unterschied zum eher belanglosen Schneegestöber Hans C.s. Es ist eine Form der spirituellen Transparenz, eine „kunstvoll gehandhabte Digressionstechnik, eine Politisierung des Bibelstoffes“, die politische Streitfragen der 20er und 30er Jahre wie z.B. die BACHOFEN-Rezeption oder die Namensgebung Drttes Reich diskutiert. Mit dieser scheinbaren Verrückung aktueller Fragen in die Fiktionalität der ILLUSION erhält der Leser die Möglichkeit der Selbstbesinnung; das Spiel der scheinbaren Vergegenwärtigung gegenwärtiger (20er und 30er Jahre) Streitfragen schafft die Fiktion des Echten im Geschaffenen der Romangegenwart. In diesem Rahmen kann TM die mythische Welt des Romans aufbauen, ohne archäologischen Brokat (XI 626) zu eruieren, was Flaubert TMs Meinung nach offensichtlich mit seiner „Salambo“ tat, als er zeigte, wie man es heute nicht machen kann. (XI 626)

Der Aufbau der mythischen Welt im Romanwerk - A. Jeremias

A. Jeremias stellte in seinem Hauptwerk „Der Alte Testament im Lichte des Alten Orients“ (ATAO) die These auf, daß das AT nur entschlüsselt werden kann, indem man altbabylonische Vorstellungen über die Weltordnung zugrunde legt. Das ist insofern einzigartig in der bibelexegierenden Forschungsliteratur, als Jeremias die altbabylonische Kultur als euphratensische und v.a. nichtsemitische bezeichnet.
Die Grundlage der altbabylonischen Kultur war die ASTRONOMIE, die nach dem Ur-Grund aller Dinge sucht und diese in das Werden des Weltalls versetzt, das selbst aus einem CHAOS entstanden ist. Der wichtigste Verbindungsgrund astralmythologisch-altbabylonischer mit israelitischen Vorstellungen liegt für Jeremias im latenten Monotheismus Altbabylons. Der religiöse Charakter liegt in der Erwartungshaltung auf den Erretter vom Dualismus, in den die Menschen stürzten, als sie sündigten, sich dem göttlichen Auftrage verwehrten. So gelangte das BÖSE in die Welt; es lag in Gott selbst, der es ausließ, um dem Menschen als eigenem Abbild den Auftrag seiner Beseitigung auf den Weg zu geben. Der Lauf der Äonen aber wird den Retter zeitigen, der die finsteren Mächte überwinden wird. So auch der Dualismus der Lehre: einerseits Gottesauftrag an den Menschen, andererseits Zukunftssicherheit, weil der Weltenlauf den Retter erstehen lassen wird. (Karussell)

Das ist die Lehre, die durch den Mythus popularisiert werden soll, der so zur Priesteraufgabe wurde und nach dem Festspiel, der dramatischen Darstellung der in dem Gestirnlauf enthaltenen religiösen Ideen, im Menschen vergegenwärtigt, wiedererinnert wird. Es ist eine bunte Welt, eine mythologische, die Jeremias entwirft. Sie ist mythologisch, da er episch-breit die Begriffe der Göttergestalten personifiziert. Da sind die zwölf Tierkreiszeichen (der Zodiakus), die als Motive göttlichen Willen verdolmetschen helfen sollen:
Wandelsterne sind Dolmetscher. Die ORDNUNG himmlischer Sphären - sieben: MOND, SONNE, Jupiter, Venus, MARS, MERKUR, Saturn - wird auf der Erde abgebildet. Auch das ist der Turmbau zu Babel, die siebenstufige Himmelsleiter zum Himmelspalast, die zugleich des Menschen BERÜHRUNG Gottes als Abbildlichkeit des Himmels ausdrücken will, die aber Frevel sein muß für den (noch nicht so weiten) Gott des Alten Testaments: Denn auch Gott unterliegt der Entwicklung, auch er verändert sich und schreitet fort: aus dem Wüstenhaft-Dämonischen ins Geistige und HEILIGE; und er kann es sowenig und ohne die Hilfe des Menschengeistes, wie dieser es vermag ohne Gott. (XI 667)
Die gesamte Vorstellung der altbabylonischen Weltenordnung basiert auf der Idee der prästabilierten Harmonie: Das Himmelsbild entspricht dem Weltenbild. So trat Oannes in die Welt und teilte jedem Volke Land zu, gelobtes Land, weil vom HIMMEL befohlen, anempfohlen.

Aber es gibt auch Trennendes von der alttestamentlichen Vätergeschichte. Das Dogma des Abram-Bundes zielte auf die Verinnerlichung Gottes, den Bund zwischen deinem auserwählten VOLK und Gott. Es ist ein Dogma des Blutes, denn: In Abram wurde Fleisch, was vorher sternenhaft gewesen war, und auf dem Göttlichen fußte er… (IV 423). Später erst trat dieser Bindung göttlicher Segensverteilung auf ein Blut Jesus entgegen (Joh. 8, 53-59)77, aber auch schon Johannes der Täufer (Matth. 3, 9-10) widersprach.
In der babylonischen Religion waren „objektive Sünden“ (Diebstahl, Würdenbelästigung, Berührung von Tabus etc.) und sittliche (Familienvergehen etc.) unterschieden. Die biblischen Bußpsalmen dagegen „…sind religiös ungleich wertvoller. Sie ruhen auf einem klaren Bewußtsein vom Verhältnis des Menschen zu Gott und sie kennen nur die innere, sittliche Verantwortlichkeit.“

Diese altbabylonischen Vorstellungen bilden den Schlüssel für das Verständnis des Alten Testaments bei Jeremias. TM nahm diese Position auf, da sie mit seinem Anspruch, eine universal-menschheitliche Dichtung zu schaffen, zusammenfiel. Die Jeremiassche Wiedergabe der Patriarchengeschichten ließ zudem die Möglichkeit zu, mythologische Motive von Babylonien nach KANAAN wandern zu lassen: Brunnen (Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen? -IV 9), Entschleierung (Sie fielen auf ihn… >Herunter, herunter, herunter!< schrien sie keuchend, und einhellig war der Ketönet gemeint, das Bildkleid, das Schleiergewand, das mußte von ihm herunter… - IV 555 oder IV 582: In seinem Geist wohnten die Gedanken >Entschleierung< und >Tod< nahe beisammen…), Fluchzeit (>Ich aber reise zum erstenmal ins Verfluchte, und so sind die Tränen mir nah.> V 707), Gefängnis (Dies alles drückte sich aus in dem Mündchen-Herunterziehen und in der fast unwahrnehmbaren Kopfbewegung, durch die die Choristen einander mit dem Ohre hinabbedeuteten, wo das Reis [Samenträger (in doppelter Bedeutung, weil gerade seine Verurteilung, Muts wegen, vorausging) des Stammes Israel, der Erwählte, der Segensträger: Joseph],die Arme auf dem Rücken zusammengebunden, in einer geruderten Segelbarke das Wasser Ägyptens hinab ins Gefängnis gebracht wurde. - V 1287) und viele andere Beispiele verschobener Motive (GOLD, Höllenfahrt, Grube, Jungfrau, Keuschheit, Liebling, Wüste, Unterwelt, Schönheit, Täuschung, Träume, Zerstückelung usw.). Die Bedeutung dieser Motive liegt oberflächlich besehen im Symbolgehalt, sie geben TM die Möglichkeit des Rahmens, um vergegenwärtigen zu können, haben also mythologische, menschheitliche Bedeutung. Diese Möglichkeit fußt auf dem Gedanken der Abbildlichkeit ewig-menschlicher Vorstellungen. Es ist möglich und verständlich zugleich, daß altbabylonische Vorstellungen in Ägypten Entsprechungen finden können, wenn man der Idee der Abbildlichkeit folgt.

Wiederkehr des Gleichen

Im Zusammenhang mit ewigmenschlichen Vorstellungen muß das Nietzsche-Wort von der Wiederkehr des Gleichen genannt werden. Die EVIDENZ dieses Gedankens zieht sich durchs gesamte Werk; TM beginnt in Höllenfahrt astralmythologisch mit dem Beginn des Menschengeschlechts, was seitdem in sich verschlossen ist als Geheimnis, und sehr begreiflicherweise das A und 0 all unseres Redens und Fragens bildet (IV 9). Das Alpha und Omega‚ der mutmaßliche Anfang, der dem Ende voranging, die sich in den Schwanz beißende SCHLANGE, wo ließe sich die Naturwirklichkeit besser mit der Lebenswirklichkeit des Menschen verbinden als in der Symbolhaftigkeit des Tierkreiszeichen? Die Tierkreiszeichen bilden einen Gürtel, biegen den Lauf der Sonne zurück, so daß ein Tag wie jeder Tag (unus dies par omni est) einen Punkt auf der Kreisbahn bildet, die Wirklichkeit zum Stehen kommt.
Das NUNC STANS war schon im Zauberberg Leitmotiv; nur wird es in Joseph und seine Brüder in einer Formel festgehalten, im EINST! Das Einst in seiner Doppelbedeutung von Vergangenem und Zukünftigen ist auch zugleich ein zeitlos Gegenwärtiges. Es verknüpft als leitmotivische Formel den NUNC STANS-Gedanken mit dem mythologischen Kleid.
Und hierin liegt die unmittelbare Verbindung zum Mythus: Dem Mythus „ist die Scheidung der einzelnen Zeitstufen fremd“, seine Beziehung zur Zeit ist dadurch gekennzeichnet, daß er verschiedene Zeiten ineinander verfließen läßt, sie wachsen zusammen (Konkreszenz) zu einer Gegenwart, werden aus der unlotbaren Tiefe des Vorvergangenen (ist das ein Raum?) in die Unmittelbarkeit der Gegenwart (ist das eine Zeit?) transferiert, wie das Beispiel Eliezer oder wie das Fest der Tanmiuz-Zerreißung samt Wiederauferstehung im Roman zeigen.

In der Nutzanwendung der astralmythologischen Anschauungen auf das Romanwerk sehen wir den zwölf(!) Söhnen Jaakobs Tierkreiszeichen zugeordnet:

  1. Ruben - Wassermann
  2. Simeon/Levi - Zwillinge
  3. Juda - LÖWE
  4. Sebulon - Steinbock
  5. Issahar - Krebs
  6. Dan - Waage
  7. Gad - Schütze
  8. Asser - Fische
  9. Naphtali - Widder
  10. Joseph - Stier
  11. Benjamin - Skorpion
  12. Dina - Jungfrau. (Der einzigen FRAU bleibt nichts anderes zuzuweisen als das einzig weibliche Sternenzeichen.)

V. Höllenfahrt

Ich habe das Vorspiel Höllenfahrt ans Ende meiner Arbeit gerückt, da das Ende zugleich den Anfang markieren hilft: Anfang und Ende des Menschengeschlechts stehen im Mannschen Vorspiel zur Disposition. Das Vorspiel ist der zeitliche Rahmen, der zeitliche und der, in dem überhaupt das Menschsein sich abspielt. In diesem ersten Teil des Romanwerks kommt am prägnantesten zum Ausdruck, was TM mit Vergegenwärtigung meint, die Vorvergangenheit wird vergegenwärtigt und gewinnt im Leser Gestaltung. Deshalb werde ich eng am Text bleiben und Stück um Stück versuchen, den mythologisch-poetischen Hintergrund der Darstellungsweise im Roman zu erfragen. Das Vorspiel für sich genommen ist kein gleichberechtigter Romanteil, sondern ein Essay und vom Autoren bereits sieben Jahre vor Ersterscheinen der Geschichten Jaakobs veröffentlicht worden. Dennoch zeigen inhaltliche und v.a. motivische Äquivalenz, daß Höllenfahrt als quasi I.Akt, als expositio, dem demnach fünfaktigen operi vorangehen mußte. Aber das wäre eine romantheoretische Frage und soll hier nicht weiter untersucht werden, auch hatte TM angekündigt, daß es ein Roman mit essayistischen Hindernissen, ein[em] Neben- und Ineinander von Epik und Untersuchung, Szene und verspielter Wissenschaftlichkeit sein würde mit der Zielsetzung, auf humoristische Weise mythisch (XI 625) zu sein. Die Auslegung erhebt nicht den Anspruch der vollständigen Ausdeutung.

1. Vom Dünenwanderer (Grenze und Unendliches)

Der Anfang sucht den Anfang. Nicht irgendeinen beliebigen Anfang, sondern den mutmaßlichen Anfang des Menschengeschlechts, der nach der Lektüre Edgar Dacques in unergründlicher Ferne liegen muß. Es ist die Grundlegung des Menschenwesen[s]…, dessen Vergangenheit in Rede und Frage steht. Der Anfang liegt im Mythus, der von der Geschichte nicht getrennt werden darf, „sofern sie [die Geschichte] die Verschiedenheit der Ausdrucksweise des Geschehenen in der Überlieferung bezeichnen soll“. Der Mythus nämlich läßt das Senkblei… immer wieder und weiter ins Bodenlose zurückweichen. TM bezeichnet dieses Zurückweichen als Ausdruck eines foppenden Spiels… wie es dem Küstengänger ergeht, der des Wanderns kein Ende findet. Das Ende ist dem Dünenwanderer oder Uferwanderer nicht zu zeigen, denn letztlich ist alles Wandern am Ufer entlang ein riesengroßer Kreisverkehr. Irgendwann ist man wieder dort, wo man angefangen.
Deshalb muß man einen Anfang setzen, die den Ur-Beginn… einer bestimmten GEMEINSCHAFT…, PRAKTISCH-tatsächlich bilden (die letzten Zitate alle IV 9) könnte. Und so setzt TM den jungen Joseph als Kenntnisnehmenden Urs. Ur-Chaldäer - das sind die ersten, die „die Welt monotheistisch erfassen“ wollten - waren vor längeren Zeiten… ausgezogen, um es dem Monde, der Gottheit von Ur, gleichzutun und zu wandern (IV 11).

Das Nomadendasein hängt eng zusammen mit dem astralmythologischen Grund aller Lebensauffassung der Chaldäer. Ihr Zeitempfinden richtete sich nach den Phasen des Mondes und dem Stand der Gestirne. Indem die Wanderung als Festpunkt des Anfangs gesetzt wird, verliert sich dieser Festpunkt auch, gerade durch die im Wandern ausgedrückte Bewegung verschwimmen Raum und Zeit ineinander, so daß Joseph… sich nicht immer ganz im klaren darüber [war], wie weit es zurücklag (IV 11), daß der Same des Ur-Mannes Herrschaft über die ausübte, denen der Gott im Interesse des Ur-Mannes und seines Samens Unterwerfung und Knechtschaft bündig zugedacht habe. (IV 13)
Die Festlegung auf Joseph besitzt doppelten Charakter:

  1. Möglichkeit der historischen Fixierbarkeit durch die Faktizität der historischen Persönlichkeit Josephs (was aber dennoch eine umstrittene Sache bleibt) aber
  2. Unmöglichkeit der historischen Fixierbarkeit des Wissens um die Ur-Gründe von Josephs Selbstverständnis.

In diesem Wechselspiel läßt sich dennoch ein Ur-Anfang setzen; es ist ein Anfang, dessen Berührungsintention immer noch in das Ur-Gegebene, dem noch so manches mitklang, was Heimatlicheres bezeichnete (IV 11).
Und die Wanderung ging weiter, geht weiter. Der Ur-Mann aus Uru im Chaldäischen durchlebt die Sorgen des Lebens in der Auseinandersetzung seines durch den Raum Geratens, vermählt sich, schafft sich Freunde und Feinde. Es ist die Unrast der Seele, die den Körper in den Raum bringt, in dessen Blut sich Schicksalsentwicklungen dunkelanfänglich vorbereiteten (IV 12).
Der Imperfekt vorbereiteten deutet auf ein Später, ein heute nicht abgeschlossenes Später, deutet auf Stationen, aus welchen sich der Mondmann über ein kleines wieder gelöst hatte (IV 12), was auf harte Kämpfe hinweist. In diesen Kämpfen litt der Auserwählte. Gott ließ ihm die Zeit als Zukünftiges, nicht als Gegenwärtiges und indem er das Maß seiner inneren Unbequemlichkeit mit dem der großen Mehrzahl verglich, schloß er daraus auf seines Leidens Zukunftsträchtigkeit. (IV 14)
Diese Zukunft läßt sich in einem TOPOS festmachen: SEGEN. Der Segen entspricht der Gotteserfahrung, der Unzweifelhaftigkeit, dem Dünkel der Ausgesuchtheit. Am Gottes-Segen hängt die Zukunft, die Verweisung aufs Zukünftige, das SCHICKSAL. Indem der Mann aus Ur in Chaldäa den wahren Baal und Addu des Kreislaufs erkannte (IV 15), waren er und seine Nachfolger im Samen Auserwählte und erst in die Zeit gekommen, aufgenommen in Gottes Heilsplan.

2. Joseph und der Ur-Mann (Ungerades und Gerades)

Zwanzig Geschlechter sollen zwischen beiden liegen. Vielleicht, vielleicht nicht. Die Spanne würde von unserem heutigen Zeitstand aus gesehen bis ins gotische MITTELALTER führen - so weit und auch wieder nicht. Denn… es ist die Erfülltheit der Erdenzeit nicht immer und überall ein und dieselbe; die Zeit hat ungleiches Maß. (IV 15/16)
Thieberger hat aus dieser Unverhältnismäßigkeit die These der „Zusammenziehung langer Zeiten“ entwickelt, die besagt, daß erlebnisarme Zeiten im Bewußtsein der Generationen diese kontrahieren. Die Beschreibung beziehungsweise Darstellung erlebnisarmer Zeiten ist immer an die Zeitraffung gebunden. TM differenziert die erlebnisarme Zeit noch einmal, indem er sie als stilleres, stummeres, gleicheres Zeitgebreite (IV 16) bezeichnet. Dennoch, auch stillere Zeiten hinterlassen Spuren, die Hinterlassenschaften bilden.
Im Mittelpunkt dieses zweiten Kapitels, das, legt man die pythagoräische TETRAKTYS als Gestaltungshintergrund des zweiteiligen Vorspiels an, einen Widerspruch zum ersten Kapitel tragen müßte, steht, was die Zeitgestaltung betrifft, nicht diese im Vordergrund der Gestaltung, sondern vielmehr die Frage, wie die Zeit des Anfangs überhaupt zu gestalten sei. Die festgelegte Prämisse: im ganzen war die Zeit erhaltenderen Sinnes gewesen als unsere (IV 16) zeugt schon von der Absicht des Autoren, einen Brückenschlag zum Heute vorzunehmen, zu vergegenwärtigen. Dieser Vergleich bezieht den Leser ein, so daß von vorneherein die gewaltige Kluft zwischen dem 20. Jahrhundert nach Christus und dem 15. Jahrhundert vor Christus zusammengezogen wird, bei welcher Ungenauigkeit es nicht sein Bewenden (IV 17) haben wird.
Günther Müller nennt diese Kontraktionstechnik in bezug auf die Zeitgestaltung „Aussparung“ und meint damit ein „Stillstehen und Fliegen der Erzählung, von Unbeachtet-Lassen und Eingehend-Darlegen als Grundform alles Erzählens“. Allerdings ist das Aussparen v.a. ein psychologisch anmutender SPAß TMs, womit er den Leser foppen will, ihm weismachen will, Joseph sei seinesgleichen: Es ist dies die Negation des Unendlichen der Zeitläufte in der Person Josephs. Leser und Held sollen es leichtgemacht werden, die kleinen Verwechselungen zu vollziehn. (IV 17)
Begründenderweise verweist TM auf die astronomischen Opportunitäten im alten Babylon, denen die genaue Benennung der Zeit eine Frage des Gewissens gewesen, die leichterweise einen Himmelskörper für den anderen setzten… im Sinne eines praktischen Notbehelfs, dem Geschehen einen Anfang zu setzen. Mit Untiefen läßt es sich schlecht rechnen und jeder hat einen Vater, also irgendwann angefangen. Das sind psychologisch motivierte Begründungen eines Anfangs freier Wahl, die Joseph in Beziehung zum zwanzig Generationen vorher lebenden Ur-Mann setzen sollen; exakt ergäbe und ergibt dieses Rechnen die Frage nach dem Anfang der Welt, was aber nur eine peripher interessierende Frage für Josephs Berechnungen abgibt: War nicht auch dies nur ein bedingter, besonderer Anfang der Dinge? (beide IV 18)
Trotzdem schwindelt (es) Joseph bei dieser Frage, wie Hans C. es schwindelte bei der Betrachtung der Ewigkeit (III 514). Und dies genau ist die Stelle, an der TM den Leser wieder in den Erzählrahmen einbindet, die Stetigkeit und Wissenschaftlichkeit menschlichen Fragens als Dünkel parodistisch mit Attributen wie unzukömmlicher Ungenauigkeiten (IV 18) bedenkt und gleichzeitig die psychologische Grundvoraussetzung für das Verständnis des gesamten Romanwerks aufstellt, daß wir Jetztzeitmenschen uns ihm nahe fühlen und zeitgenössisch in Hinsicht auf die Unterweltschlünde von Vergangenheit, in die auch er, der Ferne, schon blickte. Der Dünkel besteht darin, daß bedingte Scheinanfänge, wie Joseph sie sich setzte, schließlich zum selben Ergebnis führten, das wir erzielen würden, die wir Wissenschaft benutzen, um das genaue Alter der MENSCHHEIT festzustellen; schließlich setzen wir es als Denkrahmen doch und verwechseln diesen gesetzten Anfang mit dem wirklichen, wie Joseph den Wanderer aus Ur einerseits mit dessen Vater und andererseits mit seinem eigenen Urgroßvater verwechselte.
Bei soviel Verwechslung ist TMs These von der Zeitgenössischkeit Josephs und ebenfolgender Vergegenwärtigungsmöglichkeit plausibel, zumal die Küstenkulisse als Ausdruck einer Kreisbahn (alles Land auf Erden ist von Wasser umgeben) irgendwann wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren muß, Geschehenes wieder geschieht; als Ausdruck der Raffung jedoch nur die Unermeßlichkeit meßbar werden läßt.

3. Eliezer, Sphinx (Einheit und Vielheit)

Nach der Zeitbegründung und dem Inbeziehungsetzen nunmehr in Kapitel 3 die Quintessenz aus beiden, die Vergegenwärtigung des mutmaßlichen Anfangs in Fleisch und Blut, Geist und Leben. TM beauftragt den alten Eliezer, des Ur-Wanderes Ältestem Knechte, der einst die Tochter Bethuels am Brunnen für Jsaak gefreit hatte. Mit dieser Charakterisierung ist sein struktureller Auftrag hinreichend erfüllt: Eliezer soll dem Helden das Vergangene und Vorvergangene vermitteln, Fleisch und Blut gehen die Symbiose mit dem Leben, das des Geistes sein muß, ein. Eliezer ist die Einheit aus der Vielheit des Möglichen, die endgültige Bejahung des menschlichen Daseins im KOSMOS.

TM bindet den Leser in die pädagogischen und „historischen“ Lehrstunden mit ein: …wir kennen diese Verse (alle IV 19). Diese Reminiszenz gilt dem historischen ZEITALTER, gegen das er sich durch die Ablehnung von Flauberts historischem Brokat (XI 626) schon abgrenzte. Es mag in diesem Sinne als ein Affront gegen sein eigenes Vorhaben dastehen, daß Joseph ein reflektierendes Bewußtsein durch den Lehrer erhalten soll, derweil TM doch wenig später frühere Kulturen als künstlerisch in sich geschlossene Lebenssysteme (IX 688) bezeichnet, die es eben waren, da sie nichts über sich wußten. Dieses Zeitwissen über sich ist erst ein Ergebnis des historischen Jahrhunderts. In diesem Sinne müssen die parodierend anmutenden Betrachtungen über die Überlieferung des Wissens in vorhistorischer Zeit anmuten: Nun war aber dies Original nicht eigentlich ein Original, nicht das Original, wenn man es recht betrachtete. (IV 20) Wie will MAN es recht betrachten, dreitausend Jahre später in einer fiktiven Welt? Zeitbewußtsein artikulierte sich in jenen Tagen mythisch. Wollten die Ägypter ausdrücken, daß etwas sehr alt sei, sagten sie: >Es stammt aus den Tagen des Set< (IV 21).
Das war ihre ZEITRECHNUNG. Allerdings läßt sich auch in dieser Frage eine eindeutige Cäsur mittels eines bestimmten Symbols festmachen. Wieder beobachten wir die gleiche Technik: TM schweift im Essayistischen, umkreist und spielt mit den Möglichkeiten der Erfassung, um schließlich an einem Punkt stehenzubleiben und sich einen Gegenstand, einer Überlegung ausführlicher zu widmen. In diesem Falle ist es der Betrachtungsgegenstand SPHINX - ein Symbol, welche zum Gegenstand pietätvoller Verehrung wurde (IV 23) -, mit dem er einen Zeitpunkt festmachen kann, vor dem nichts erinnerlich gewesen: …von einer Zeit, die ihn nicht vorgefunden oder auch nur mit ganzer Nase vorgefunden hätte, wußte niemand. (IV 22)

Die 4 bedeutet in der pythagoräischen Zahlenlehre die erste, kleine Form der Vollkommenheit, denn rechts und links stehen sich paarweise die Gegensätze, Satz und Gegensatz gegenüber und bilden ein erstes kleines Quadrat. Sollte diese Vollkommenheit im modernen Menschen Zwischenstation sein? Das Gegebene ist dem Fortschrittsgläubigen immer das Vollkommenste auf der nach oben strebenden Entwicklungsgeraden. Ist der moderne Mensch nur, im Nietzscheschen Sinne, eine Vorstation auf dem Wege zum Über-Menschsein?
Zu dem Zeitpunkt, da unsere Erzählung beginnt - ein ziemlich beliebiger Zeitpunkt, -… war Joseph schon ein Hirte des Viehs (IV 23). Schon ist ein rückwärts greifendes Adverb mit Vergegenwärtigungsabsicht aus dem Vergangenen. Schon ist das Gegenteil von noch nicht, ist somit ein reales Geschehen ausdrückendes Umstandswort und bezeichnet einen gegebenen Zustand. In der Nutzanwendung aufs Modernsein Josephs ist dessen Menschsein durch schon bestimmt, denn greifen wir zurück auf (IV 19), so wird das Menschsein Josephs genauer bestimmt: Ein Mensch wie wir war er!
Den Zeitpunkt (Augenblick) der Erstmaligkeit des Erscheinens eines modernen Menschen sieht TM in der Domestikation, der Verhauslichung des einst gezüchteten Herdenschafes. Der Augenblick dieser Tat war zugleich die Geburt des modernen Menschen, quasi. Es waren dieselben befreundeten und gefriedeten Geschöpfe, auf derselben Stufe ihrer Züchtung, wie wir sie kennen… (IV 23) Damit kann dieser Anfang des Geschehens vergegenwärtigt werden, denn Joseph hütete die gleichen Zuchtergebnisse der Domestikation, lebte in einer der unsrigen ähnlichen Gesittungsepoche…, der Unterschied [zu heute] ist verschwindend. (IV 24)
Nachdem dieser Anfang sozusagen faktisch durch das Aufzählen verschiedenster Forschungsergebnisse (IV 24) erbracht wurde, fragt TM nach den Anfangsgründe[n] menschlicher GESITTUNG: Wo liegen sie? Wie alt ist diese? Aus dem kleinen Kreis, dem pars pro totum (Joseph), will TM die mögliche Konkreszenz ziehen auf den allgemeinen Zustand der Menschheit. Es ist dies die allgemein-interessante Frage nach der Möglichkeit einer zeit- und räumlichen Überwindung vergangener Zeiten. TM wünscht und hofft, daß sie sich äffend eröffne; womit gleichsam auf den intellektuellen Rahmen der Mannschen Zeitschau verwiesen wird. ATLANTIS als Ersthort der WEISHEIT und Gesittung des Menschengeschlechts taugt schlecht als Exempel, schließlich steht es dahin (alle IV 25), ob diese zu erwandernden Vorgebirge, auf welche… nur unbestimmt hinzudeuten ist (IV 26), dazu taugen, den sittlichen Rahmen abzustecken.
Gesittung und Kultur sind für das ABENDLAND immer an den Gebrauch von Schriftsprache gebunden. Die diesbezügliche Untersuchung nach einer Anfangs- beziehungsweise Ur-Sprache führt TM zuerst nach China (rechts, d.i. östlich) und schließlich weiter über Babylonien nach Ägypten (links, d.i. westlich) in die Tage des THOT (IV 27). Das alles bleibt faktisch unauslotbar. Dem diente die Übung: Es sollte unauslotbar dastehen und somit bleibt TM stehen, kann einen Anfangspunkt setzen mit dem sagt man: Die älteste SPRACHE, die Ursprache, sagt man, sei das Indogermanische… und wurde auf Atlantis gesprochen, dessen Silhouette die letzte im Fernendunst undeutlich noch sichtbare Vorgebirgskulisse der Vergangenheit bildet, das aber SELBST wohl kaum die Ur-Heimat des sprechenden Menschen ist.
Mit dieser Bestimmung ist die Verbindungslinie des modernen Menschen zum vorvergangenen hergestellt, beider Sprache entstammt ein und derselben QUELLE. TMs Dichter-Aufgabe daraus könnte lauten: Die noch sichtbare Vorgebirgskulisse aus der Vergangenheit dem Leser erschließen!

5. Mensch und Sintflut (Männliches und Weibliches)

Die 5 ist die verneinte Form der kleinen HARMONIE; sie ist Ausdruck eines Unrechts.

Der Mensch in seiner Eigenschaft als Tier ist das älteste aller Säugetiere. Zuerst lebt der Mensch in seinem Schleier von Wasser, Erde, Pflanze und Tier, umspielt vom Luftmeer. Es ist der Mensch, der diesen SCHLEIER umbildet, doch dürften unabsehbare Zeitstrecken erforderlich gewesen sein, (IV 28) bevor das altkluge, kunstfertige und in jeder entscheidenden Hinsicht moderne WESEN uns beim ersten Morgengrauen der Geschichte bereits entgegentritt.

Nach dem mutmaßlichen Anfang des Sittlichen (Thot) muß im fünften Teile der Höllenfahrt eine Negation der ersten Vollkommenheit folgen: Joseph wußte wie es zugegangen war damals, als alles Fleisch, die Tiere nicht ausgenommen, seinen Weg in unbeschreiblicher Weise verderbt hatte, ja selbst die Erde Hurerei trieb.
Das ist die Verbindung von Männlichem und Weiblichem in ursprünglichster Form, prämatriarchalischer Form; die Promiskuität des Miteinander, so daß der Herr… es schließlich.., nicht länger verantworten und ertragen konnte und zu seinem SCHMERZ das Schwemmgericht hatte walten lassen müssen. (IV 29)
Hatte müssen? Vergleicht man dieses Müssen mit dem Auftrage des Menschseins, so schon. Nur einer, Noah, durfte den verpichten Kasten jeweils mit einem Männchen und Weibchen der verschiedenen Rassen betreten, womit der Neuanfang auf dem BODEN des Bisherigen festgelegt wurde. Zeit tritt hierbei als Kontinuum im Weltenplan auf. Eine logische Schlußfolgerung der Sintflut hätte es doch sein müssen, alles zu vernichten, bis auf den einen Getreuen, und neu zu beginnen? Allein, die Bestimmung des Einen legt auch die Rechtfertigung der Dipolarität der Natur (männlich-weiblich) fest und die Kategorien der Vernunft, die weiter Bestand haben dürfen.
Welche spielerische Komponente nimmt da das Datum an: der zehnte des Monats Cheschwan… zur Zeit der Frühjahrsschmelze? Die Genauigkeit des Datums hatte Joseph vom alten Eliezer, als ob dieser dabei gewesen wäre. Der Tag kehrt immer wieder, das bedachte er nicht. Diese unbewußte Wiederkehr ist Ergebnis von Zusammenziehungen. Somit kehrt auch die SINTFLUT wieder, sie tritt auf, als ob sich etwas Vergangenes wiederholte, es wurde gegenwärtig (alle IV 30). Diese Möglichkeit bestand und besteht, weil das Fleisch verderbt ist, nach wie vor. TM fragt, ob sich Gottes NACHSICHT schon erschöpft habe. Das weist auf das Zeitlose (zumindest für die Dauer des Menschseins), denn die Form der Zeitlosigkeit ist das Jetzt und Hier. Spielerisch muten die historischen Fokussierungen möglicher Sintfluten an; TM widerspricht hierin DACQUE, der nur den zirkumatlantischen Raum sintfluterfahren nannte; China ist es eben aber auch, wie TM behauptet. Immer wieder steht der Wissensschatz Josephs im Vordergrund, als ob es vordergründig von Interesse sein müßte, dies zu wissen. Entscheidend für den SINN der Berechnungen möglicher Sintfluten ist, daß mit der chaldäischen Berechnung, die auf einen Zeitraum von neununddreißigtausendeinhundertundachtzig Jahren kommt (Sintflut bis erste DYNASTIE im ZWEISTROMLAND), diese junge Katastrophe auch nur [als] eine Wiederholung, das Gegenwärtigwerden von etwas tief Vergangenem (IV 31), Ausdruck finden soll. Der Leser erfährt das GEFÜHL des Dabeiseins, als ob sich die Vorgeschichte in ihm vergegenwärtigen könnte, wie sie sich im nahen Joseph vergegenwärtigte!
Und in diesem Sinne formuliert TM das eigentliche Interesse der faktisierenden Bemerkungen: Was uns beschäftigt, ist nicht die bezifferbare Zeit. Es ist vielmehr ihre Aufhebung im Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung und PROPHEZEIUNG, welche dem Worte >EINST< seinen Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft und damit seine Ladung potentieller Gegenwart verleiht.
Dieses FELD steht im Banne des Mysteriums, in der KOEXISTENZ von SEIN und Bedeuten, deren Grenzen zuweilen verblassen und durchlässig werden, wie in den Erscheinungen des Sonnengottes im Fleische, was immer zu Zeiten geschieht, in denen Geheimnisse als zeitlose Gegenwart zeitgenössisches Paradigma sind. Immer wieder jedoch werden vergangene Zeiten herbeibeschworen im Kleide des Festes, die uns angehen, weil sie alle logische Anstößigkeit entfernen von einem DENKEN, welches in jeder Heimsuchung durch Wassersnot einfach die Sintflut erkennt (IV 32).

6. Turmbau - Dünkel (Ruhendes und Bewegtes)

Der Turm stand, ruhte als Ausdruck babylonischen Anspruchs, um das zerfahren auseinanderstrebende Volk unter seiner… Herrschaft >wieder zusammenzubringen<. Auch der Turm ist Kulissenbildung und wird von Joseph träumerisch vertauscht mit dem Gegenwärtigen als ZEICHEN der Haupterhebung des Menschen: Schon der Wanderer aus Ur hatte ihn zweifellos dafür gehalten. Es gab aber zu Zeiten des Turmbaus jenen Mondmann (Abram nämlich), dem die Ruhe nicht anbefohlen war und er hatte daran im Sinne der GOTTHEIT Ärgernis genommen. (IV 33) Natürlich sollte der Mensch sich zum Herrscher der Welt machen, Gottes Heilsplan verwirklichen, aber, gnostisch gedacht, mußte Gott das Turmgewirke ärgern, weil das getürmte Trotzmal von Nimrods Königsvermessenheit zeugte, nicht vom Menschsein in Gottes Absicht. Das führte dazu, daß bald kein STEIN auf dem anderen blieb und die ZERSTREUUNG zur beschlossenen Sache wurde.
So lehrte der alte Eliezer, womit der Turm zu Babel als eine Kulisse des Dünkels Joseph (der Menschheit) im Gedächtnis blieb. Nach dem PARS die Ausweitung zum TOTUM: TM sucht auf der Welt nach desgleichen und findet es in AMERIKA in der großen Pyramide von Cholula, deren Erbauung durch Atlantier (Einwanderer aus dem Osten) erfolgt sein soll.
Der zirkumatlantischen Theorie Dacques gemäß, mögen Ur-Bild, Ur-Sprache, Ur-Sitte oder der Ur-Mensch in Atlantis zu suchen sein. Jedenfalls vermögen wir seine Geschichte nicht weiter zurückzuverfolgen und beenden hier unsere Studien über diesen seltsamen Gegenstand. (IV 34)

7. Ur-Menschentum und Geschichte (Grades und Krummes)

Der Plan ist gerade. Das ist sein Wesen. Die Umsetzung bedarf der Umwege. Das ist ihr Wesen. Der Ur-Mensch hatte einen klaren Auftrag. Die Geschichte zeigt, daß es nicht so einfach ist, diesen Plan umzusetzen.

Es kann für den Menschen nur ein PARADIES gegeben haben, wenn er ein „bestimmtes göttliches Gebot“ besaß, einen Auftrag, den er zu erfüllen hatte. Hier, in dieser Frage trennt sich BABYLON von ÄGYPTEN und dieses wiederum vom Judentum. Die Babylonier besaßen die Zeit-Vorstellung von der Äonenfolge, von sieben Weltzeitaltern, die einen Kreis beschließen. Bei den Ägyptern stand das erstarrte Menschengottestum in der ewigen Wiederkunft metempsychotische Wandlungen durch. Nur die JUDEN besaßen einen Heilsplan mit klarer Zukunftserwartung, geradliniger Zukunftserwartung.
Wo aber lag das Paradies? Wieder sehen wir TM ausschweifen in den Vorstellungen von den Uranfängen der Menschheit und in Schriften recherchieren, wo sie diesen Ort, dieses „Kein Ort. Nirgends.“ festzumachen hofften. Joseph setzt Beth-el, den heiligen Steinkreis seines Vaters als wirkliche Pforte des Himmels (IV 35), nicht als Paradies, aber als Begegnungsstätte. Die Flucht seines Vaters vor dem Bruder ist ihm gegenwärtig, als ob es gestern gewesen wäre, ebenso wie seine kindliche Überzeugung, daß im unteren Sinear… das feuchte Land.. von Süßkost tragenden Bäumen strotzte. Ist das Paradies der Anfang nun, der Endpunkt, der Brunnenschlund der Menschengeschichte, so daß weiteres Graben überflüssig wie sinnlos wäre? Am Brunnengrund ist es nicht finster, sondern hell, denn er ist nicht die Tiefe nach, sondern vor dem Fall, womit der Anfangs- an den Endpunkt des Weltgeschehens anknüpft: Es ist die lichte Höhe…, aus welcher der Fall geschehen konnte. (IV 36)
Die aufgestellte Frage ist nicht so wichtig, schließlich ist auch das Paradies nur eine Kulisse für die wirklich wichtigen Dinge; jede Forschung, die ein faktisches Ergebnis zeitigte wäre höchstens der Schritt zur nächstfolgenden WAHRHEIT…; man hielte eben nur eine Kulisse und Verwechselung weiter. (IV 37)
Neben der 7 als Weltäonenzyklus spielt in anderen Vorstellungen die 4 eine entscheidende Rolle. Schließlich bleibt TM wieder an Atlantis als Ausdruckssymbol des Goldenen Zeitalters, nehmen wir eine andere Ausdrucksweise der Vierzahl in Anspruch, hängen: Der angesiedelte Paradiesgedanke muß in seiner Anschaulichkeit von einem entschwundenen Volk in die Zeit gekommen sein, wo eine weise fortgeschrittene Menschheit in ebenso milder wie heiliger Ordnung glückselige Zeiten verbracht hatte. (IV 38)
Wie könnten diese dargestellt werden? Wie könnte ein Goldenes Zeitalter gestaltet werden?
Die Antwort liegt im „Kritias“ und im „Timaios“ Platons, den TM nennt (IV 37).

Nein, letztlich ist es ein Spiel mit Möglichkeiten, ein Blendwerk und hinlockende Fopperei einer Wanderschaft!, was die Suche nach der Verbindung zwischen Ur-Menschen-Dasein und Paradies betrifft, denn der Adamit muß gelebt haben in einem Zeitraum, der vor der Besiedlung von Atlantis liegt. Noch weiter zurück, und das Land mit den goldenen Äpfeln (Atlantis) wird zum Schauplatz, wo die gequälte Larve des Menschenwesens im Halbaffendasein (lemurische Welt) sich mit begreiflichster Entrüstung ihres Menschseins verweigert haben würde. So rückt Atlantis in den Begriffsrahmen der HÖLLE, denn wenn es nicht das Paradies gewesen sein kann, dann war es die Hölle. Vielmehr es war der erste, verfluchte Zustand nach dem Fall. Atlantis ist als Anfangsort des Menschseins somit ausgeschieden, steht nicht am Anfang von Zeit und Raum menschlichen Tuns: Das liegt vorher. (IV 38) Die anfängliche (IV 9) Überlegung von der Auslotbarkeit menschlichen Anfangs erweist sich mit der Fixierung auf einen bestimmten Ort als undurchführbar; nein, die Geschichte der Menschheit ist älter als die materiale Welt… älter als das Leben… (IV 39)
Wie dieses Ur-Menschensein näher bestimmt werden kann, soll das nächste Kapitel zeigen, das von der Entstehung der Welt handelt, dem Emporstreben des Lichts aus der Finsternis.

8. Entstehung der Welt (Licht und Finsternis)

Dem siebenten Kapitel lag eine ontogenetische Fragestellung zugrunde, die den Ur-Menschen als Gottes Schöpfung bereits in die Welt gesetzt sah. Im folgenden Kapitel geht TM eine Zeitstufe zurück zu einem Zeitpunkt, bevor die Welt erschaffen wurde: Der Urmensch… sei zu allem Anfange der erkorene Streiter Gottes im Kampfe gegen das in die junge Schöpfung eindringende Böse gewesen. Das sei seine Aufgabe gewesen, aber er verliebte sich in die MATERIE, in die Finsternis der irdisch-leiblichen EXISTENZ und mußte erst durch einen Boten, der auf einem Lichtschiff zur Erde herniederfuhr in die Lichtwelt zurückgeführt werden, wobei aber Teile seines Lichtes auf der Erde zurückblieben, die zur Bildung… der Erdenmenschen mitbenutzt worden seien. Zurückblieben die sieben Metalle…, denen die sieben Planeten entsprechen und aus denen die Welt aufgebaut sei. (IV 39)
Der Ur-Mensch stieg herab durch die sieben Sphären und wieder empor durch die sieben Sphären, verlor und bekam zurück. Auf der Erde hatte er sich selbst gesehen (Narziß-Mythus) und sich in sich verliebt. Die Begegnung mit dem Göttlichen setzte ihm neue Perspektiven, die Liebe verdarb aber den Auftrag, gegen eben die Materie als Finsternis zu kämpfen. Er war nur gehorsam gegenüber dem Vater, erkannte nicht den höheren Auftrag, war folglich schuldlos. Nun, der Vater holt ihn zurück, und es beginnt ein neues Zeitalter, denn nun schreitet die Lehre zu einer Scheidung der Welt in die drei personalen Elemente der Materie, der Seele und des Geistes fort (IV 40), der den Rahmen abgibt für all das, was wir heute Weltgeschehen nennen, was aber im eigentlichen Sinne nur der Roman der Seele (IV 42) genannt werden kann.
Der Abstieg des Lichtmenschen in die Finsternis ist ein Ausdruck für den Fall Josephs in die erste Grube. Die Wiedererhöhung in Ägypten, im Reiche des Kots, des Goldes, wird durch Mont-kaws Sterben geebnet, doch geschieht es, daß Joseph sich im Liebesringen mit der widerspenstigen Materie befand und (fast) unterlag (Mut). Das war die zweite Grube. Hier war es Gott, der eingriff da er wohl fand, daß ihm bei solchem Stande der Dinge nichts übrig bliebe, als der Seele, seiner abwegigen Mitgegebenheit [!!]‚ zu Hilfe zu kommen… Was in Wahrheit der Geist (der aus Gott gezogene Bote, um die Seele mit der Materie zu formen und die Welt zu erschaffen) . . . beständig klarzumachen sucht…, ist eben dies, daß erst durch ihre törichte Vermischung mit der Materie die Bildung der Welt erfolgt ist und daß, wenn sie sich von dieser trennt, der Formenwelt alsbald keine Existenz mehr bleibt. (IV 41)
Joseph erfüllte diesen Auftrag vorerst nicht und mußte in die zweite Grube, aus der er aber erstand, als er die Träume erkannte, die heimatliche Hochwelt endlich wiedererkannte und sich die niedere Welt aus dem Sinne schlug. Er bezwang sie und wurde der Ernährer der Menschheit: In demselben Augenblick, wo dies geschieht, wird diese niedere Welt sich aufheben; die Materie wird ihren trägen Eigenwillen zurückerhalten; sie wird aus der Formgebundenheit erlöst werden, sich der Formlosigkeit wieder erfreuen dürfen wie in Urewigkeit und also ebenfalls auf ihre Art wieder glücklich sein. (IV 42)
So wird in diesem Kapitel das Buch vorerzählt, ist der gestalterische Vorgriff in anderen Sphären ein Vorspiel mit Rollenverteilung, wie später im Roman andere Rollenträger zugewiesen werden, die aber aus dem Born des Lebens selber quollen, denn die Geschichte erzählte sich selbst, mußte nicht erdacht werden: Das Leben selbst spielt die Rolle der Vergegenwärtigung von Gottes Heilsabsichten. TM spricht denn auch von höherer Sphäre oder seine Rolle als Vernichter (IV 43), um die Verhältnisse im Vorspiel namens Höllenfahrt deutlicher zu machen. Andere Ausführungen sollen helfen, die psychologischen Barrieren des Verständnisses zu durchbrechen, was im Einfühlen in die Fiktion der Prophetien weiten interpretierenden Anteil des Grundgedankens vom Ur-Menschen-Auftrage (s.o.) einnimmt.
Die Erlösung in der Ernährer-Rolle wird aber zum Ende parodistisch gebrochen, indem Joseph des Segens verlustig geht; schließlich hat er ihn schon gelebt, verwirklicht. Doch das ist eine andere Frage.

9. Sündenfall und Tod (Gutes und Böses)

Sünde bedingt ein vorhergehendes Diktum, gegen das verstoßen werden konnte, ein bestimmtes göttliches Gebot an den Menschen, gegen das er verstieß. Sünde verweist vorrangig in die Vergangenheit. Es stellt sich die Frage, wer gegen wen sündigte: Versündigt hat die Seele sich allenfalls an sich selbst: durch die Opferung ihres ursprünglich ruhigen und glücklichen Zustandes (IV 45), denn an Gott kann man sich nicht versündigen; das wäre ein Ausdruck mangelnder Gottesstärke.
Das Thema ist >Gutes und Böses< (TM nennt das pythagörische Begriffspaar hier explicit.) in diesem neunten Kapitel des Vorspiels. TM verweist auf den zeitgeschichtlichen Kontext. Letztliche Folge des Sündenfalls war der Tod des Erdenmenschen. Nach der Grundlegung im achten Kapitel setzt sich TM nun mit kausalen Eruierungen auseinander, in spielerisch, vexatorischer Art und Weise. Es ist im Spiele das Verhältnis zwischen ENGEL und Mensch; vom Verhältnis des Herrschenden zu seinen Untertanen, von Schwierigkeiten bei der Weltschöpfung (IV 46) und dergleichen mehr.
TM bindet diese Fragen in den Unterricht Eliezers ein, in die Zeit, in der Joseph diese Fragen erörtert wurden: >Was ist der Mensch, o Herr, daß du sein gedenkest?< (IV 47)
Das sind Fragen von höchster Wichtigkeit, aber für unser Thema nicht am wichtigsten. Entscheidend ist, daß die vorgeschichtliche Zeit als Romangeschehen rekapituliert wird - und zwar weniger nach eigenem Sinn als unter dem moralischen Druck des Himmels. Unter diesem Aspekt steht auch dieses Kapitel.
In seiner ganzen Zeitlosigkeit wird Zeit - als nicht vorhandene - nicht gestaltet, weil ewiges Fragen, wie z.B. das nach Aufhebung der materialen Welt, alle Geheimnisse des ewigen Lebens, auch außerhalb der Zeit, beinhaltet und ganz wesentlich PRINZIP der Zukunft ist. Das ewige Leben aber ist im Geist, das Prinzip der Vergangenheit und das der Zukunft (IV 48), welches in der Bestimmung zur Gegenwart eines Menschentums [liegt], das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt. Damit ist die Aufgabe des Menschseins zweifellos bestimmt und die Wechselwirkung von Gut und Böse gefaßt in eine Formel, die im Verlaufe des Romangeschehens leitmotivischen Charakter trägt, gleichzeitig Prinzip der Anstoßnahme… und der Wanderschaft ist, welches die Unruhe übernatürlichen Elends auf die Erde zurückbindet, ein Lösen davon und gleichbedeutendes Rollen in den Sphären samt Drehungscharakter, ein Hin und Her, ein Gottwerden im Menschen assoziiert und ein Menschwerden in Gott, das Ungewisse treibt…, ein unabsehbar wachsendes Rollen und Geschehen, das einzuleiten bestimmt ist. (IV 49)

10. Unruhe - Lebenszeit (Quadrat und Parallelogramm)

Joseph hütete im Blute… eine Überlieferung geistiger Beunruhigung (IV 49), die ihn wandern ließ. Joseph tritt so in die Nachfolge Gilgameschs (das leidensfrohe Geisteskind), der träumend den Tod des Geliebten Engidu (das lebensfrohe Naturkind) erfährt: „Und es regnete Tod, da schwand die Helle zu Asche“.
Joseph steht in der Überlieferung von alldem vor ihm bereits Geschehenen, vom Ur-Wanderer her durch die Geschlechter vermacht. Aus dieser Überlieferung bezieht Joseph seine Zukunft, die er in einer Gestaltung festmachen will. Ist's der Vater oder die Mutter, der er seine Gestalt verdankt? Es könnte sein die Verfeinerung des Vaters durch die babylonische Frau, welchen die Ischtar heilig (IV 50) ist. Zum Wesen des Vaters gehörte die Unrast, das Nichtwohnenkönnen als besitzender BÜRGER in einer der Städte, in Hebron selbst (IV 51). Es war die Unruhe des werdenden Gottes, die Joseph in die Wanderung zwang. TM bindet das Geschehen an seine Aufgabe, die des Erzählers zurück, so daß ein Viereck entsteht, mit den Eckpunkten Gott-Jaakob-Joseph-TM. Gott, der würdige und entwürdigende Geist, Jaakob als Segensträger des Geistes, Joseph als Verwirklicher des Geistes und der Erzähler als Verkünder, als Herr des Weges (IV 52).
Um die Höhe vor dem Fall zu gewärtigen, holt der Erzähler Schwung aus dem Tiefsten des Tages, dem ersten Mahnmal menschlicher Vergangenheit, der Höllenfahrt der Ischtar: Warum erbleichen wir da? Ist nicht das Vergangene ELEMENT und Lebensluft des Erzählers, ihm als Zeitfall vertraut…? (IV 53)
TM formuliert seine Aufgabe in diesem Viereck, denn ihm ist es anheimgefallen (der Text erzählt sich selbst!), dem Geheimnis, das sich nur in den Zeitformen der Zukunft und Vergangenheit darstellt, auf die Spur zu kommen; es zur Rede um seiner Menschlichkeit willen zu stellen, selbst in der Unterwelt, gleichwie Ischtar den Tammuz dort suchte…, um es [das Menschenwesen] zu erkennen dort, wo das Vergangene ist. Der Mythus aber ist das Kleid des Geheimnisses; aber des Geheimnisses Feierkleid ist das Fest, das wiederkehrende, das die Zeitfälle überspannt und das Gewesene und Zukünftige seiend macht für die Sinne des Volks.
TM dehnt das Viereck ins Unendliche, in die Ur-Gründe des Menschendaseins. Es wird zum Parallelogramm: Die Eckpunkte stellen dar das Beginnen in Gott (dem Ur-Menschen) und im Gegenwartsmenschen (Erzähler), die wir uns denken können, wo wir wollen. Diese beiden gehen eine ewige, aufträgliche Symbiose ein, nur die beiden anderen Punkte Jaakob und Joseph bleiben zeitlich festgelegt, so daß die unendliche Verschiebung möglich ist. In der Vergegenwärtigung, die jederzeit möglich ist, wird Gottes Weltplan sichtbar, in der Vergegenwärtigung durch den Erzähler, der im Fest des Erzählens dem Volk beziehungsweise der Menschheit den Mythus von der hohen Funktion des Menschenseins enthüllt, weil er sich selbst in den Gräbern und dem frommen Es war (alle IV 54) zuhause weiß.

VI. Zusammenfassung

Im letzten Teil dieser Arbeit stand die untersuchende Frage, wie die Zeit als ein Leitthema der Tetralogie Gestaltung im Roman fand. Zu diesem Zwecke wurde zuerst TM selbst in seinen außerhalb des Romans niedergelegten Reflexionen befragt und als Ergebnis kann gesichert werden, daß die gesamte Arbeit unter dem gestalterischen Aspekt der Ausgestaltung liegen sollte. Zu dieser Ausgestaltung benutzte TM alle modernen Mittel der Sprache und Psychologie, womit der Autor sein natur- beziehungsweise altersbedingtes Interesse am Mythus mit allgemein-interessierenden Fragen zu verbinden gedachte. TMs großes Anliegen ist die Bewußtwerdung des Menschen, die Verbindung des Mythischen mit der Psychologie des Wirklichen, die Verbindung von Zeit als strukturaler (äußere Form) Größe, als Sprache, und von Zeit als semantischer (innere, inhaltliche Form) Einheit, die sich nicht im Nacheinander vollzieht, sondern in immerwährender Anwesenheit. In dieser Anwesenheit soll der Mensch erkennen, was die Glocke geschlagen hat, die Zeichen der Zeit erkennen und so Zukunft gestalten. Es muß also die Vergangenheit erkannt werden, d.h., der Mythus ist zu traktieren (von trahere, ziehen), eben in die Gegenwart zu ziehen.
Nach der äußeren Analyse der Tetralogie stand die innere Analyse im Zentrum meiner Arbeit, was wiederum verschiedene Folien benötigte (Rosenberg, Schopenhauer), um hinter die Absichten TMs zu kommen. Es konnte nachgewiesen werden, daß TM die Finsternis des Rosenbergschen Mythus zum Lichte emporführen wollte und das er mit Schopenhauers metaphysischer Anti-DIALEKTIK Hegel kolportierte. TM bindet Schopenhauer an Goethe zurück, in dessen Nachfolge er sich schätzt. Damit ist die geistesgeschichtliche Sukzession abgesteckt und nun endlich fühlte sich der Autor dieser Arbeit dazu imstande, die entscheidende Analyse der Höllenfahrt vorzunehmen, die als Exposition des opus gelten kann. Dieser Exposition ist die pythagoräische Zahlentheorie unterzulegen, als formales Kriterium. Inhaltlich prädisponiert sie das Romanwerk der Tetralogie.

Und so binden sich Anfang und Ende wieder aneinander. Das mythische Vorspiel ist Ausgangspunkt auch des Kommenden und zur Kenntnis zu nehmen als Grundlegung des Menschenwesens.

Literaturliste

  1. Thomas Mann, Gesammelte Werke in Dreizehn Bänden. Fischer-Taschenbuch-Verlag Frankfurt/M 1990.
  2. Ruth Schinkenberger: Joseph und seine Brüder - Eine morphologische Untersuchung. Diss. Bonn 1956.
  3. Deutsche Texte des Mittelalters. Band 20. Berlin 1915.
  4. Lexikon deutschsprachiger SCHRIFTSTELLER. Band 1. Leipzig 1974.
  5. Deutsches Wörterbuch. Hrsg. von den Gebrüdern Grimm. Band 1. Leipzig 1854.
  6. dtv-Taschenatlas. München 1992.
  7. Erwin Rohde: Psyche. Freiburg 1895.
  8. Günther Müller: Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonn 1947.
  9. Eckart Heftrich: Geträumte Taten. Frankfurt/M 1994.
  10. Gerhard von Rad: Das erste Buch Mose Genesis. Göttingen 1987.
  11. Käte Hamburger: TMs biblisches Werk. Frankfurt/M 1984.
  12. Käte Hamburger: TMs Roman: Joseph und seine Brüder. Stockholm 1945.
  13. Jean Finck: TM und die Psychoanalyse. Paris 1973.
  14. Georg Simmel: Nietzsche und Schopenhauer. Leipzig 1907.
  15. Helmut Beck: Epische Ironie als Gestaltungsprinzip in TMs Josephstetralogie. Diss. Jena 1961.
  16. Willy R. Berger: Die mythologischen Motive in TMs “Joseph und seine Brüder“. Köin 1971.
  17. Richard Thieberger: Der Begriff der Zeit bei TM. Baden-Baden 1952.
  18. Harald Fricke/Rüdiger Zymer: Einübung in die Literaturwissenschaft. Paderborn 1993.
  19. Jürgen Hohmeyer: TMs Roman “Joseph und seine Brüder“. Marburg 1965.
  20. Alfred Jeremias: Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients. Leipzig 1905.
  21. Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. München 1935.
  22. Alfred Rosenberg: Wesen, Grundsätze und Ziele der NSDAP. München 1922.
  23. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1922.
  24. Hans Leisegang: Die Gnosis. Leipzig 1924.
  25. Richard II. France: ZOESIS. München 1922.
  26. Die Bibel in der Übersetzung Martin Luthers. Berlin 1978.
  27. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Band 1. Leipzig 1982.
  28. Edgar Dacque: Urwelt Sage und Menschheit. Berlin 1927.
  29. Hans-Joachim Mähl: Die Idee des Goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Heidelberg 1965.
  30. Platon: Timaios. HAMBURG 1991.
  31. Richard Reitzenstein: Vorchristliche Erlösungslehren. Uppsala 1922.
  32. Gilgamesch-Epos. Leipzig 1935.
  33. Die Vorsokratiker. Band 1. Stuttgart 1988.
zeitgestaltung.txt · Zuletzt geändert: 2023/11/12 17:02 von Robert-Christian Knorr