====== FLEMING ====== ===== Paul Fleming ===== um 1630\\ [[Dichter]]\\ - Vertreter der //carpe-diem//-Auffassung und arbeitete unablässig an seinen Ausdrucksformen\\ - wollte das auf seinen langen [[Reise#Reisen]] ihn durchdringende Material des [[Leben#Lebens]] in die [[Form]] pressen\\ - wirkte später auf die [[Schlegel#Schlegels]]\\ - unternahm 1633 eine Reise an der Seite des Gelehrten [[Olearius]] nach [[Persien]]\\ - auf der Rückreise über [[Reval]] verliebte er sich in Elsabe \\ - ein zweiter [[Horaz]] ([[Leibniz]]) ==== politische Gesinnung ==== - tief und national → die [[Gesinnung]] wuchs ihm durch das Erleben der fremden [[Kultur#Kulturen]]\\ - ihm wurden die [[Qual#Qualen]] des Vaterlands im [[Ausland]] spürbar\\ - er nahm die Dinge als [[Protestant]] retrospektiv wahr → Anagramm-Zyklus Margenis\\ - unternahm nie den Versuch, ein Auskommen als [[Höfling]] zu finden\\ - schrieb Flugschriften gegen den zerstörer [[Magdeburg#Magdeburgs]], Tilly ==== Wie er wolle geküsset seyn ==== Nirgends hin / als auff den Mund /\\ da sinckts in deß Hertzens [[Grund]].\\ Nicht zu frey / nicht zu gezwungen /\\ nicht mit gar zu fauler Zungen. \\ Nicht zu wenig / nicht zu viel!\\ Beydes wird sonst Kinder[[spiel]].\\ Nicht zu laut / und nicht zu leise /\\ Beyder Maß ist rechte Weise. \\ Nicht zu nahe / nicht zu weit.\\ Diß macht Kummer / jenes [[Leid]].\\ Nicht zu trucken / nicht zu feuchte /\\ wie Adonis [[Venus]] reichte. \\ Nicht zu harte / nicht zu weich.\\ Bald zugleich / bald nicht zugleich.\\ Nicht zu langsam / nicht zu schnelle.\\ Nicht ohn Unterscheid der Stelle. \\ Halb gebissen / halb gehaucht.\\ Halb die Lippen eingetaucht.\\ Nicht ohn Unterscheid der Zeiten.\\ Mehr alleine denn bei Leuten. \\ Küsse nun ein Jedermann /\\ wie er weiß / will / soll und kan.\\ Ich nur und die Liebste wissen /\\ wie wir uns recht sollen küssen.\\ Man fühlt sich hineingestoßen in die Freude, die sich aller [[Welt]] öffnen will. Wer ein [[Gedicht]] über die [[Technik]] des Küssens schreibt, kann der Konvention bestenfalls ein müdes [[Lächeln]] abgewinnen. Und dabei ist das Distanzieren doch die wichtigste politische Kardinaltugend. Inwiefern die im Gedicht geäußerte Spannung für Flemings [[Leben]] charakteristisch sein sollte, wird zu untersuchen sein.\\ //Wie er wolle geküsset sein// ist kein distanziertes oder von gesellschaftlichen Konventionen verklärtes Herangehen an das Leben. Das Barockzeitalter ist eines der [[Gegensatz#Gegensätze]], auf der einen Seite das [[vanitas]]-Gefühl, das der Vergänglichkeit allen [[Dasein#Daseins]], mit einer daraus resultierenden [[Leichtlebigkeit]], dem Genießen des [[Augenblick#Augenblicks]]; auf der anderen Seite gibt die erstarrte Konvention einer auf [[Etikette]] festgelegten Hofkultur keinen [[Raum]] für natürliches Erleben, ja, es werden in zig Gedichten Lobgesänge auf Personen, vergangene Zeiten (die [[Herkunft]] des Fürstengeschlechts betreffend) oder politische Zustände mit exakter Regelhaftung gesungen, [[Panegyrik]] nennt sich das.\\ Das obige Gedicht nun besitzt die [[Form]] einer dreifachen [[Kanzone]]. In der ersten [[Strophe]] wechselt die Kadenz von[[männlich]] [[[Grund]] – Mund ([[Kadenz]])] zu [[weiblich]] (leise – weise). Der [[Reim]] ist paarig, also aa und bb angelegt. Das erste Reimpaar der Strophen ist siebensilbig, das zweite Reimpaar achtsilbig. Die Kanzonen unterscheiden sich in ihrem Aufbau durch den [[Charakter]] ihres Ausklingens. Währenddessen die erste Kanzone jeweils männlich und weiblich ausklingt, sind die beiden anderen puristisch, soll heißen, entweder männlich (dritte Kanzone) oder weiblich (zweite Kanzone).\\ Im [[Text]] selbst ist ein lyrisches [[Ich]] (bis aufs Schlußdistichon) genauso zu vermissen wie ein minnesängerischer [[Wechsel]] des erzählenden, beschreibenden oder leidenden Ichs. \\ [[Thema]] des Textes ist die Technik des Küssens. Es läßt sich ein [[Kreis]] junger Leute vorstellen, die, in den Bursen sitzend, sich gegenseitig [[Erfahrung]]en mit dem anderen Geschlecht um die Ohren hauen, keinen Casus auslassend, das eigene Ego recht weltmännisch dastehen zu lassen. Dies mag ein Grund für die [[Kasualdichtung]] sein, der dieses Lied wohl zuzuordnen ist.\\ Da das Küssen hier als ein zufälliges, aber dennoch gewissermaßen einmal zwangsläufiges Thema für ein Kasualgedicht sein muß, liegt ein historischer Exkurs in die Ursprünge der Kußdichtung (lateinisch //suavium//) nahe. Die Kußdichtung geht auf den [[Römer]] [[Catullus]] (87 v.Chr.-53 v.Chr.) zurück, der in seiner Liebe zu Lesbia, einer sittenlosen Dame, schmachtete und Kompensation suchte. //Rubella seu Suavorium liber I//, 1631 in Leipzig erschienen, ist eine Hommage an Catull und an die 1630 an der [[Pest]] verstorbene Lesbia (!), Flemings Geliebte.\\ Fleming leistet in seinem Buch nicht nur eine Hommage an Catull, sondern leistet auch etwas [[Neues]] für die [[Gattung]] des Kußgedichts. Er verbindet den petrarcistischen Paarreim (weit - leid; Mund – Grund; gezwungen – Zungen) mit eben jenem //suavium//. Die petrarcistische Manier, die [[Geliebte]] säuberlich getrennt nach Körperteilen zu beschreiben, wird von Fleming in einer Beschäftigung mit dem [[Wesen]] und der [[Wirkung]] von Liebe aufgelöst. Die Hinwendung zu [[Petrarca]] mag gleichsam für das [[Streben]] nach [[Natürlichkeit]] des [[Ausdruck]]s stehen. Das Thema „[[Treue]]“ ist nicht mehr das den Text Beherrschende; es geht um das Exempel, die eigene Liebesauffassung auszudrücken. Die neue [[Tugend]] des 17.Jahrhunderts stand stärker als die vorangegangene des [[Humanismus]] und der [[Renaissance]] auf den Füßen des [[Stoizismus]] und wollte die Gültigkeit und Leistung des eigenen Lebens betonen. Das zieht Fleming zum [[Adel]]. Fleming wollte einer der //nobilitas litteraria// sein, andererseits – epigrammatisch – ist die [[Wendung]] [[Zeichen]] seiner eigentlichen Herkunft, derer sich Fleming nicht zu schämen scheint: //Küsse nun ein Jedermann//... \\ Die Zeit, in die Paul Fleming hineingeboren wurde (Geburtsdaten: 5.Oktober 1609 bis 2.April 1640), war eine Zeit der [[Parteilichkeit]]. Als [[Sohn]] eines evangelischen Pfarrers im erzgebirgischen Hartenstein wurde er entsprechend erzogen. Er besuchte die Lateinschule in Mittweida und studierte ab 1629 in Leipzig Medizin. In Leipzig begegnete Fleming der bedeutendste Dichter seiner Zeit, Martin [[Opitz]] (1597-1639), der 1624 die „Deutsche Poeterey“ zur Rechtfertigung eigener Versuche und gegen den [[Mangel]] entsprechender deutscher Gedichtformen veröffentlichte. Dieses Treffen muß für Fleming von entscheidender [[Bedeutung]] gewesen sein; seinen bis dahin neulateinischen Dichtungen gesellten sich Versuche in deutscher [[Sprache]] zu. Zu diesen Versuchen muß auch unser Gedicht zugerechnet werden, welches eine Verquickung aus lateinischer [[Tradition]] (//suavium//) und deutscher (Opitzscher) Verslehre ist. Wenn man jetzt das siebente [[Kapitel]] der //Poeterey// zur Hand nimmt und Flemings Gedicht daraufhin untersucht, wird man in ihm einen gehorsamen Schüler finden. Das siebente Kapitel behandelt die Regelpoetik. Opitz stellt drei Prinzipien auf:\\ === I. Reimprinzip === Gewährleistet sein muß die Übereinstimmung vom Klang, wobei dies phonetisch und nicht lexikalisch gilt. Die buchstabengetreue Reimerei wird abgelehnt (bist – ist); ein gleiches gilt für den gespaltenen Reim (ruhig – tu ich). In unserem Gedicht gilt dies insbesondere für die Verse 9/10, 11/12, 19/20, 21/22, 23/24. Interessant in diesem [[Zusammenhang]] ist die [[Tatsache]], daß Fleming in [[Vers]] 22 den eigentlich schon zu seiner Zeit üblichen Doppelkonsonanten nach kurzgesprochenen Vokalen auf nur einen reduziert, um Opitzens [[Regelpoetik]] öfter zu genügen. Die vollständige Durchführung dieses Reimprinzips läßt sich jedoch scheinbar nicht konsequent durchhalten. === II. Alternierendes Prinzip === Dieses [[Prinzip]] sieht den gleichmäßigen Wechsel von trochäischem und jambischem Auftakt vor. Mit diesem metrischen Prinzip scheint sich Fleming in diesem Gedicht jedoch gestritten zu haben, denn der Auftakt ist beinahe durchgängig trochäisch, lediglich in der letzten Strophe hält sich Fleming an Opitzens alternierendes Prinzip.\\ Eine Erklärung für dieses Vorgehen: Fleming ging es in den beiden ersten Kanzonen um Verneinungen, weil in technischer Hinsicht all zu oft [[Fehler]] gemacht werden und der Wissende, als der Fleming hier auftritt, sicherlich die [[Pflicht]] besitzt, auf Fehler hinzuweisen. So erklärt sich das trochäische nicht als Ausdruck eines inhaltlichen Sonderrechts gegenüber der formellen [[Forderung]], wie sie Opitz aussprach. In der letzten Kanzone tritt uns epigrammatisch ein Resümee entgegen; jenes sollte sich auch formal vom vorigen unterscheiden, also hier jambischer Auftakt. === III. Akzentuierendes Prinzip === In diesem Prinzip geht es um die Gleichsetzung von Vers- und Wortakzent. Fleming hält sich in seinem Text beinahe durchgängig daran. Ausnahmen bilden die Verse 3/4 und wiederum 21/22. Fleming löst, um diesem Prinzip zu entsprechen, das Kompositum „Kinderspiel“ binär auf, um den Akzent sowohl auf dem Worte [[Kind]], als auch auf dem Worte Spiel zu wissen. Die von Fleming ausgeführten Differenzierungen zur Opitzschen //Poeterey// sind auf dichterische Intentionen zurückzuführen. Bei Opitz spielt das Didaktische die Hauptrolle, Fleming setzt als Dichter den Hauptakzent für sein Tun auf das Gefühlsmäßige. Dem fällt die [[Form]] eben gelegentlich zum [[Opfer]]. Fleming nahm als [[Student]] leidenschaftlichen Anteil am politischen Geschehen und schrieb flammenden Herzens patriotische Reden, die ihm im protestantischen weltoffenen Leipzig zur Ehrung eines //poeta laureatus// (gekrönter Dichter) verhalfen. Sein dichterisches [[Selbstbewußtsein]] schlug sich u.a. in einer [[Horaz]]-[[Ode]] nieder: //Ja, ich schuf mir ein Mal, dauernder noch als Erz...// und gipfelte in dem selbstherrlichen und bar jeder absolutistischen Abhängigkeit seienden Wahlmotto: //Mein Rittergut bin ich!//\\ In diesem Ausspruch repräsentiert sich das [[Bewußtsein]] einer neuen Berufsrepräsentanz des Schriftstellers. Fleming verfaßte zudem Flugschriften angesichts des herannahenden Tilly und beklagte die neutrale Stellung des protestantischen [[Sachsen]] im Dreißigjährigen Krieg. Wallenstein und Tilly sind die katholischen Hauptwidersacher; [[Gustav Adolf]], der Schwedenkönig dagegen wird als Erretter des nationalen Notstands betrachtet. Diese verquere politische Einschätzung, die sowohl des Schwedenkönigs als auch die des kaiserlichen Heerführers [[Wallenstein]] tatsächlichen politischen Zielstellungen verkannte, stehen jetzt nicht im [[Zentrum]] dieser Betrachtungen. Flemings Kußgedicht ist es. Und zum [[Küssen]] gehört ein Mädchen. Der [[Patriotismus]] Flemings konnte Deutschland demnach nur als Mädchen begreifen! Im Germania-Anagramm Margenis ist Deutschland ein schönes [[Mädchen]], um das gebuhlt wird. Die [[Deutsche]]n selbst buhlen um dieses Mädchen, aber sie tun es ohne Eier: //Wir Männer ohne Man,\\ Wir Starken auf dem [[Schein]],\\ So ists um uns getan,\\ Uns Namensdeutsche nur!\\ Ich sags auch mir zum Hohne.//\\ Flemings Leben und Wirken bedingen einander wie bei keinem anderen deutschen Dichter jener Zeit. //Von Liebe kommt mir alles Leid.\\ Ich weiß von keiner Zeit,\\ Die mich erfreut.// (aus: //[[Schmerz]] und Verlust//) Leipzig! Die [[Stadt]] war seinerzeit der Ort, wo romanische Liedformen mit dem schlesischen Schwulst eines [[Hoffmann#Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau]] verschmolzen, zugleich wurden die ostpreußische Kantigkeit eines Albert, dessen Arien und Melodeyen seinerzeit Furore machten, mit diesen Formen verwoben. In dieser Zeit trennten sich die Dichter vom Volksliedhaften des [[Mittelalter#Mittelalters]], und es mag gerade ein Verdienst Flemings sein, volkstümliche Elemente nicht gänzlich aus dem dichterischen Schaffen verbannt zu haben; dies verhalf dem [[Volkslied]] in seiner Unmittelbarkeit des Erlebens zum dichterischen [[Überleben]].\\ Nach seinem Studium in Leipzig begleitete Fleming als Hofjunker (//nobilis aulicus//) und [[Truchseß]] (eine Art von Essensverantwortlicher) den Weltreisenden [[Olearius]] im Auftrag des schleswigschen Herzogs. Die Reise sollte übers ferne [[Rußland]] ins noch fernere Persien führen; die norddeutschen Händler suchten auszubeutende Quellen für künftige Geschäfte. Im November 1633 schiffte man sich in Travemünde ein und gelangte über Riga und [[Moskau]] nach Persien.\\ In der Ferne wuchs die Liebe zum [[Vaterland]], welches in jenen [[Jahr]]en Schauplatz des dato entsetzlichsten Krieges war. In Rußland und Persien schrieb er Gedichte, die gleichermaßen die Vergänglichkeit des irdischen [[Sein#Seins]] einfangen, wie auch den Freuden des Lebens aufgeschlossen gegenüberstehen. Fleming suchte das erfahrene Material des Lebens in die Form zu pressen. Es gelang ihm formal in der Weise, als daß Fleming bis heute als [[Meister]] der barocken Sonettdichtung gilt. \\ Durch [[Krankheit]] und winterliche Unannehmlichkeiten war Fleming auf der Rückreise von Persien zu einem längeren Aufenthalt in Reval gezwungen. Dort lernte er die Kaufmannstochter Elsabe Niehus kennen und lieben. Die Liebe war nicht gegenseitig. Elsabe lehnte eine gemeinsame Reise nach Schemacha/Aserbaidschan ab und heiratete einen Dorpater [[Professor]]. Fleming sublimierte sie fortan in seinen Liebesdichtungen. Aber wollte mehr. Er wollte sich niederlassen und eine Frau. Er schiffte sich nach Leyden ein, um an der dortigen [[Universität]] zu promovieren. Zwar war er in Leipzig bereits ein magister artium geworden, doch [[Mars]], der Unhold aller [[Kunst]], hatte seine Karrierepläne geendigt, bevor Fleming ein Auskommen finden konnte. Fleming blieb ein Suchender. //Carpe diem//, so sein Motto. Seine Dichtung durchziehen deshalb Vergänglichkeits- und Erlebnismotive. Aber Fleming mahnte auch: So rief er die kriegführenden Parteien auf, endlich [[Frieden]] zu schließen und [[Deutschland]] nicht länger zu verheeren. Sein Ruf verhallte den Lebenden ungehört, doch Spätere nahmen sein [[Wort]] auf, lobten seine dichterischen und politischen Leistungen: Der Polyhistor [[Morhof]] nannte Fleming 50 Jahre nach dessen [[Tod]] einen unvergleichlichen [[Geist]], der mehr auf sich selbst als auf fremder [[Nachahmung]] beruhe. [[Leibniz]] nannte ihn einen Horaz, [[Gottsched]] sah in ihm bloß einen Reflexionsdichter, einen gefühlsduseligen Selbstlobler ohne pädagogische Attitüde, volkserzieherischen Momenten abhold. [[Varnhagen]] von Ense dagegen nennt Flemings Engagement eine schon dem Parteiwesen entrückte Vaterlandsliebe. Und [[Goethe]] schließlich nannte Fleming ein recht hübsches Talent, der ihm aber aufgrund seiner Affinität zum barocken Lebensgefühl der Vanitas jetzt nichts mehr helfen könne.\\ Flemings literarisches [[Talent]] scheint unzweifelhaft. Doch scheiterte er in einer [[Zeit]], die es ihm nicht ermöglichte, sich Gehör zu verschaffen.