====== SOKRATES ====== ===== Leben ===== - v.a. zur Spartanerzeit 404/3 v.Chr. führte Sokrates Ämter aus, deswegen später Vorwürfe, weil er [[Amt#Ämter]] zur demokratischen [[Zeit]] nicht bekleidet hatte; - sein [[Tod]] war die Folge der unvermeidlichen [[Schuld]] der Verletzung des Bestehenden ([[Hegel]]) ===== Allgemeines ===== - mit Sokrates wird in Griechenland die [[Philosophie]] ein allgemeiner Gegenstand des [[Denken#Denkens]] → er führte die Philosophie vom Himmel auf die [[Erde]], in die Häuser\\ - das [[Ich]] hat sich in sich selbst bewiesen und will sich auf andere übertragen: [[Subjektivität]] des Denkens → Umschlag des theoretischen ins praktische Denken\\ - Sokrates hat den [[Gedanke#Gedanken]] in sich zuerst gefaßt: die Altvordern hatten den Gedanken nicht in dem selbstbezogenen [[Sinn#Sinne]] reflektiert → Sokrates dachte über das Denken nach\\ - seine philosophischen Kenntnisse bezog er durch das Lesen von [[Anaxagoras]], [[Heraklit]] und Akelaos u.a.\\ - seine Gesprächstechnik ist ad hominem und überredend, persuativ, d.i. „unphilosophisch“, denn sie ist an die Person gebunden\\ - Sokrates philosophierte mit jedem, der ihm in den Weg kam, um das [[allgemein#Allgemeine]] im Besonderen zutage zu bringen → das Suchen ist wichtiger als das Finden, weil das Nachdenken selbst der philosophische [[Akt]] ist ===== Lehre ===== - betont einen Dualismus zwischen [[Körper]] und [[Geist]] → diese können in Verbindung treten, sind aber ihrem Naturell nach verschieden\\ - sein [[Thema]] war die [[Ethik]], nicht anderes wie [[Physik]] oder [[Erkenntnistheorie]]\\ - seine Verbindung zu den Sophisten rührt aus einem gemeinsamen Gedanken → die Sophisten wie auch Sokrates behaupteten, daß das [[Recht#Rechte]] und Schlechte nicht von [[Natur]] her sei, sondern durch Konvention geschaffen werde → bestreitet die Grundschlechtigkeit des Menschen\\ - ihn trennt grundsätzlich von den Sophisten, daß Sokrates nach dem Bleibenden und Allgemeinen suchte und das er seine Suche nicht gegen Entgelt mit unbedarfteren Suchern teilte\\ - er galt als in allem unterrichtet\\ - dem Menschen ist zu suchen aufgetan, er muß das [[Wahre]], das Anundfürsichseiende aus sich selbst erkennen\\ - die Gefragten sagen, wenn man recht zu fragen versteht, selbst alles so, wie es sich verhält\\ - entbinden, nicht zeugen heißt mich der [[Gott]]\\ - liebend gibt der Sterbende vom besten\\ - mahnte an das γνωδι σεαυτον (Wissen davon), eine Art von Ahnung des Göttlichen in uns, die übers Ahnen hinausreicht und uns dazu veranlaßt, das Gute zu tun ==== Irrglaube des Sokrates ==== - die sittlichen Begriffe und Werturteile seien etwas Reales, an sich Existentes, also lehrbar → statt dessen ist wahrscheinlicher, daß sie dem Denken und Wollen entstammen und keineswegs axiomatisch oder naturgesetzlich sind ==== Methode ==== - steht auf innerem [[Grund]] im [[Gegensatz]] zu neueren langweiligen objektiven Methoden - [[Ironie]]: gegen die Sittlichkeit, aber nicht darüber - Maioitik: - den Gedanken, der schon vorhanden ist, ans [[Licht]] bringen\\ - fragend\\ - der ideale Antworter bei [[Plato#Platon]] hat immer recht, d.i. eine Frage der guten [[Sitte]] → deswegen der [[Vorwurf]] der Sophisterei\\ - Hervorbringen des Allgemeinen, Bewußtseinsbildung → Entwicklung der [[Vernunft]]\\ - [[Bewußtsein]] verwirren und in Verlegenheit bringen ===== Tugend ===== - Zentralthema Sokrates' → Welches [[Wesen]] hat die [[Tugend]]?\\ - als sicher gilt, daß Sokrates sie als φρόνησις bezeichnete, d.i. das aus vollem Bewußtsein und klarer Einsicht hervorgebrachte [[Tun]], denn was ohne Einsicht geschieht, verdient nicht das Prädikat gut, was dagegen mit Einsicht geschieht, ist immer [[gut]]\\ - das Beste zu tun und das Wahrste zu wissen ===== Sokrates' Prozeß ===== - eines der folgenschwersten [[Ereignis#Ereignisse]] der griechischen [[Geschichte]]\\ - letztlich waren beide Seiten im Recht → die attische Demokratie hielt am Götzendienst fest, während Sokrates rationelle und religiöse Wahrheit vereinbaren wollte\\ - der Streitpunkt war die Frage, ob man unter den veränderten Umständen nach dem [[Krieg]] weiterhin so leben könne, wie dies bisher der Fall war\\ - während die Ankläger Anytos und Meletos an die Erneuerung der demokratischen [[Gesellschaft]] dachten, nahmen sie den größten Individualisten aufs Korn, dessen mißratene Schüler [[Alkibiades]] und [[Kritias]] sich zudem als die ärgsten Feinde [[Athen#Athens]] erwiesen hatten\\ - durch Sokrates’ [[Entscheidung]] setzten sich in der Nachfolge alle griechischen Philosophen in Distanz zum [[Staat]] und seiner [[Tagespolitik]]\\ - er kam in Konflikt mit den Athenern durch das Bewußtmachen eines [[unbewußt#Unbewußten]], Sitte-Moral → sofern der Einzelne über sein [[Handeln]] reflektiert hinterfragt er es und wird kritischer\\ - Sokrates legt das Wahre in die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Bewußtseins → der [[Brauch]], νομός, wird aufgeweicht und kritisch verlebendigt, vielleicht, um nur zu sterben\\ - drei unbedeutende Athener, Anytos, Lykon und Meletos, klagten ihn wegen Nichtanerkennung der Staatsgötter, Einführung neuer Götter, insbesondere die Leugnung der anthropopathischen Elemente der Mythologie, und der [[Verführung]] der Jugend an ==== Zu den Ursachen des Prozesses und seinen weltanschaulichen Hintergründen ==== Die Suche nach dem wahrhaft Göttlichen, sie mußte irgendwann auch die überkommenen Gottesvorstellungen in Frage stellen. Das ist zwangsläufig. Sokrates war nun nicht der erste, der die Tatsächlichkeit der Mythologie anzweifelte. [[Pindar]] erklärte 50 Jahre vor Sokrates die Götterkämpfe für [[Lüge#Lügen]] und [[Xenophanes]] 75 Jahre vor Sokrates gar für [[Märchen]]. Das entsprang keiner Deduktion, sondern einem Gefühl für Wahrscheinlichkeit. Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit von einem Außen aber führte und führt immer wieder zur Anrufung des Überirdischen. Theoretische Grübelei ersetzt keine Gefühle. Manch einer in jenen Tagen mochte die Götter als Irrglauben oder Lug und Trug bezeichnen, das kannten auch die Griechen seit Alters her, das Gefühl sagte und benannte ihnen ein Außen, ein außerhalb ihrer Vernunft sich abspielendes [[Drama]], das auf unsere kleine Innenwelt wirksame Signale sendete, von Zeit zu Zeit. Dieses Gefühl behielt gegenüber allem Grübeln die Oberhand. Aber damit war die Sache längst nicht entschieden. Die Griechen, ein Händlervolk, fragten nach dem Sicheren, nach wahrer Erkenntnis, sie fragten nach dem Sinn des Lebens, nach den Rätseln der [[Menschheit]]: woher komme ich, wohin gehe ich, wer bin ich? Die Dümmeren sagten dazu „Zufall“, „Schicksal“ oder „Kausalnexus“; die Klügeren sahen eine Welt von Plagen, in der sich der einzelne behaupten und bewähren muß. Und die ganz Klugen erkannten tiefere Zusammenhänge, Gerechtigkeitsphantasien entsprossen daraus, Weltordnung wurde gemutmaßt, Verderben und Übertreibung der Ordnung fanden beruhigende Bestrafung, früher oder später. Darauf bauten die großen griechischen Tragiker ihre Stücke, auf die Sühnung der gestörten Ordnung. Und dennoch blieb es dabei: [[Dike]] weint. - die Athener identifizierten Sokrates mit den Sophisten → setzten ein gleiches Wirkungsmotiv, die Relativierung der Werte\\ - Sokrates wurde als demokratiefeindlich eingeschätzt, weil er die Bestimmung der Ämter durch das Los tadelte und einzelnen spartanischen Zuständen den Vorzug gab\\ - die Athener verübelten es Sokrates, daß er keine Staatsämter annehmen wollte ===== Rezeption ===== - hatte Platon überzeugt, daß die Philosophie mit dem Problem des Menschen zu beginnen hätte → diese Frage muß für Platon jedoch im Gegensatz zu Sokrates erweitert werden, weshalb das individuelle Leben verlassen werden muß und die Suche muß auf den größeren Buchstaben des politischen und sozialen Lebens ausgedehnt werden; - ich hasse auch den Sokrates, den armen Schwätzer, der über alles andere grübelt, aber dafür sorgt er nicht, wie er zu essen bekommt ([[Aristophanes]])\\ - Sokrates machte zwei Entdeckungen: - die induktive [[Rede]], d.h. die Hinwendung vom Einzelgegenstand zum Allgemeinen - die begriffliche Bestimmung des Allgemeinen, d.h. im Gegensatz zu den Sophisten war Sokrates’ [[Dialektik]] ein Mittel, um das Bleibende zu finden - in der Praxis zeigt seine Methode zwei Seiten * negativ → das Unwissendstellen/[[Ironie]] führt den Befragten zu dem Punkt, an dem er seine Unwissendheit zugeben muß * positiv → Sokrates übertrug den [[Beruf]] seiner Mutter ins Geistige und barg den Gedanken, den sein Gesprächspartner zumeist unbewußt in sich trug ([[Aristoteles]]) - kannte keine Liebe als die, welche den Umweg durch den Verstand genommen und den Nutzen erwogen hatte, daher er denn auch von der Natur zum Künstler verdorben war; er muß auch solche Menschen geben, und Sokrates ist unter denen, die unfähig waren zu liueben, vielleicht der größte (Forchhammer)\\ - sein Leben verkörpert das Wesen des religiösen [[genie|Genies]]: lebte als Narr, wurde als [[Ketzer]] verurteilt und starb als Heiliger (Friedell)\\ - seine Philosophie schickte sich für jeden Ort und zu jedem Fall → Sokrates brauchte keine Schriften zu seinem Gedächtnisse ([[Hamann]])\\ - Verwissenschaftlichung, mithin [[Aufhebung]] des Griechischen, mit Sokrates beginnt der Verfall\\ - intendierte Vernunftentwicklung\\ - Gegensatz zur griechischen [[Tragödie]], eine Figur des [[Rationalismus]]: personifizierter Vernunftanspruch an die [[Welt]]\\ - Umkehrung des urgriechischen Lebensgedankens: das Unbewußte, das [[Schöpferische]] wird kritisch und lähmend zugunsten des Bewußtseins, welches schöpferisch werden will, Vernunftpostulat \\ Verderber der Jugend durch [[Kritik]] am Bestehenden ([[Nietzsche]])