====== ROUSSEAU ====== ===== Jean-Jacques Rousseau ===== 1712-78\\ schweizer [[Schriftsteller]]\\ - aus Genf, von Hause aus Calvinist\\ - kein Philosoph, aber starke Auswirkungen auf die [[Philosophie]], den Geschmack, die [[Sitte#Sitten]], die [[Literatur]], die [[Politik]]\\ - Appell ans [[Herz]], darin liegt seine [[Bedeutung]]\\ - früher Verlust des Elternhauses, Flucht nach Savoyen\\ - Übertritt zum [[Katholizismus]]\\ - später [[Lakai]] bei Gräfin de Vercelli, die einem uralten italienischen Grafengeschlecht entstammte, das immer gegen das [[Reich]] eingenommen war\\ - unstetes Wanderleben, bei dem er sich durch charakterlose Taten „auszeichnete“ → er ließ seine Gefährten in Krisensituationen regelmäßig im Stich, wie es ihm das Herz befahl\\ - seit 1743 lebte er mit einem einfachen [[Mädchen]], Therese, zusammen, die ihm fünf Kinder gebar, die Rousseau alle ins [[Findelhaus]] brachte\\ - berühmt nach 1750; glückliche Jahre mit der Feindschaft zu [[Voltaire]]\\ - Probleme in Genf, wohin er zurückgekehrt war\\ - Asyl durch [[Friedrich#Friedrich II. der Große]] in dessen [[Enklave]] Neuenburg; auch dort Probleme mit den Bewohnern\\ - 1762 Flucht nach [[England]]\\ ==== Ethik ==== - sein //Gesellschaftsvertrag// sieht die totale [[Hingabe]] des [[Einzelne#Einzelnen]] an die [[Gemeinschaft]], daraus folgt die absolute [[Gleichheit]] → der [[Staat]] erhält die absolute [[Macht]], die er aber nicht tyrannisch mißbraucht\\ __Grundfrage__: Wie kann ein Staat geschaffen werden, worin es keinen einzigen Unfreien mehr gibt, worin der einzelne in der Gemeinschaft nicht das geringste vom Unrecht seiner [[Freiheit]] opfert?\\ → durch Entäußerung an alle bleiben Freiheit und Recht beieinander\\ - dem Menschen müssen fremde [[Kraft#Kräfte]] gegeben werden, eine zweifelsfreie [[Überzeugung]], die er nur im [[Zusammenhang]] mit anderen gebrauchen kann, um glücklich zu werden\\ - dem Menschen müssen die egoistischen und atavistischen Kräfte genommen werden zugunsten der eigenen Kräfte, //forces propres// \\ - klare Orientierung an [[Lykurg]]\\ - [[Verantwortung]] beim absoluten [[Wesen]], das mit dem allgemeinen [[Wille#Willen]] zusammenfällt\\ - 1750 erste schriftstellerische [[Arbeit]] zu einer Preisfrage: „Haben die Künste und Wissenschaften dem Menschengeschlecht [[Segen]] gebracht?“ → Rousseau verneinte und erhielt den Preis\\ - er begründete seine [[Meinung]] mit dem Hinweis darauf, daß [[Sittlichkeit]] und [[Glück]] nicht in eins gesetzt werden dürften\\ - der Naturzustand ist glücklicher und besser als der der [[Zivilisation]], denn in der Zivilisation bekämpften sich alle\\ - der Mensch aber ist von [[Natur]] aus [[gut]], d.h. solange er rein gefühlsmäßig und instinktiv handelt\\ - die zivilisierte Reflexion dagegen zerstört das innere Gleichgewicht und läßt Wünsche wachsen, die nur gegen andere befriedigt werden können → es ist also eine [[Kultur]] zu schaffen, die die natürliche Entwicklung des einzelnen als Teil der Gesamtheit anspricht und letztlich für die Gesamtheit wirkt ==== Lehre ==== - Neuerung in [[Theologie]] und Philosophie → [[Argument#Argumente]] aus dem Bereich der Empfindung statt aus dem Intelligiblen, z.B. [[Gefühl]] für [[Recht]] und [[Unrecht]], Gefühl der [[Ehrfurcht]], des Mysteriums, Gefühl der [[Sehnsucht]] nach dem Höheren... - die [[Konstitution]] des Gemeinwesens aus Vertragsdenken des einzelnen\\ → der Gesellschaftsvertrag konstituiert die [[Basis]] des Staates\\ - Gott ist ein menschlicher Gedanke, der an einem schönen Sommerabend dem Menschen aufging\\ - Gott als Begründung eines religiösen Gefühls zu benennen, führt nur zur [[Verwirrung]]; man muß Gott fühlen → das Gefühl ist dem reflektierenden Verstande der Aufklärer überzuordnen\\ - die [[Idee]] Gottes und die Wirklichkeit des Gefühls, daß es eben Gott gibt, ergeben eine Einheit\\ - Gott entstammt und lebt als ein Gefühl, das keine Spannung zwischen dem religiösen [[Grundgefühl]] und der Wirklichkeit zuläßt → wenn das Gefühl weg ist, ist auch das Gottesbewußtsein nicht mehr da === die Entwicklungslinie des Menschen === - [[Selbstliebe]] - Nächstenliebe - Liebe zu Gott - Gefühl der inneren überströmenden Kraft → Liebe zum Nächsten durch Insichtnahme des Eigenen ==== Pädagogik ==== - fußt auf dem Grundsatz der naturgemäßen Entwicklung\\ - der Erzieher beseitigt Hindernisse, die die freie Entwicklung des Zöglings behindern\\ - das Kind wird als Selbstwert geachtet und vor den schädlichen Einflüssen der [[Gesellschaft]] bewahrt\\ - das [[Theater]] ist keine Erziehungsanstalt, sondern: die Unsittlichkeit der [[Schauspieler]] und ihre weitverbreitete [[Verachtung]] liegt in ihrer Profession ==== Staatslehre ==== - wendet sich gegen die [[Mandeville#Mandevillesche]] Schlußfolgerung - arm und tugendhaft oder reich und verrucht - und nennt die [[Tugend]] propädeutend bei allem Tun \\ - der Staat beruht auf dem stillschweigenden Vertrage souveräner Individuen, dessen Ergebnis die Konstituierung eines Volkes ist: vom Willen dieses Volkes geht alle Gewalt aus, die unteilbar, zudem als [[einzelne]] [[Akt#Akte]] aus diesem herausfließen, emanieren\\ - der [[Gesamtwille]], //volonte generale//, ist von der Summe des Willens der Einzelnen, //volonte de tous//, zu unterscheiden, ist aber in den Gesetzen wiederzufinden: er ist die letztlich das gesamte Staatsgebilde zusammenhaltende [[Kraft]]\\ - die Gesetze sollen das gemeinschaftliche Leben verwirklichen helfen\\ - das [[Volk]] trägt die [[Souveränität]], die sich in örtlicher direkter [[Demokratie]] ausspricht\\ - Rousseau lehnt das Verfahren der Gruppen- und Parteienbildung als Form der Interessenauseinandersetzung ab, da es für ihn zur Verfälschung des Gemeinwillens und zu seiner Unterordnung unter partielle Interessen führt\\ - der aufgeklärte [[Absolutismus]] läßt sich nicht aus seiner Lehre herausevozieren, denn jede Regierung dient dem //volonte general//: zwischen Regierung und Souverän wird eine Trennung durchgeführt, wobei die Regierung dem Souverän (Volkswillen) untergeordnet wird\\ - die Regierungsform ist Rousseau gleichgültig, da sie ja den Souverän nicht berührt, sondern von diesem geführt wird: ergo kann es eine Monarchie, Demokratie oder Aristokratie geben\\ - das Gepräge seiner Schriften wird durch die Spannung zwischen der radikalen destruktiven Kritik an der bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung und dem Andeuten einer Alternative in Form einer potentiell grundlegenden Umwandlung des Menschen durch die Gesellschaft im positiven Sinne bestimmt → Rousseau glaubt an die Kraft durch das Gesetze schaffende aufgeklärte Fürstentum (nicht per Ausdruck, aber dem Geiste nach schon, da er sämtliche Gewalt in diesen allgemeinen Willen legt, der letztlich auch in einer Person verkörpert sein kann) bzw. den allgemeinen Körper einer gesetzgebenden Versammlung mit der Macht, eben die Gesetze zu schaffen, die zur Besserung des Menschengeschlechts notwendig sind === Axiome === - Die Volksgewalt ist unübertragbar. - Das Volk ist Inhaber, Ausüber und Obrigkeit. - Die [[Verfassung]] kann die Volksgewalt nicht beschränken. - Es gilt die absolute Gleichheit aller. === contract social (Der Gesellschaftsvertrag) === 1762\\ __Prinzip__: Ablehnung der These vom (naturrechtlichen) Herrschaftsvertrag. Statt dessen Annahme des Gesellschaftsvertrages für die Staatsbildung.\\ //Wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf, sofern es seine ganze Kraft unter die Leitung des Allgemeinwillens stellt.!//\\ __Hauptproblem__: Wie können die als vereinzelt lebenden Indivuduen zu einem gerechten und natürlichen Staatsganzen (moralische Staatsganzheit) zusammengefaßt werden?\\ - es tritt mit voller Macht das Volk auf, ständisch ungeteilt, unrepräsentiert → jeder Vertreter verfälscht das Anliegen der zu Vertretenden\\ - Vorzüge der kleinen Staaten, wo der öffentliche Wille sich unmittelbar kundgibt\\ - das englische [[Parlament]] ist eine Farce, ein Gegaukele vs. Volk\\ - die [[Wahl]] macht nicht frei, es ist nur der [[Augenblick]] der Wahl, sonst ist das Wahlvolk [[Sklave]], weiter nichts\\ - die Untertanen dürfen als Mensch einen Willen haben, das gemeinsame Interesse ist auf Schuldigkeit gerichtet\\ - wenn der einzelne sich nicht unterordnen will, kann man ihn zwingen, frei zu sein → der allgemeine Wille ist das Über-Ich, das, was alle wollen, aber nicht wissen: Rousseau ersetzt den absoluten Staat durch die absolute eine Idee: Wehe dem, der nicht will!\\ - der [[Souverän]] kann kein Interesse gegen die Gemeinschaft haben\\ - das Recht auf [[Eigentum]] ist gebunden an Gründe: - wenn das Land besitzlos war - wenn ich nehme, was ich brauche - wenn ich das Land gestalte; es besteht eine [[Pflicht]] dazu == Religion == __Item__: es geht nicht um Wahrheit, sondern um politische Zweckmäßigkeit → [[Vorwurf]] ans (katholische) [[Christentum]], welches es dem Menschen unmöglich mache, gleichzeitig frommes Glied der Kirche und guter Staatsbürger zu sein\\ - Rousseau verlangt, daß sich jeder [[Staatsbürger]] zu einer Religion bekennen müsse, die ihn seine Pflichten gegenüber dem Staat und seinen Nächsten liebgewinnen läßt: die Religion wird zu einer Art metaphysischer Unterbau des Staatsganzen == Kritik am contract sozial == - das Meisterstück der genialen Kurzschlüsse: volonte generale → Aus den covenants [Vereinbarungen] der [[Calvin#calvinistischen]] Ahnen wird in dem ungläubigen Nachkommen [Rousseau] der Gemeinwille, dem sich das [[Individuum]] restlos hingibt. Diese //volonte generale//, in der alle [[Willen]] versinken, ist nun der natürliche Mensch ohne Schranken, darum das Gute selbst. Ihre [[Souveränität]] ist unbeschränkt, unteilbar, unübertragbar. Irren kann sie nie; was sie je will, gilt. (Freyer)\\ __Prämisse des contract social__: ich will um dich herumlaufen [Herrscher, Souverän], Mittelpunkt, wenn du im Mittelpunkt bleiben willst; bleibst du nicht im Mittelpunkte, so laufe ich woanders hin und habe das [[Recht]] zu laufen → Basis des [[Widerstandsrecht#Widerstandsrechts]]\\ __daher kann folgendes kritisiert werden__: Aus dem Privatrechte von dem ersten besten Pachtkontrakt her nahm man diesen [[Begriff]] des Kontraktes. Die einfache [[Natur]] aller Gegenseitigkeit, die ein Kind begreift, war aus dem Pachtkontrakte sehr bald in den Sozialkontrakt übergetragen; aber die Natur der beiden streitenden und kontrahierenden Parteien und der [[Streit]] dieser politischen Zentripetal- und Zentrifugalkraft ward vollständig verfehlt: das rund für sich abgeschlossene Privatrecht konnte wohl mit dem Begriffe des Kontrakts aufwarten; aber wo sollte es, von den großen Rechtsverhältnissen im Staate durch seine eigene, unpassende Genügsamkeit ausgeschlossen, die [[Idee]] des Kontraktes hernehmen? eine Idee, die sich gleich lebendig bewährt hätte, man mochte sie nun auf einen ordinären Pacht- oder auf den ewigen Sozialkontrakt anwenden. Zu entscheiden zwischen [[Volk]] und [[Souverän]] und demzufolge den Souverän abzusetzen, hatte der [[Richter]] in seiner Privatrechtsschule wohl gelernt; aber die [[Kunst]] des Vermittelns zwischen den beiden gleich [[ewig#ewigen]], gleich notwendigen Parteien fehlte ihm. ([[Müller#Adam Müller]]) ==== Rezeption ==== - „Abhandlung über den [[Ursprung]] der Ungleichheit unter den Menschen“ → Meisterwerk der [[Dialektik]] ([[Engels]])\\ - Die poetische Kraft, mit der Rousseau den Glauben an die Vernunft und sogar die Vernunft selbst zu einer neuen Macht umgedacht, sie zugleich enthront und glorifiziert, verwundet, gekreuzigt und geheiligt hat, ist ungeheuer. Ungeheuer ist darum auch seine Wirkung; wer unter den Großen der Zeit, Goethe und Kant nicht ausgenommen, stünde nicht zutiefst unter seinem Einfluß! (Freyer)\\ [[Hume]]: „Er hat sein ganzes [[Leben]] lang nur gefühlt, und seine [[Empfindsamkeit]] hat einen Grad erreicht, den ich beispiellos finde; aber sie ist auch die [[Ursache]], daß er den [[Schmerz]] viel heftiger spürte als die Freude. Er gleicht einem Menschen, dem man nicht nur die Kleider, sondern auch die Haut abgestreift hat, um ihn in dieser Verfassung in den Kampf mit den rohen, ungestümen Elementen hinauszustoßen.“\\ - einflußreicher [[Vorkämpfer]] gegen [[Intellektualismus]] der [[Aufklärung]] → Förderer des [[Idealismus]] in Deutschland (Lempp)\\ - ein trauriger Figaro, der sich über den eigenen Unrat hinwegträumt und eine ganze [[Nation]] mitreißt ([[Mann]])\\ - Bild für [[Sklavenaufstand]], Figur der französischen Revolution ([[Nietzsche]])\\ - daß er in dem Ideale, das er von der [[Menschheit]] aufstellt, auf die Schranken derselben zu viel, auf ihr [[Vermögen]] zu wenig Rücksicht genommen und überall mehr ein Bedürfnis nach moralischer Übereinstimmung zwischen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit darin sichtbar sei... daß er das [[Ziel]] lieber niedriger steckt und das [[Ideal]] lieber herabsetzt, um es desto schneller und sicherer zu erreichen ([[Schiller]])\\ - wendet sich gleichermaßen gegen [[Locke]] (liberales [[Denken]]) und [[Montesquieu]] (Gewaltenteilungslehre), da das Staatsoberhaupt nicht wie ein Flickenteppich zusammengesetzt sei, sondern als organisches Ganzes verstanden werden müsse → daher auch sei Widerwille gegen den scheinbaren [[Individualismus]] Lockes\\ - entwickelt wie [[Bodin]] und [[Hobbes]] eine rational-logische [[Theorie]], allerdings nunmehr auf dem [[Boden]] der [[Aufklärung]] stehend, weshalb er zu dem Schluß kommt, daß alle Gewalt von einem [[Prinzip]] ausgehen müsse: doch während Bodin und Hobbes das Volk außen vor ließen, stellte Rousseau es mit dem [[Begriff]] der [[Volkssouveränität]] ins Zentrum seiner Staatsphilosophie (Schwan)