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lobos [2009/03/14 16:25] Robert-Christian Knorrlobos [2019/07/28 16:16] (aktuell) – Externe Bearbeitung 127.0.0.1
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 „Ich werde auf dich achtgeben. Solange, wie du das willst, Bine“, sagte er zärtlich. Hinter dem feuchten Schleier der Trauer leuchtete das Blau ihrer großen, beinahe schon fraulichen Augen. Sie glaubte es ihm, auch wenn er noch nie Gefallen an ihren Bildern gefunden hatte oder auch, wenn er sie  mit dem Steinesuchen am Strand seit Jahren belog. Sie glaubte ihm diese Treue. Er war ihre Verbindung und der nächste Punkt im Universum. In der Weite ihrer Umwelt spürte sie seine Nähe. Das beruhigte Lobine. Sie hörte zu weinen auf und führte den Bruder ins Haus. das gemalte Bild legte sie beiseite, statt dessen wühlte sie aus Mutters Kiste in Allmaleins, bewies mit gekonnten Konstruktionen, daß sie die letzte Lektion gut gelernt hatte. Lobos lächelte. Er verstand, und sie imponierte ihm. Er hatte es seit Jahren nicht vermocht, seine Gefühle so schnell durch die Vernunft kanonisiert zu sehen. Das konnte er schon heute von ihr lernen.\\ „Ich werde auf dich achtgeben. Solange, wie du das willst, Bine“, sagte er zärtlich. Hinter dem feuchten Schleier der Trauer leuchtete das Blau ihrer großen, beinahe schon fraulichen Augen. Sie glaubte es ihm, auch wenn er noch nie Gefallen an ihren Bildern gefunden hatte oder auch, wenn er sie  mit dem Steinesuchen am Strand seit Jahren belog. Sie glaubte ihm diese Treue. Er war ihre Verbindung und der nächste Punkt im Universum. In der Weite ihrer Umwelt spürte sie seine Nähe. Das beruhigte Lobine. Sie hörte zu weinen auf und führte den Bruder ins Haus. das gemalte Bild legte sie beiseite, statt dessen wühlte sie aus Mutters Kiste in Allmaleins, bewies mit gekonnten Konstruktionen, daß sie die letzte Lektion gut gelernt hatte. Lobos lächelte. Er verstand, und sie imponierte ihm. Er hatte es seit Jahren nicht vermocht, seine Gefühle so schnell durch die Vernunft kanonisiert zu sehen. Das konnte er schon heute von ihr lernen.\\
 Also nahm er ihr die kleinen Gefühlsexplosionen nicht weiter übel; sie störten seinen Rhythmus nicht, wuchteten seine [[Seele]] aus dem Lot, um dieses neu zu bestimmen. Sie gehörten dazu. Sein Lächeln füllte den [[Raum]]. Er legte den Pullover ab und ging auf sein Zimmer, den nächsten Tag in der [[Schule]] vorzubereiten.\\ Also nahm er ihr die kleinen Gefühlsexplosionen nicht weiter übel; sie störten seinen Rhythmus nicht, wuchteten seine [[Seele]] aus dem Lot, um dieses neu zu bestimmen. Sie gehörten dazu. Sein Lächeln füllte den [[Raum]]. Er legte den Pullover ab und ging auf sein Zimmer, den nächsten Tag in der [[Schule]] vorzubereiten.\\
-Auf dem Schreibtisch stapelten sich unleserliche Zettel, imgleichen alte Rollen, die der [[Philologe]] nicht mehr zu enträtseln kam. Lobos griff nach einer, die das Bildnis des HERRN vorstellte, doch ohne tiefergreifende Symbolik schien. Nein, jetzt doch nicht. Für den morgigen Tag wollte er seinen Schülern etwas Neues mitbringen. ‚Ich muß ihnen Wege erschließen. Mit alter [[Emblem]]atik verstelle ich nur die Türen. Aufschließen muß ich‘, dachte Lobos.\\+Auf dem Schreibtisch stapelten sich unleserliche Zettel, imgleichen alte Rollen, die der [[Philologe]] nicht mehr zu enträtseln kam. Lobos griff nach einer, die das Bildnis des HERRN vorstellte, doch ohne tiefergreifende Symbolik schien. Nein, jetzt doch nicht. Für den morgigen Tag wollte er seinen Schülern etwas Neues mitbringen. ‚Ich muß ihnen Wege erschließen. Mit alter Emblematik verstelle ich nur die Türen. Aufschließen muß ich‘, dachte Lobos.\\
 Die Schule, in die er täglich ging, bestand eigentlich nur aus einer Klasse, in der alle schulfähigen Kinder der Inselbewohner wochentags zusammenkamen, um auf ihre [[Zukunft]] vorbereitet zu werden. Doch täusche sich der Leser nicht! Die Schüler entstammten nicht Bauern- und Fischerfamilien. Die hatte ihre historische Herkunft längst abgelegt, alte Bindungen gab es nicht und somit kannte man diese Berufsgruppe überhaupt nicht. Fast alle Bewohner waren Zugezogene – nimmt man einmal zurückgekehrte und städtisch verfeinerte Nachfahren der einstigen Ureinwohnerschaft aus-, Menschen aus den großen Städten des Festlandes, die kamen, als die fremdsprachigen Herren aus dem Norden gingen. Die Ureinwohner, der plötzlichen [[Freiheit]] ungewohnt gegenüberstehend, zogen daraufhin aufs Festland, so daß die Insel über eine Generation unbewohnt blieb, gleichsam zum militärischen Sperrgebiet wie zur Brutstätte wandernder Vögel wurde. Die später hier Ankommenden suchten ein Idyll, um ungezwungen aufzuwachsen, wollten allerdings auch nicht auf die Präliminarien des zivilisierten Gegenwartsmenschen verzichten, die klassisch-gegenwartsbezogene-humanistische [[Bildung]] und bestimmte moderne Errungenschaften wie Telephonleitungen und elektrischen Strom. So setzte unmittelbar mit der Neuerschließung des Eilands eine umfangreiche Bautätigkeit ein, außerdem engagierten die Inselbewohner den bestmöglichen Lehrer für eine Ausbildung mit differenzierendem Unterricht, Lobos’ Vater. Er, Lobos, wollte nunmehr dessen Fußstapfen füllen und des Vaters Weg weitergehen. Ein Unterfangen, zu dem ihm die Ratsversammlung der Inselbewohner für ein halbes Jahr ermächtigte, dann würde ein erfahrenerer Kollege ihn ablösen. \\ Die Schule, in die er täglich ging, bestand eigentlich nur aus einer Klasse, in der alle schulfähigen Kinder der Inselbewohner wochentags zusammenkamen, um auf ihre [[Zukunft]] vorbereitet zu werden. Doch täusche sich der Leser nicht! Die Schüler entstammten nicht Bauern- und Fischerfamilien. Die hatte ihre historische Herkunft längst abgelegt, alte Bindungen gab es nicht und somit kannte man diese Berufsgruppe überhaupt nicht. Fast alle Bewohner waren Zugezogene – nimmt man einmal zurückgekehrte und städtisch verfeinerte Nachfahren der einstigen Ureinwohnerschaft aus-, Menschen aus den großen Städten des Festlandes, die kamen, als die fremdsprachigen Herren aus dem Norden gingen. Die Ureinwohner, der plötzlichen [[Freiheit]] ungewohnt gegenüberstehend, zogen daraufhin aufs Festland, so daß die Insel über eine Generation unbewohnt blieb, gleichsam zum militärischen Sperrgebiet wie zur Brutstätte wandernder Vögel wurde. Die später hier Ankommenden suchten ein Idyll, um ungezwungen aufzuwachsen, wollten allerdings auch nicht auf die Präliminarien des zivilisierten Gegenwartsmenschen verzichten, die klassisch-gegenwartsbezogene-humanistische [[Bildung]] und bestimmte moderne Errungenschaften wie Telephonleitungen und elektrischen Strom. So setzte unmittelbar mit der Neuerschließung des Eilands eine umfangreiche Bautätigkeit ein, außerdem engagierten die Inselbewohner den bestmöglichen Lehrer für eine Ausbildung mit differenzierendem Unterricht, Lobos’ Vater. Er, Lobos, wollte nunmehr dessen Fußstapfen füllen und des Vaters Weg weitergehen. Ein Unterfangen, zu dem ihm die Ratsversammlung der Inselbewohner für ein halbes Jahr ermächtigte, dann würde ein erfahrenerer Kollege ihn ablösen. \\
 Die Menschen auf Samin waren im doppelten Sinne Rückkehrer, zum einen im wörtlichen Sinne, zum anderen erprobten sie die Rückkehr zur Vorvergangenheit. Eingespannt in die Naturkreisläufte und doch mit dem [[Wissen]] der [[Gegenwart]] beschwert, suchten sie die Leichtigkeit des [[Sein]]s ihren Kindern in unbelasteter Natur zu vermitteln. Die Schule bildete hierbei einen Anker im sandigen Boden des Eilands, der die [[Möglichkeit]] zu neuer Verwurzelung schaffen sollte. Später einmal, so rechneten die Eltern, könne das Kind auf dem Festland erlernen, was zur Bewältigung des modernen Lebens – was sie sorgsam vom eigentlichen Leben unterschieden - unerläßlich schien: die Fertigkeiten eines Brotberufs. Die Menschen auf Samin waren im doppelten Sinne Rückkehrer, zum einen im wörtlichen Sinne, zum anderen erprobten sie die Rückkehr zur Vorvergangenheit. Eingespannt in die Naturkreisläufte und doch mit dem [[Wissen]] der [[Gegenwart]] beschwert, suchten sie die Leichtigkeit des [[Sein]]s ihren Kindern in unbelasteter Natur zu vermitteln. Die Schule bildete hierbei einen Anker im sandigen Boden des Eilands, der die [[Möglichkeit]] zu neuer Verwurzelung schaffen sollte. Später einmal, so rechneten die Eltern, könne das Kind auf dem Festland erlernen, was zur Bewältigung des modernen Lebens – was sie sorgsam vom eigentlichen Leben unterschieden - unerläßlich schien: die Fertigkeiten eines Brotberufs.
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 Von Ottilienberg hatte am späten Abend noch davon gesprochen, daß die Insel evakuiert werden müssen; sonst könne man die Sicherheit der Bewohner nicht gewährleisten, denn die Insel läge im Einzugsbereich des mächtigen östlichen Nachbarn, der wahrscheinlich über Norden kommend den einen oder anderen Fischzug auf die Insel machen würde, dessen könne man sicher sein. Doch es sei noch ein Monat Zeit für solche Maßnahmen. Der Feind könne nicht so schnell vor Ort sein; außerdem sei es vielleicht nur unnötige Übervorsichtigkeit und abgesehen davon beabsichtige man, den Feind erst gar nicht zu Ausflügen ermuntern, sondern schlagen zu wollen. Das brachte Beifall und Bestürzung zugleich. Die Saminer spürten aus den Worten des Generals die Nähe der Gefahr. In vielen Erzählungen hatte sich die Furcht vor den barbarischen Eindringlingen aus dem Norden und Osten im Bewußtsein der Saminer gehalten, die, obwohl sie selbst erst eine Generation auf der Insel lebten, sich diese Borniertheit und Inselmentalität schnell angenommen hatten. Wenn es bis zu dieser Nachricht [[Zweifel]] an der Notwendigkeit des Eintritts der Saminer in den Krieg gegeben hätte, so waren sie durch die Bemerkung einer notwendigen Evakuierung schnell beiseite geräumt. Und so war in diesem Sommer [[Schicksal]] Von Ottilienberg hatte am späten Abend noch davon gesprochen, daß die Insel evakuiert werden müssen; sonst könne man die Sicherheit der Bewohner nicht gewährleisten, denn die Insel läge im Einzugsbereich des mächtigen östlichen Nachbarn, der wahrscheinlich über Norden kommend den einen oder anderen Fischzug auf die Insel machen würde, dessen könne man sicher sein. Doch es sei noch ein Monat Zeit für solche Maßnahmen. Der Feind könne nicht so schnell vor Ort sein; außerdem sei es vielleicht nur unnötige Übervorsichtigkeit und abgesehen davon beabsichtige man, den Feind erst gar nicht zu Ausflügen ermuntern, sondern schlagen zu wollen. Das brachte Beifall und Bestürzung zugleich. Die Saminer spürten aus den Worten des Generals die Nähe der Gefahr. In vielen Erzählungen hatte sich die Furcht vor den barbarischen Eindringlingen aus dem Norden und Osten im Bewußtsein der Saminer gehalten, die, obwohl sie selbst erst eine Generation auf der Insel lebten, sich diese Borniertheit und Inselmentalität schnell angenommen hatten. Wenn es bis zu dieser Nachricht [[Zweifel]] an der Notwendigkeit des Eintritts der Saminer in den Krieg gegeben hätte, so waren sie durch die Bemerkung einer notwendigen Evakuierung schnell beiseite geräumt. Und so war in diesem Sommer [[Schicksal]]
  
-exkursion historique I: Der Krieg lag seit langem in der Luft. Die diplomatischen Sportler hatten den Körper trainiert und den Verstand verkümmern lassen. Auf der Spielfläche tummelten sich mehr und mehr Leichtathleten, die allesamt gegen den Ball traten, dabei jedoch nur das Spielfeld zerwühlten in Interessengegensätzen. Derweil waren’s eigentlich bloß zwei Streithähne, die sich nicht auseinanderbringen ließen. Der Schiedsrichter, ein ebenso eitler wie selbstgerechter Gockel hatte schon längst entschieden, wer das Spiel gewinnen sollte, doch schob er noch lange bis nach der Halbzeit eine Ordnung als Gradmesser seiner Entscheidungen vor, bis daß er genötigt wurde, klare und unwiderrufliche Entscheidungen zu treffen, die nur noch erklärt werden mußten, wenn alles vorüber sein würde.  +__exkursion historique I__: Der Krieg lag seit langem in der Luft. Die diplomatischen Sportler hatten den Körper trainiert und den [[Verstand]] verkümmern lassen. Auf der Spielfläche tummelten sich mehr und mehr Leichtathleten, die allesamt gegen den Ball traten, dabei jedoch nur das Spielfeld zerwühlten in Interessengegensätzen. Derweil waren’s eigentlich bloß zwei Streithähne, die sich nicht auseinanderbringen ließen. Der Schiedsrichter, ein ebenso eitler wie selbstgerechter Gockel hatte schon längst entschieden, wer das Spiel gewinnen sollte, doch schob er noch lange bis nach der Halbzeit eine Ordnung als Gradmesser seiner Entscheidungen vor, bis daß er genötigt wurde, klare und unwiderrufliche Entscheidungen zu treffen, die nur noch erklärt werden mußten, wenn alles vorüber sein würde. \\ 
-Der Krieg entzündete sich auf dem Balkan. Der gockelnde und grobe Thronfolger eines niedergehenden Herrscherhauses spielte mit seinen eingefallenen Muskeln und bezahlte den Übermut einer Provokation in Ansehung einer Mißdeutung der Machtverhältnisse mit dem Tode. Der Tod kam durch der serbischen Regierung nahestehende Geheimbündler, die ebensoviele Feinde wie Freunde in der serbischen Regierung hatten. Nichtsdestoweniger, nach dem Selbstverständnis des vergangenen Jahrhunderts mußte der Mord durch Krieg gesühnt werden. Der Krieg sollte ein für allemal renitente Anarchisten aus der Welt schaffen, d.h. aus dem unmittelbaren Einflußbereich der alten Monarchie. Das serbische Königshaus, selbst durch Mord und Intrigen 1904 an die Macht gekommen, schien nicht geeignet, den Frieden in dieser Region zu bewahren. Es mußte zu einem militärischen Ausschritt kommen, früher oder später. Nun, früher. Der Mordanschlag gab Gelegenheit, ein für allemal, ich sagte es schon, mit den Insurgenten und Dunkelmännern aufzuräumen. Es war üble Uneinsicht, daß die Dunkelmänner der Schwarzen Hand ihrerseits überaus starke Hintermänner besaßen, die ihrerseits nur darauf warteten, daß die schwächelnden Habsburger den Krieg wagten. Der Krieg fand Eingang über die Köpfe. Die Habsburger verboten serbische Propaganda und forderten uneingeschränkte Aufklärung der Attentatshintergründe. Sie wollten die Bloßstellung des serbischen Herrscherpaares, was zweifelsohne geschehen wäre. Doch sie verkannten, daß ihre Zeit vorbei war. Sie hatten im 20. Jahrhundert nichts mehr auf dem Balkan verloren, allen Erneuerungsversuchen und multinationalen Vermittlungsversuchen zum Trotz: Die habsburgische Monarchie war einerseits zu altmodisch und andererseits zu weit fortgeschritten in ihrem theoretischen Wollen. Die folgende Tabelle indiziert den Minderheitenschutz und die Mitbestimmung, die der Staat Österreich seinen Untertanen zubilligte. Es spielt diesbezüglich keine Rolle, ob der Begriff Bürger oder Untertan benutzt wird, auch nicht, ob die Bürger ihre Rechte erkämpfen oder sie ihnen gegeben wurden. Fakt ist, daß der Staat Österreich eine beispiellose politische Mitbestimmung praktizierte, was de facto auch häufig zu Selbstauflösungserscheinungen im Kronrat/Parlament führte. +Der Krieg entzündete sich auf dem Balkan. Der gockelnde und grobe Thronfolger eines niedergehenden Herrscherhauses spielte mit seinen eingefallenen Muskeln und bezahlte den Übermut einer Provokation in Ansehung einer Mißdeutung der Machtverhältnisse mit dem Tode. Der Tod kam durch der serbischen Regierung nahestehende Geheimbündler, die ebensoviele Feinde wie Freunde in der serbischen Regierung hatten. Nichtsdestoweniger, nach dem Selbstverständnis des vergangenen Jahrhunderts mußte der Mord durch Krieg gesühnt werden. Der Krieg sollte ein für allemal renitente Anarchisten aus der Welt schaffen, d.h. aus dem unmittelbaren Einflußbereich der alten [[Monarchie]]. Das serbische Königshaus, selbst durch Mord und Intrigen 1904 an die Macht gekommen, schien nicht geeignet, den Frieden in dieser Region zu bewahren. Es mußte zu einem militärischen Ausschritt kommen, früher oder später. Nun, früher. Der Mordanschlag gab Gelegenheit, ein für allemal, ich sagte es schon, mit den Insurgenten und Dunkelmännern aufzuräumen. Es war üble Uneinsicht, daß die Dunkelmänner der //Schwarzen Hand// ihrerseits überaus starke Hintermänner besaßen, die ihrerseits nur darauf warteten, daß die schwächelnden Habsburger den Krieg wagten. Der Krieg fand Eingang über die Köpfe. Die Habsburger verboten serbische Propaganda und forderten uneingeschränkte Aufklärung der Attentatshintergründe. Sie wollten die Bloßstellung des serbischen Herrscherpaares, was zweifelsohne geschehen wäre. Doch sie verkannten, daß ihre Zeit vorbei war. Sie hatten im 20. Jahrhundert nichts mehr auf dem Balkan verloren, allen Erneuerungsversuchen und multinationalen Vermittlungsversuchen zum Trotz: Die habsburgische Monarchie war einerseits zu altmodisch und andererseits zu weit fortgeschritten in ihrem theoretischen Wollen. Die folgende Tabelle indiziert den Minderheitenschutz und die Mitbestimmung, die der Staat [[Österreich]] seinen Untertanen zubilligte. Es spielt diesbezüglich keine Rolle, ob der [[Begriff]] [[Bürger]] oder Untertan benutzt wird, auch nicht, ob die Bürger ihre Rechte erkämpfen oder sie ihnen gegeben wurden. Fakt ist, daß der [[Staat]] Österreich eine beispiellose politische Mitbestimmung praktizierte, was de facto auch häufig zu Selbstauflösungserscheinungen im Kronrat/Parlament führte. 
  
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-Bevölkrg. [Wähler] +^ ^Bevölkrg. [Wähler]^Steuern^tatsächl. Mandate^mögl. Mandate in bezug auf Bevölkergsanteil^mögl. Mandate in bezug auf  Steueranteil^timokratisches  Mandatsprinzip [Vermittlung]^Steuer pro Mandat^Steuer pro Wähler^^ 
-Steuern +|D|2230975|205583123|233
-tatsächl. Mandate +|Cz|1374308| 62326537|107| 
-mögl. Mandate in bezug auf Bevölkergsanteil +|Pl| 908724| 22835442| 82| 
-mögl. Mandate in bezug auf  Steueranteil +|Ruth| 751908| 11840829| 33| 
-timokratisches  Mandatsprinzip [Vermittlung] +|Slowe| 287952|  9317136|24| 
-Steuer pro Mandat +|Kroa| 166621|  2578368|13| 
-Steuer pro Wähler +|Rumä|   51980|  1072880|5| 
-D +|Ital| 176244|  8624936|19| 
-2230975 +|Ges.|5948712|324179251|516|516|516,01|516,01| [419648,25]| [36,97]|
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-233+
  
 +__Verhältnistabelle__: tatsächlich erbrachte Steuerleistung im Vergleich zur politischen Macht
  
  
 +^Anteil an Gesamtbevölkerung^Anteil an Gesamtsteuer^tatsächl. Anteil an Mandaten^Koeffizient Steuer/Mandat^Koeffizient politische Macht auf stärkste politische Macht bezogen^
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 +|Slowe|
 +|Kroa|
 +|Rumä|
 +|Ital|
  
- +Doch mit [[Moderne]] war’s im Juni/Juli 1914 nicht weit her: Man wollte [[Rache]] und endgültige Klärung. Man war es in Wien leid, immer wieder den Balkan als eine bedrohliche Flanke wahrnehmen zu müssen. Und, man war sich des deutschen Bündnispartners sicher, der nur die Unklarheit einer Situation wahrnahm, ansonsten aber sich Urlaubsgelüsten hingab. Es ist bis heute nur eine bislang marginal wahrgenommene Tatsache, daß der deutsche Stab bis beinahe Ende Juli überhaupt nicht daran dachte, daß es eine Kriegsgefahr für Deutschland gäbe. Man machte Kur in Marienbad oder in Bad Ems, fuhr zum Fischen in die Nordsee bis nach Norwegen, der Balkan war weit; es war eine österreichische Angelegenheit, keine deutsche. Einen Großkrieg konnte man in Berlin nicht ausmachen. Der Kaiser dekretierte seinem Verbündeten, daß man ihn unterstützen werde, was sollte er auch sonst nach Wien schicken? Sollte er den Österreichern vorschreiben, was sie tun sollten? Die Situation war bekannt; seit Jahren schon kochte der Balkan. Vielleicht war die Situation reif für eine [[Entscheidung]], doch in Berlin wollte man damit eigentlich nichts zu tun haben; nur durfte man es sich nicht mit dem einzig verbliebenen Bündnispartner verscherzen, also bestätigte man ihm in der Stunde der Not, angesichts des gewaltsamen Ende des Thronfolgers, daß man beistehen werde, komme, was da wolle. Ein anderes Wort als Nibelungentreueschwüre vom deutschen [[Kaiser]] hätte die Welt nicht verstanden. Nur wäre es dieses Mal klüger gewesen, die Nibelungentreue auf die Bewahrung des Schatzes zu lenken, d.h. auf den Frieden. Doch hinterher ist man immer klüger.\\ 
-Cz +Wilhelm wollte den Krieg nicht. Deutschland wuchs auch ohne Krieg. Jedes [[Jahr]] wurde es ein wenig mächtiger. Bedrohlich war der Ring, den die Russen und Franzosen um Deutschland gezogen hatten. Doch Nikolaus II. würde ihn um eines Thronfolgermörders nicht den Krieg erklären. Da blieben die Franzosen. Die waren gefährlich, sannen seit 43 Jahren auf Rache für die Schmach von Sedan. Sie hatten ihm schließlich auch den russischen Verwandten abspenstig gemacht und etwas möglich gemacht, vor dem Bismarck immer gewarnt hatte, die Zange. Nun saß er dazwischen. Aber das Reich, es war stark, expandierte und machte mit dem ärgsten Konkurrenten, den Briten, die besten Geschäfte. Ein Krieg würde die zerstören. Ein Krieg aber würde den Franzosen und Russen den meisten Gewinn bringen, aber Nikolaus würde nicht... Gut, also los, zeigen wir’s den Serben und schaffen Klarheit im Südosten. Die Beute könne man nicht aufteilen, aber man könne sich einen Posten in diesem Raum verschaffen, der ausbaufähig wäre. Wie’s die Briten seit Jahrhunderten machen...\\
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-Doch mit Moderne war’s im Juni/Juli 1914 nicht weit her: Man wollte Rache und endgültige Klärung. Man war es in Wien leid, immer wieder den Balkan als eine bedrohliche Flanke wahrnehmen zu müssen. Und, man war sich des deutschen Bündnispartners sicher, der nur die Unklarheit einer Situation wahrnahm, ansonsten aber sich Urlaubsgelüsten hingab. Es ist bis heute nur eine bislang marginal wahrgenommene Tatsache, daß der deutsche Stab bis beinahe Ende Juli überhaupt nicht daran dachte, daß es eine Kriegsgefahr für Deutschland gäbe. Man machte Kur in Marienbad oder in Bad Ems, fuhr zum Fischen in die Nordsee bis nach Norwegen, der Balkan war weit; es war eine österreichische Angelegenheit, keine deutsche. Einen Großkrieg konnte man in Berlin nicht ausmachen. Der Kaiser dekretierte seinem Verbündeten, daß man ihn unterstützen werde, was sollte er auch sonst nach Wien schicken? Sollte er den Österreichern vorschreiben, was sie tun sollten? Die Situation war bekannt; seit Jahren schon kochte der Balkan. Vielleicht war die Situation reif für eine Entscheidung, doch in Berlin wollte man damit eigentlich nichts zu tun haben; nur durfte man es sich nicht mit dem einzig verbliebenen Bündnispartner verscherzen, also bestätigte man ihm in der Stunde der Not, angesichts des gewaltsamen Ende des Thronfolgers, daß man beistehen werde, komme, was da wolle. Ein anderes Wort als Nibelungentreueschwüre vom deutschen Kaiser hätte die Welt nicht verstanden. Nur wäre es dieses Mal klüger gewesen, die Nibelungentreue auf die Bewahrung des Schatzes zu lenken, d.h. auf den Frieden. Doch hinterher ist man immer klüger. +
-Wilhelm wollte den Krieg nicht. Deutschland wuchs auch ohne Krieg. Jedes Jahr wurde es ein wenig mächtiger. Bedrohlich war der Ring, den die Russen und Franzosen um Deutschland gezogen hatten. Doch Nikolaus II. würde ihn um eines Thronfolgermörders nicht den Krieg erklären. Da blieben die Franzosen. Die waren gefährlich, sannen seit 43 Jahren auf Rache für die Schmach von Sedan. Sie hatten ihm schließlich auch den russischen Verwandten abspenstig gemacht und etwas möglich gemacht, vor dem Bismarck immer gewarnt hatte, die Zange. Nun saß er dazwischen. Aber das Reich, es war stark, expandierte und machte mit dem ärgsten Konkurrenten, den Briten, die besten Geschäfte. Ein Krieg würde die zerstören. Ein Krieg aber würde den Franzosen und Russen den meisten Gewinn bringen, aber Nikolaus würde nicht... Gut, also los, zeigen wir’s den Serben und schaffen Klarheit im Südosten. Die Beute könne man nicht aufteilen, aber man könne sich einen Posten in diesem Raum verschaffen, der ausbaufähig wäre. Wie’s die Briten seit Jahrhunderten machen...+
 Die großen Österreicher stellten den Serben also nach wuseliger vierwöchiger ministerieller Arbeit ein Ultimatum, dessen Nichtannahme einen Krieg nach sich zöge. Doch Serbien gerierte sich schon längst nicht mehr als kleine Macht, die man herumkommandieren konnte, und weigerte sich, österreichische Behörden auf serbischem Territoritum nach den Attentätern und deren Hintermännern suchen zu lassen. Die großen Österreicher stellten den Serben also nach wuseliger vierwöchiger ministerieller Arbeit ein Ultimatum, dessen Nichtannahme einen Krieg nach sich zöge. Doch Serbien gerierte sich schon längst nicht mehr als kleine Macht, die man herumkommandieren konnte, und weigerte sich, österreichische Behörden auf serbischem Territoritum nach den Attentätern und deren Hintermännern suchen zu lassen.
  
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-Nun die Schuldigen genannt, die Treiber. Machten wir es uns einfach, so stünden jetzt hier Namen wie Conrad, Berchthold oder Wilhelm, machten wir es uns noch einfacher Namen wie Rothschild, Nikolaus oder Petain. Gehen wir ein wenig in die Tiefen, so stoßen wir auf Barres auf der einen Seite, Lenin auf der anderen, finden wir Krupp oder Morgan. +Nun die Schuldigen genannt, die Treiber. Machten wir es uns einfach, so stünden jetzt hier Namen wie Conrad, Berchthold oder Wilhelm, machten wir es uns noch einfacher Namen wie [[Rothschild]], Nikolaus oder Petain. Gehen wir ein wenig in die Tiefen, so stoßen wir auf [[Barres]] auf der einen Seite, [[Lenin]] auf der anderen, finden wir Krupp oder Morgan.\\ 
-Fest steht, daß keiner dieser Genannten allein schuldig gesprochen werden kann; vielmehr sind es Strukturen und Mechanismen, die Handlungen herbeizwingen. So auch hier. Das Ultimatum der Österreicher konnten die Serben nicht erfüllen. Sie hätten es erfüllen können um den Preis der Selbstaufgabe. Die Erfüllung hätte die verfehlte Politik Serbiens aus den letzten dreißig Jahren international bloßgestellt, dazu Rußland und Frankreich. Es hätte dem kranken Mann vom Bosporos Trümpfe in die Hand gegeben, die zu weiteren Ultimaten geführt hätten und es hätte dem Balkan längst keinen Frieden gebracht. Vielleicht hätte Österreich stillgehalten –wohl kaum!-, sicher nicht hätten sich die Russen und Franzosen auf der einen Seite und die Türken auf der anderen Seite, ganz zu schweigen von den bereits kurz zuvor Blut leckenden Bulgaren und Griechen, die sich weiter mit Neuland bedienen wollten, stillgehalten. Europa wollte sich bewegen, seine angestaute Kraft entfalten und suchte einen Angriffspunkt. Die Beliebigkeit des ersten Drehmoments läßt sich schon damit begründen, daß dieses Gebiet um Serbien, Makedonien und Albanien im Verlauf des Krieges bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielte. Andere Kriegsschauplätze nahmen immer eine wichtigere Rolle ein, was von Anfang an feststand. Es war allen beteiligten klar, daß die großen Schlachten des Krieges vor Verdan/Sedan und in den weißrussischen Sümpfen geschlagen werden würden. Doch zurück zur Entstehung des Zwists: Die Russen mischten sich ein, als die Serben das Ultimatum erhielten. Das bedeutete, sie artifizierten das habsburgische Sinnen als Vergewaltigung eines schutzbedürftigen Volkes und mobilisierten ihre Streitkräfte. Jetzt griffen die Bündnissysteme. Bethmann-Holweg versuchte die politische Lösung, also mäßigte er die Österreicher und suchte Wege und Instanzen einer Vermittlung. Die Militärs sahen das ganz anders. Moltke hatte den Schlieffenplan vor Augen, auf den sich der deutsche Generalstab 1905 endgültig für den Kriegsfall geeinigt hatte. Um die Umklammerung zu durchbrechen mußte man einen schnellen Stoß nach Westen führen, um dann, nach dem schnellen Sieg, die Kräfte gegen das langsam seine Kräfte entfaltende Rußland werfen zu können. Nur im Falle einer schnellen Bündelung der Kräfte könne man den Krieg gewinnen. Also drängte Moltke auf die schnelle Mobilmachung, während Bethmann-Holweg diplomatische Lösungen anstrebte. Das lief dann so nebeneinander her und verwirrte die Instanzen. Wer hatte nun das Sagen? +Fest steht, daß keiner dieser Genannten allein schuldig gesprochen werden kann; vielmehr sind es Strukturen und Mechanismen, die Handlungen herbeizwingen. So auch hier. Das Ultimatum der Österreicher konnten die Serben nicht erfüllen. Sie hätten es erfüllen können um den Preis der Selbstaufgabe. Die Erfüllung hätte die verfehlte Politik Serbiens aus den letzten dreißig Jahren international bloßgestellt, dazu Rußland und Frankreich. Es hätte dem kranken Mann vom Bosporos Trümpfe in die Hand gegeben, die zu weiteren Ultimaten geführt hätten und es hätte dem Balkan längst keinen Frieden gebracht. Vielleicht hätte Österreich stillgehalten –wohl kaum!-, sicher nicht hätten sich die Russen und Franzosen auf der einen Seite und die Türken auf der anderen Seite, ganz zu schweigen von den bereits kurz zuvor Blut leckenden Bulgaren und Griechen, die sich weiter mit Neuland bedienen wollten, stillgehalten. Europa wollte sich bewegen, seine angestaute Kraft entfalten und suchte einen Angriffspunkt. Die Beliebigkeit des ersten Drehmoments läßt sich schon damit begründen, daß dieses Gebiet um Serbien, Makedonien und Albanien im Verlauf des Krieges bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielte. Andere Kriegsschauplätze nahmen immer eine wichtigere Rolle ein, was von Anfang an feststand. Es war allen beteiligten klar, daß die großen Schlachten des Krieges vor Verdan/Sedan und in den weißrussischen Sümpfen geschlagen werden würden. Doch zurück zur Entstehung des Zwists: Die Russen mischten sich ein, als die Serben das Ultimatum erhielten. Das bedeutete, sie artifizierten das habsburgische Sinnen als Vergewaltigung eines schutzbedürftigen Volkes und mobilisierten ihre Streitkräfte. Jetzt griffen die Bündnissysteme. Bethmann-Holweg versuchte die politische Lösung, also mäßigte er die Österreicher und suchte Wege und Instanzen einer Vermittlung. Die Militärs sahen das ganz anders. Moltke hatte den Schlieffenplan vor Augen, auf den sich der deutsche Generalstab 1905 endgültig für den Kriegsfall geeinigt hatte. Um die Umklammerung zu durchbrechen mußte man einen schnellen Stoß nach Westen führen, um dann, nach dem schnellen Sieg, die Kräfte gegen das langsam seine Kräfte entfaltende Rußland werfen zu können. Nur im Falle einer schnellen Bündelung der Kräfte könne man den Krieg gewinnen. Also drängte Moltke auf die schnelle Mobilmachung, während [[Bethmann-Holweg]] diplomatische Lösungen anstrebte. Das lief dann so nebeneinander her und verwirrte die Instanzen. Wer hatte nun das Sagen?\\ 
-Am 1. August nahm der Kaiser die Herausforderung des russischen Verwandten an. Deutschland und Rußland führten also Krieg. Der Westen? Konnte Frankreich neutral bleiben? Es konnte nicht, schließlich hatte es das größte Interesse daran, daß Deutschland den Krieg gegen Rußland verlor. Anfragen aus Deutschland, wie sich Frankreich verhalten würde, wurden unzweideutig beantwortet: Frankreich werde tun, was seine Interessen erforderten. Es gab kein Wort der Versicherung, daß man stillhalten wolle. Deutschland konnte das Wagnis, einen mächtigen Gegner im Rücken zu haben, wenn der Sturm auf Rußland begann, nicht eingehen. Es fühlte wegen der fehlenden Versicherung der Franzosen, neutral zu bleiben, brüskiert und beging den diplomatischen Fehler, zuerst den Krieg zu erklären. Die Mechanismen griffen und Moltke setzte sein Heer durch Belgien in Marsch, was England auf den Plan rief, das lange zögerte. Was England gegen Deutschland trieb, kann nur geahnt, nicht jedoch gewußt sein.  +Am 1. August nahm der Kaiser die Herausforderung des russischen Verwandten an. Deutschland und Rußland führten also Krieg. Der Westen? Konnte Frankreich neutral bleiben? Es konnte nicht, schließlich hatte es das größte Interesse daran, daß Deutschland den Krieg gegen Rußland verlor. Anfragen aus Deutschland, wie sich Frankreich verhalten würde, wurden unzweideutig beantwortet: Frankreich werde tun, was seine Interessen erforderten. Es gab kein Wort der Versicherung, daß man stillhalten wolle. Deutschland konnte das Wagnis, einen mächtigen Gegner im Rücken zu haben, wenn der Sturm auf Rußland begann, nicht eingehen. Es fühlte wegen der fehlenden Versicherung der Franzosen, neutral zu bleiben, brüskiert und beging den diplomatischen Fehler, zuerst den Krieg zu erklären. Die Mechanismen griffen und Moltke setzte sein Heer durch Belgien in Marsch, was [[England]] auf den Plan rief, das lange zögerte. Was England gegen Deutschland trieb, kann nur geahnt, nicht jedoch gewußt sein. \\ 
-Fassen wir zusammen: +Fassen wir zusammen:\\ 
-Ein österreichischer Thronprätendent fällt durch einen Attentäter. Österreich will Rache und fordert Aufklärung. Das Herkunftsland des Attentäters verbietet diese es selbst brüskierende Aufklärung und erwartet den Krieg, auch, um endlich einen Traum mit Leben zu erfüllen. Österreich kann sich das nicht gefallen lassen, sofern es weiter seine längst überlebte Rolle in Europa spielen will. Zu dieser Amnesie gehört die Überzeichnung: Österreich fordert also Unannehmbares, quasi die Selbstauflösung eines renitenten Emporkömmlings. Der Emporkömmling hat einen Hintermann, durch den es emporgekommen ist, der nun ins Spiel gebracht wird. Der Hintermann ist der alte Feind Österreichs. Da der Hintermann mit dem besten und einzigen Verbündeten Österreichs familiär verbandelt ist, glaubt man allseits an eine Begrenzung der Auseinandersetzung, schlimmstenfalls diplomatische Invektiven. Das ist der Punkt, an dem Frankreich ins Spiel kommt. Es würde nie eine Revanche geben, hatte Bismarck gemeint, solange Deutschland sich Rußlands versichern kann. Deutschland konnte sich im Sommer 1914 nicht mehr Rußlands versichern. Kapitalmangel in Deutschland und das fehlende Gespür für russische Empfindlichkeiten [Polenfrage, Baltikum] seit den 90er Jahren hatten den Einfluß Deutschlands in Rußland schwinden lassen. Den Platz nahmen nur allzugerne die Franzosen ein, die spätestens ab 1905 nach Rußland Milliarden Franken pumpten, um einerseits Geschäfte in einem rasant wachsenden Markt zu machen und andererseits die russische Politik maßgeblich bestimmen zu können. Kriegsvorbereitung? Wenn Frankreich also vor der Wahl stand, im Falle einer Neutralität eventuell nur zusehen zu sollen, wie die deutschen Soldaten von französischen Investitionen Besitz ergriffen, so haben sich die französischen Interessen gerade selbst erklärt. Und England? England hatte eine starke pazifistische Bewegung. Man wollte wie seit jeher das Zünglein an der Waage abgeben und letztlich auf der Seite der Sieger in den großen europäischen Verwicklungen stehen. Daß die Deutschen aber eine der wichtigsten englischen Errungenschaften auf dem Festland, Belgien nämlich, so mir nichts dir nichts, zu überrollen trachteten, das stieß auf den erbitterten Widerstand der Briten, die vor nichts mehr Angst hatten, als einen feindlichen Hafen direkt vor der Nase zu haben. Die Belgier ließen sich den Durchmarsch des deutschen Heeres nicht gefallen-womit man in Deutschland gerechnet hatte, schließlich wollte man keinen Krieg gegen Belgien führen-, sondern bekämpften die deutschen Truppen, die sich mühsam nach Nordwesten zum Kanal durchschlagen mußten. Da halfen auch die Beteuerungen Bethmann-Holwegs nichts, daß die Deutschen das begangene Unrecht des Durchmarschs nach dem militärischen Siege wieder gutzumachen gedachten. Der Krieg war da und die Briten waren auf Seiten Rußlands und Frankreichs dabei. Und das war die erste Katastrophe des Jahrhunderts. Daß Amerika wenige Jahre später auf Seiten der Entente eintreten würde, war weitblickenden Geistern schon 1914 klar gewesen. Es war kaum anzunehmen, daß die Amerikaner die andere aufstrebende Macht unterstützen würden, zumal die politisch-ethnische Äquivokizität mit England augenscheinlich war, die Inkompatibilität, um ein modernes Wort zu benutzen, zum deutschen System sogar noch augenscheinlicher.+Ein österreichischer Thronprätendent fällt durch einen Attentäter. Österreich will Rache und fordert [[Aufklärung]]. Das Herkunftsland des Attentäters verbietet diese es selbst brüskierende Aufklärung und erwartet den Krieg, auch, um endlich einen Traum mit Leben zu erfüllen. Österreich kann sich das nicht gefallen lassen, sofern es weiter seine längst überlebte Rolle in Europa spielen will. Zu dieser Amnesie gehört die Überzeichnung: Österreich fordert also Unannehmbares, quasi die Selbstauflösung eines renitenten Emporkömmlings. Der Emporkömmling hat einen Hintermann, durch den es emporgekommen ist, der nun ins Spiel gebracht wird. Der Hintermann ist der alte Feind Österreichs. Da der Hintermann mit dem besten und einzigen Verbündeten Österreichs familiär verbandelt ist, glaubt man allseits an eine Begrenzung der Auseinandersetzung, schlimmstenfalls diplomatische Invektiven. Das ist der Punkt, an dem Frankreich ins Spiel kommt. Es würde nie eine Revanche geben, hatte Bismarck gemeint, solange Deutschland sich Rußlands versichern kann. Deutschland konnte sich im Sommer 1914 nicht mehr Rußlands versichern. Kapitalmangel in Deutschland und das fehlende Gespür für russische Empfindlichkeiten [Polenfrage, Baltikum] seit den 90er Jahren hatten den Einfluß Deutschlands in Rußland schwinden lassen. Den Platz nahmen nur allzugerne die Franzosen ein, die spätestens ab 1905 nach Rußland Milliarden Franken pumpten, um einerseits Geschäfte in einem rasant wachsenden Markt zu machen und andererseits die russische [[Politik]] maßgeblich bestimmen zu können. Kriegsvorbereitung? Wenn Frankreich also vor der Wahl stand, im Falle einer Neutralität eventuell nur zusehen zu sollen, wie die deutschen Soldaten von französischen Investitionen Besitz ergriffen, so haben sich die französischen Interessen gerade selbst erklärt. Und England? England hatte eine starke pazifistische Bewegung. Man wollte wie seit jeher das Zünglein an der Waage abgeben und letztlich auf der Seite der Sieger in den großen europäischen Verwicklungen stehen. Daß die Deutschen aber eine der wichtigsten englischen Errungenschaften auf dem Festland, Belgien nämlich, so mir nichts dir nichts, zu überrollen trachteten, das stieß auf den erbitterten Widerstand der Briten, die vor nichts mehr Angst hatten, als einen feindlichen Hafen direkt vor der Nase zu haben. Die Belgier ließen sich den Durchmarsch des deutschen Heeres nicht gefallen-womit man in [[Deutschland]] gerechnet hatte, schließlich wollte man keinen Krieg gegen Belgien führen-, sondern bekämpften die deutschen Truppen, die sich mühsam nach Nordwesten zum Kanal durchschlagen mußten. Da halfen auch die Beteuerungen Bethmann-Holwegs nichts, daß die Deutschen das begangene Unrecht des Durchmarschs nach dem militärischen Siege wieder gutzumachen gedachten. Der Krieg war da und die Briten waren auf Seiten Rußlands und Frankreichs dabei. Und das war die erste Katastrophe des Jahrhunderts. Daß Amerika wenige Jahre später auf Seiten der Entente eintreten würde, war weitblickenden Geistern schon 1914 klar gewesen. Es war kaum anzunehmen, daß die Amerikaner die andere aufstrebende Macht unterstützen würden, zumal die politisch-ethnische Äquivokizität mit England augenscheinlich war, die Inkompatibilität, um ein modernes Wort zu benutzen, zum deutschen System sogar noch augenscheinlicher.
  
-Ende Buch I + 
-Buch II In der Metropole+**Buch II** In der Metropole
  
 1. Kapitel: Der Ball 1. Kapitel: Der Ball
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 „Dreiundzwanzig rote Sklaven paddelten das Kanu, das den Häuptlingssohn Keanu zu dem Fort der Weißen bringen sollte. Keanu lag in sein Bärenfell gehüllt allein an der Bugspitze, betrachtete verträumt das auseinanderperlende kalte blaue Wasser und-“ „Dreiundzwanzig rote Sklaven paddelten das Kanu, das den Häuptlingssohn Keanu zu dem Fort der Weißen bringen sollte. Keanu lag in sein Bärenfell gehüllt allein an der Bugspitze, betrachtete verträumt das auseinanderperlende kalte blaue Wasser und-“
-Nach diesen Worten fielen der Kleinen die Augen zu. Die Eltern sahen sich lächelnd an, Lobos küßte seiner Tochter auf die Wange und Claudia legte das Buch in den Bücherschrank zurück. Bei diesem Geräusch schlug die Kleine die Augen auf und tastete nach der Stelle, an der das Buch gerade noch gelegen hatte.+Nach diesen Worten fielen der Kleinen die Augen zu. Die Eltern sahen sich lächelnd an, Lobos küßte seiner Tochter auf die Wange und Claudia legte das Buch in den Bücherschrank zurück. Bei diesem Geräusch schlug die Kleine die Augen auf und tastete nach der Stelle, an der das Buch gerade noch gelegen hatte.\\
 „Es ist acht Uhr“, sagte Lobos streng, „und Zeit zum Schlafen.“ Er beugte sich nochmals zu dem Kinde hinab, um es zärtlich zu liebkosen, als ihm eben da Claudias Blick begegnete. Sie bildeten einen Kreis zu dritt, ein unentwegbares Beieinander. Claudia bewegte sich, magisch angezogen, auf Tochter und Ehemann zu, da trat Herma ein und mahnte die Kleine, den Eltern nun endlich eine gute Nacht zu wünschen. Man küßte sich auf den Mund und Herma führte die Kleine aus dem elterlichen Zimmer zur Schlafstatt. „Es ist acht Uhr“, sagte Lobos streng, „und Zeit zum Schlafen.“ Er beugte sich nochmals zu dem Kinde hinab, um es zärtlich zu liebkosen, als ihm eben da Claudias Blick begegnete. Sie bildeten einen Kreis zu dritt, ein unentwegbares Beieinander. Claudia bewegte sich, magisch angezogen, auf Tochter und Ehemann zu, da trat Herma ein und mahnte die Kleine, den Eltern nun endlich eine gute Nacht zu wünschen. Man küßte sich auf den Mund und Herma führte die Kleine aus dem elterlichen Zimmer zur Schlafstatt.
-Claudia und Lobos blieben allein zurück. Sie berührten zärtlich einander an den Armen und setzten sich auf zwei aneinandergrenzende Sessel, auf die das Licht einer Stehlampe fiel.  Sie spannen das Gespräch vom Abendbrot fort: +Claudia und Lobos blieben allein zurück. Sie berührten zärtlich einander an den Armen und setzten sich auf zwei aneinandergrenzende Sessel, auf die das Licht einer Stehlampe fiel.  Sie spannen das Gespräch vom Abendbrot fort:\\ 
-Es geschah auf dem ersten Ball des Jahres, den sie kürzlich besucht hatten. Zwar verhielt man sich in diesem Landesteil gegenüber karnevalistischem Scherzen recht bedeckt, dennoch hatten einige Zugezogene ihre regionalen Gebräuche auch in der Metropole mit Gleichgesinnten erhalten können. Und so hatte sich Lobos von einer Einladung verführen lassen. Als er den Eingangssaal der Vorstadtvilla betrat, wurde er von zwei verkleideten Hausdienern begrüßt, die ihn neckten und so gar nicht wieder aus ihrem Kreise entlassen wollten. Sie zupften an seinem Kostüm, zogen ihn schnurstracks auf die erste Empore und radebrachten dabei ein Kauderwelsch, von dem Lobos nichts Deutliches verstand, doch immerhin Einzelheiten aus seiner Sekretärs-und Studienzeit aufschnappte, die ihn erstaunten. Also ließ er sich ziehen. Dann verließen die Maskierten ihn plötzlich, versprachen aber demaskiert zurückzukommen. Lobos blickte vom Balkon auf das Tanzparkett, auf dem sich mehrere hundert Menschen in aufschäumender Beherztheit an den Händen hielten und eine Polonaise versuchten. Es war ausgeschlossen, daß er hier Claudia finden würde. Nun denn. Er stieg nach einigen Minuten Abwartens von der Empore hinab in den Empfangssaal, die unverständlichen Kostümierten dort erhoffend. Doch so angestrengt er auch umherspähte, nirgends vermochte er sie auszumachen. Da hakte sich in seinem Arm eine wohlbekannte weibliche Hand ein, Claudia.+Es geschah auf dem ersten Ball des Jahres, den sie kürzlich besucht hatten. Zwar verhielt man sich in diesem Landesteil gegenüber karnevalistischem Scherzen recht bedeckt, dennoch hatten einige Zugezogene ihre regionalen Gebräuche auch in der Metropole mit Gleichgesinnten erhalten können. Und so hatte sich Lobos von einer Einladung verführen lassen. Als er den Eingangssaal der Vorstadtvilla betrat, wurde er von zwei verkleideten Hausdienern begrüßt, die ihn neckten und so gar nicht wieder aus ihrem Kreise entlassen wollten. Sie zupften an seinem Kostüm, zogen ihn schnurstracks auf die erste Empore und radebrachten dabei ein Kauderwelsch, von dem Lobos nichts Deutliches verstand, doch immerhin Einzelheiten aus seiner Sekretärs-und Studienzeit aufschnappte, die ihn erstaunten. Also ließ er sich ziehen. Dann verließen die Maskierten ihn plötzlich, versprachen aber demaskiert zurückzukommen. Lobos blickte vom Balkon auf das Tanzparkett, auf dem sich mehrere hundert Menschen in aufschäumender Beherztheit an den Händen hielten und eine Polonaise versuchten. Es war ausgeschlossen, daß er hier Claudia finden würde. Nun denn. Er stieg nach einigen Minuten Abwartens von der Empore hinab in den Empfangssaal, die unverständlichen Kostümierten dort erhoffend. Doch so angestrengt er auch umherspähte, nirgends vermochte er sie auszumachen. Da hakte sich in seinem Arm eine wohlbekannte weibliche Hand ein, Claudia.\\
 Claudia hatte den frühen Abend mit einem Fremden verbracht, dessen charmantes Wesen sie angezogen hatte, bis er eine derbe Anzüglichkeit nicht unterlassen konnte, die aus wohlwollender warmer Neugier kalte Distanziertheit ständete. Sie wandte sich ab und suchte im Gewühl mißratener und geglückter Verkleidungen die bekannte Hand ihres Gatten und so saßen sie nun beide, enttäuscht vom girrenden Gehabe des Karnevals, auf hölzernen Stühlen im Großen Saal einer Jugendstilvilla der Vorstadt, vertrieben sich die Zeit mit unbeschwertem Gekicher und Geplauder, als ob sie sich soeben erst kennengelernt hätten, als ob sie alles vom anderen zu wissen begehrten, und aßen Reste vom kalten Büffet. Nach einem langen Walzer faßten sie den Entschluß, eines der vor der Villa wartenden Taxis zu benutzen und den Abend unmaskiert miteinander zu beenden. Sie hielten nach dem Tanze einander fest an den Händen und marschierten schnurstracks durch den nassen Schnee zur nächsten Laterne, worunter ein bärtiger Altanarchist sie devot anlächelte, ihnen den Platz seines Chaiselonges reinigte und kurz darauf blitzschnell durch die menschenentleerten nächtlichen Straßen der Metropole ihrem Heim zuführte. Claudia hatte den frühen Abend mit einem Fremden verbracht, dessen charmantes Wesen sie angezogen hatte, bis er eine derbe Anzüglichkeit nicht unterlassen konnte, die aus wohlwollender warmer Neugier kalte Distanziertheit ständete. Sie wandte sich ab und suchte im Gewühl mißratener und geglückter Verkleidungen die bekannte Hand ihres Gatten und so saßen sie nun beide, enttäuscht vom girrenden Gehabe des Karnevals, auf hölzernen Stühlen im Großen Saal einer Jugendstilvilla der Vorstadt, vertrieben sich die Zeit mit unbeschwertem Gekicher und Geplauder, als ob sie sich soeben erst kennengelernt hätten, als ob sie alles vom anderen zu wissen begehrten, und aßen Reste vom kalten Büffet. Nach einem langen Walzer faßten sie den Entschluß, eines der vor der Villa wartenden Taxis zu benutzen und den Abend unmaskiert miteinander zu beenden. Sie hielten nach dem Tanze einander fest an den Händen und marschierten schnurstracks durch den nassen Schnee zur nächsten Laterne, worunter ein bärtiger Altanarchist sie devot anlächelte, ihnen den Platz seines Chaiselonges reinigte und kurz darauf blitzschnell durch die menschenentleerten nächtlichen Straßen der Metropole ihrem Heim zuführte.
  
 22.07.99 22.07.99
  
-Claudia striff Haut um Haut ab, wiegte sich im Walzertakt in den Hüften, derweil das Mondlicht ihre Statur in weiches Licht hüllte. Lobos wußte, das er einen unvergeßlichen Augenblick erlebte und starrte unbeweglich auf die weibliche Figur, deren Gesicht im Schattenriß des Mondes verschwunden war. Dann wurde es dunkel. Der Zauber verstieg sich im Wirklichen und wurde zur Phantasie. Lobos bewegte sich wieder, stand auf und umfaßte seine Frau, die sich mit geschlossenen Augen immer noch wiegte, nicht bemerkt hatte, daß ihre Gestalt schon längst keinen Schatten mehr warf und sich ihr Körper bereits auf dem Wege befand, mit dem geliebten anderen eines zu werden.+Claudia striff Haut um Haut ab, wiegte sich im Walzertakt in den Hüften, derweil das Mondlicht ihre Statur in weiches Licht hüllte. Lobos wußte, das er einen unvergeßlichen Augenblick erlebte und starrte unbeweglich auf die weibliche Figur, deren Gesicht im Schattenriß des Mondes verschwunden war. Dann wurde es dunkel. Der Zauber verstieg sich im Wirklichen und wurde zur [[Phantasie]]. Lobos bewegte sich wieder, stand auf und umfaßte seine Frau, die sich mit geschlossenen Augen immer noch wiegte, nicht bemerkt hatte, daß ihre Gestalt schon längst keinen Schatten mehr warf und sich ihr Körper bereits auf dem Wege befand, mit dem geliebten anderen eines zu werden.\\
 Der Morgen war grau. Lobos wurde zu seinen Schülern gerufen, Claudia mußte mit der Kleinen zum Arzt. Nichts Schlimmes, so glaubten sie fest, doch hatte die Kleine auch des Nachts wieder leicht gehustet, glücklicherweise war sie aber nicht aus den Träumen gerissen worden. Die Nacht lag verblaßt hinter allen dreien, das Tageswerk erwartete sie zu verschiedenerlei Pflichten. Der Morgen war grau. Lobos wurde zu seinen Schülern gerufen, Claudia mußte mit der Kleinen zum Arzt. Nichts Schlimmes, so glaubten sie fest, doch hatte die Kleine auch des Nachts wieder leicht gehustet, glücklicherweise war sie aber nicht aus den Träumen gerissen worden. Die Nacht lag verblaßt hinter allen dreien, das Tageswerk erwartete sie zu verschiedenerlei Pflichten.
-Sie saßen zu dritt am Frühstückstisch und wechselten belanglose Wörter, doppeldeutig, insofern Lobos sich des charmanten Fremden erinnerte und der verkleideten Hausdiener, die nicht so recht ins Bild der nächtlichen Hingabe passen wollten. Die Antworten wechselten hin und her, ein Schatten Unaufrichtigkeit lag über beider Geworte. Hatte er nicht selbst nach einem Abenteuer Ausschau gehalten? Er spottete sich ob seiner eifersüchtigen Reflexe, etwas, daß er seiner Frau nicht verzeihen mochte und sich selbst attestieren mußte. Claudia suchte ein leichtes Geplauder aufrechtzuerhalten. Die belanglosen Scherzereien mit dem Fremden erinnerten sie an die Jugend in ihrer leichtlebigeren Heimat. Sie wollte sich’s nicht zugestehen, daß er einen Bezirk ihrer Seele anzustoßen wußte, in dem gefährliche Wirbel sie in die Tiefe reißen konnten. Noch hielt sie die Gegenwart in den kleinen gepflegten Händen, doch wenn die Sehnsucht nach dem Altbekannten Oberhand gewönne, müßte sie dem Traumgespinst nachgeben, sich den Sinnen fügen, dem Hauch des Abenteuers neue Freiheiten abgewinnen und sich der Gefahr aussetzen, alles zu verlieren. Genau diese Untiefen in ihrer Seele spürte sie immer dann am stärksten, wenn sie mit Lobos eine erfüllte Nacht hinter sich wußte. Das war es, was sie besonders irritierte. Und so verging der Tag für alle drei recht zäh. Mißtrauen und der mangelnde Mut zur Ehrlichkeit führten zu ihrem Unwohlsein. Sie sprachen unsicher miteinander, wichen aus oder brachten das Gespräch in sichere Fahrwässer, die Kleine, die nun schon eine Funktion erhielt, die sie unmöglich tragen konnte, das Haus, in dem sie nunmehr seit vier Jahren wohnten und in dem sie bislang glücklich waren. Sie warteten auf den Abend, um beianderzusitzen und sich endlich zu stellen, allem Unwohlsein zum Trotze spürten beide die Notwendigkeit einer ehrlichen Aussprache.+Sie saßen zu dritt am Frühstückstisch und wechselten belanglose Wörter, doppeldeutig, insofern Lobos sich des charmanten Fremden erinnerte und der verkleideten Hausdiener, die nicht so recht ins Bild der nächtlichen Hingabe passen wollten. Die Antworten wechselten hin und her, ein Schatten Unaufrichtigkeit lag über beider Geworte. Hatte er nicht selbst nach einem Abenteuer Ausschau gehalten? Er spottete sich ob seiner eifersüchtigen Reflexe, etwas, daß er seiner Frau nicht verzeihen mochte und sich selbst attestieren mußte. Claudia suchte ein leichtes Geplauder aufrechtzuerhalten. Die belanglosen Scherzereien mit dem Fremden erinnerten sie an die Jugend in ihrer leichtlebigeren Heimat. Sie wollte sich’s nicht zugestehen, daß er einen Bezirk ihrer Seele anzustoßen wußte, in dem gefährliche Wirbel sie in die Tiefe reißen konnten. Noch hielt sie die Gegenwart in den kleinen gepflegten Händen, doch wenn die Sehnsucht nach dem Altbekannten Oberhand gewönne, müßte sie dem Traumgespinst nachgeben, sich den Sinnen fügen, dem Hauch des Abenteuers neue Freiheiten abgewinnen und sich der Gefahr aussetzen, alles zu verlieren. Genau diese Untiefen in ihrer [[Seele]] spürte sie immer dann am stärksten, wenn sie mit Lobos eine erfüllte Nacht hinter sich wußte. Das war es, was sie besonders irritierte. Und so verging der Tag für alle drei recht zäh. Mißtrauen und der mangelnde Mut zur Ehrlichkeit führten zu ihrem Unwohlsein. Sie sprachen unsicher miteinander, wichen aus oder brachten das Gespräch in sichere Fahrwässer, die Kleine, die nun schon eine Funktion erhielt, die sie unmöglich tragen konnte, das Haus, in dem sie nunmehr seit vier Jahren wohnten und in dem sie bislang glücklich waren. Sie warteten auf den Abend, um beianderzusitzen und sich endlich zu stellen, allem Unwohlsein zum Trotze spürten beide die Notwendigkeit einer ehrlichen Aussprache.\\
 Jetzt saßen sie beide, einander an den Händen haltend, auf den zwei aneinandergrenzenden Sesseln ihres Salons und schwiegen. Jetzt saßen sie beide, einander an den Händen haltend, auf den zwei aneinandergrenzenden Sesseln ihres Salons und schwiegen.
 „Kannst du dich noch an unseren ersten Sommer auf Samin erinnern?“ fragte Lobos. „Kannst du dich noch an unseren ersten Sommer auf Samin erinnern?“ fragte Lobos.
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 22.08.99 22.08.99
  
-Claudia ließ ihren Blick zu Boden fallen, faßte die Hand des Gatten um so fester. In ihrem Hals steckte ein Räuspern. Sie entließ es: „Ich hatte den jungen Mann schon des Morgens gesehen. Er stieg mit einem ledrigen Rindsportefeuille die Treppe hinan. Sein Blick hatte mich nur kurz gestreift, eine kaum wahrzunehmende Musterung, die mich erbeben ließ. Auf halber Treppe blieb er stehen, tat so, als ob er über etwas zum Ergebnis gekommen wäre und drehte sich zum Portier um. Aber sein Blick fiel über mich her. Er sprach mit dem eifrigen Mann zu meiner Linken, die Augen leuchteten zu mir herüber, der Mund wurde hart, indem er mit dem Manne neben mir befehlsgewohnt sprach. Ich konnte ihn nicht aus den Augen lassen. Ach, Lobos! Den ganzen darauffolgenden Vormittag mußte ich traumverloren am Strand nach Burgen suchen, suchte dem Plätschern der leicht zerschellenden Wellen zu entkommen, aber in meinem Kopf glaubte ich mich als Kind wiederzuhören, auf seinem Schoße geborgen. Wirst du das verstehen? Wirst du es mir verzeihen können, daß ich mich so hingeben konnte?-Als ich zurückkehrte, sprachen wir über unsere Zukunft. Du erinnerst dich, es war der Tag, da im ganzen Land die Menschen die Rathäuser stürmten, um sich selbst eine neue Regierung zu geben. Es war ein-und derselbe Tag, da dies alles geschah. Wir sprachen über unsere Zukunft, über eine Tochter, die in meinem Schoße bereits reifte, über den bevorstehenden Winter, das gemeinsame Heim in der Metropole. Über all das sprachen wir; ich aber hatte immer noch den Blick des jungen Mannes in mir. Wir saßen auf dem Balkon und sahen zum Strand, du strichst mir über die Stirn und küßtest mich. Ich umarmte dich, aus Mitleid. Später gingen wir hinunter in den Tanzsaal, zum Balle des darauffolgenden Martinstages. Ich war schön wie nie, trug ein enges weißes Kleid, das meine Figur beinahe unverschämt offenlegte, eine alte Brosche aus Bronze, hatte die Haare hochgesteckt und bemühte mich um Fröhlichkeit. Du bemerktest es und warst sehr zärtlich, dachtest, ich sei für dich so schön, so erblüht. Ach, Lobos, ihr Männer spürt doch selbst niemals die Veränderungen einer Frau, wenn sie sich geliebt fühlt durch einen anderen. Er saß an einem Nachbartisch, mit ihm einige Offiziere, die sehr traurig dreinblickten. Hermynia kam und forderte ihn zum Tanzen auf. Wir gingen selbstverloren aufs Parkett und tauschten die Partner. Und ich schwebte. Nachdem er mich zu unserem Tische zurückgebracht hatte, vermied er es sorgfältig aufzublicken. Und ich wartete, daß er es täte. Er sprach wenig.  Ich spielte mit dem Gedanken, zu ihm zu gehen und mich hinzugeben, da reichte man ihm ein Kuvert, er las es, erblaßte und verließ den Saal. Auch diesmal wandte er sich vor Erreichen der Tür um und musterte mich mit einem Blick, der Traurigkeit und Leere gleichsam beinhaltete. Doch ich blieb sitzen, zupfte nur an meinem Kleid, in dem ich mich mitmal unwohl fühlte. Du weißt es noch, daß ich bald zum Aufbruch drängte!“ +Claudia ließ ihren Blick zu Boden fallen, faßte die Hand des Gatten um so fester. In ihrem Hals steckte ein Räuspern. Sie entließ es: „Ich hatte den jungen Mann schon des Morgens gesehen. Er stieg mit einem ledrigen Rindsportefeuille die Treppe hinan. Sein Blick hatte mich nur kurz gestreift, eine kaum wahrzunehmende Musterung, die mich erbeben ließ. Auf halber Treppe blieb er stehen, tat so, als ob er über etwas zum Ergebnis gekommen wäre und drehte sich zum Portier um. Aber sein Blick fiel über mich her. Er sprach mit dem eifrigen Mann zu meiner Linken, die Augen leuchteten zu mir herüber, der Mund wurde hart, indem er mit dem Manne neben mir befehlsgewohnt sprach. Ich konnte ihn nicht aus den Augen lassen. Ach, Lobos! Den ganzen darauffolgenden Vormittag mußte ich traumverloren am Strand nach Burgen suchen, suchte dem Plätschern der leicht zerschellenden Wellen zu entkommen, aber in meinem Kopf glaubte ich mich als Kind wiederzuhören, auf seinem Schoße geborgen. Wirst du das verstehen? Wirst du es mir verzeihen können, daß ich mich so hingeben konnte?- Als ich zurückkehrte, sprachen wir über unsere Zukunft. Du erinnerst dich, es war der Tag, da im ganzen Land die Menschen die Rathäuser stürmten, um sich selbst eine neue Regierung zu geben. Es war ein-und derselbe Tag, da dies alles geschah. Wir sprachen über unsere Zukunft, über eine Tochter, die in meinem Schoße bereits reifte, über den bevorstehenden Winter, das gemeinsame Heim in der Metropole. Über all das sprachen wir; ich aber hatte immer noch den Blick des jungen Mannes in mir. Wir saßen auf dem Balkon und sahen zum Strand, du strichst mir über die Stirn und küßtest mich. Ich umarmte dich, aus Mitleid. Später gingen wir hinunter in den Tanzsaal, zum Balle des darauffolgenden Martinstages. Ich war schön wie nie, trug ein enges weißes Kleid, das meine Figur beinahe unverschämt offenlegte, eine alte Brosche aus Bronze, hatte die Haare hochgesteckt und bemühte mich um Fröhlichkeit. Du bemerktest es und warst sehr zärtlich, dachtest, ich sei für dich so schön, so erblüht. Ach, Lobos, ihr Männer spürt doch selbst niemals die Veränderungen einer Frau, wenn sie sich geliebt fühlt durch einen anderen. Er saß an einem Nachbartisch, mit ihm einige Offiziere, die sehr traurig dreinblickten. Hermynia kam und forderte ihn zum Tanzen auf. Wir gingen selbstverloren aufs Parkett und tauschten die Partner. Und ich schwebte. Nachdem er mich zu unserem Tische zurückgebracht hatte, vermied er es sorgfältig aufzublicken. Und ich wartete, daß er es täte. Er sprach wenig.  Ich spielte mit dem Gedanken, zu ihm zu gehen und mich hinzugeben, da reichte man ihm ein Kuvert, er las es, erblaßte und verließ den Saal. Auch diesmal wandte er sich vor Erreichen der Tür um und musterte mich mit einem Blick, der Traurigkeit und Leere gleichsam beinhaltete. Doch ich blieb sitzen, zupfte nur an meinem Kleid, in dem ich mich mitmal unwohl fühlte. Du weißt es noch, daß ich bald zum Aufbruch drängte!“\\ 
-„Was weiter?“ fragte Lobos, als Claudia schwieg. +„Was weiter?“ fragte Lobos, als Claudia schwieg.\\ 
-„Ich erfuhr am nächsten Tag von einem seiner Offiziersfreunde, daß er gezwungen ward, Samin aufs schnellste zu verlassen. Sein Weg sollte ihn in die Metropole führen, einer alten Verpflichtung nachzukommen. Ich wußte damals nicht, ob ich froh oder traurig darüber sein sollte, doch war damit endgültig auch unser Schicksal entschieden. Ich stimmte dir also zu, letztlich, daß Samin nunmehr zu verlassen sei. Ja, Lobos, das soll die Wahrheit sein.“ +„Ich erfuhr am nächsten Tag von einem seiner Offiziersfreunde, daß er gezwungen ward, Samin aufs schnellste zu verlassen. Sein Weg sollte ihn in die Metropole führen, einer alten Verpflichtung nachzukommen. Ich wußte damals nicht, ob ich froh oder traurig darüber sein sollte, doch war damit endgültig auch unser Schicksal entschieden. Ich stimmte dir also zu, letztlich, daß Samin nunmehr zu verlassen sei. Ja, Lobos, das soll die Wahrheit sein.“\\ 
-„Das wird ein Anfang sein. Ich muß dir gestehen, daß auch ich an jenem bewußten Tage sehr früh am Morgen aufstand und am Ufer entlangwanderte“, sagte Lobos mit unterlegter Stimme.  „Ich genoß den Blick auf die aufgehende Sonne, ich hoffte auf ein bestimmtes weibliches Wesen, wollte aber den Namen mir selbst nicht zugeben. Ich wußte nur, daß sie ebenfalls die Morgenstimmung des Meeres genoß, sommers wie winters. Und richtig: Da stand sie am Ufer mit ihrem aufgelösten roten Haar. Es wehte im Wind und ein Teil floß ihr sanft um die Brust, die sich unter dem Anzug abzeichnete. Sie schien versunken in den Anblick des tiefen Meeres und bemerkte mich nicht. Ich ging auf sie zu und umfaßte ihren Leib. Da erwachte sie und zitterte. Dann wurde das Gesicht zornig, als wüßte es nicht die Freude zu verbergen oder die Beschämung. Verlegenheit kam auch hinzu. Und Sehnsucht. Die siegte. Sie breitete die Arme aus und ihre süße Erregung floß zu mir herüber. Dann war’s aus. Sie schüttelte mit dem Kopf, löste die Arme und wandte sich ab. Nun war sie wieder die selbstsichere und gebietende Willkür. Meine Ritterlichkeit gebot mir, mich zu entfernen, aber es mußte noch ein anderes hinzukommen; es war die Ablehnung, die mich bis aufs Mark traf. Ich schleppte mich zum Hotel zurück, Dir einen schönen Morgen zu bereiten...“ +„Das wird ein Anfang sein. Ich muß dir gestehen, daß auch ich an jenem bewußten Tage sehr früh am Morgen aufstand und am Ufer entlangwanderte“, sagte Lobos mit unterlegter Stimme.  „Ich genoß den Blick auf die aufgehende Sonne, ich hoffte auf ein bestimmtes weibliches Wesen, wollte aber den Namen mir selbst nicht zugeben. Ich wußte nur, daß sie ebenfalls die Morgenstimmung des Meeres genoß, sommers wie winters. Und richtig: Da stand sie am Ufer mit ihrem aufgelösten roten Haar. Es wehte im Wind und ein Teil floß ihr sanft um die Brust, die sich unter dem Anzug abzeichnete. Sie schien versunken in den Anblick des tiefen Meeres und bemerkte mich nicht. Ich ging auf sie zu und umfaßte ihren Leib. Da erwachte sie und zitterte. Dann wurde das Gesicht zornig, als wüßte es nicht die Freude zu verbergen oder die Beschämung. Verlegenheit kam auch hinzu. Und Sehnsucht. Die siegte. Sie breitete die Arme aus und ihre süße Erregung floß zu mir herüber. Dann war’s aus. Sie schüttelte mit dem Kopf, löste die Arme und wandte sich ab. Nun war sie wieder die selbstsichere und gebietende Willkür. Meine Ritterlichkeit gebot mir, mich zu entfernen, aber es mußte noch ein anderes hinzukommen; es war die Ablehnung, die mich bis aufs Mark traf. Ich schleppte mich zum Hotel zurück, Dir einen schönen Morgen zu bereiten...“\\ 
-„Wie oft warst du am Strand?“ fragte Claudia leise. +„Wie oft warst du am Strand?“ fragte Claudia leise.\\ 
-„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich jeden Tag suchte. Aber ich suchte.“ Lobos hatte die Gardinen beiseite geschoben und stierte aus dem Fenster. Sein Mund, so fürchtete er, hatte jetzt die unliebsame Härte seiner Seele. Er fürchtete sich vor den Untiefen seiner Seele und glaubte sich selbst einen Grund, einen harten Grund verordnen zu müssen, Sicherheit fürs künftige Handeln. +„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich jeden Tag suchte. Aber ich suchte.“ Lobos hatte die Gardinen beiseite geschoben und stierte aus dem Fenster. Sein Mund, so fürchtete er, hatte jetzt die unliebsame Härte seiner Seele. Er fürchtete sich vor den Untiefen seiner Seele und glaubte sich selbst einen Grund, einen harten Grund verordnen zu müssen, Sicherheit fürs künftige Handeln.\\ 
-„Wir werden ehrlich zueinander sein und nicht vor uns Gründe zum Aufschieben gelten lassen. Wirst du mir erzählen, was dich bewegt, Lobos?“+„Wir werden ehrlich zueinander sein und nicht vor uns Gründe zum Aufschieben gelten lassen. Wirst du mir erzählen, was dich bewegt, Lobos?“\\
 Lobos besaß immer noch nicht die Kraft, Claudia ins Gesicht zu blicken. Sein Mund blieb hart, als er stumm nickte. Da nahm Claudia seine Hände und streichelte sie sanft. Er beugte sich zu ihr nieder und küßte ihr Haar, wobei ihm die Vorstellung eines leichten Rottons Übelkeit verursachte. Seine Frau! Er hatte ihr seine Jugendlieben, vor allem die unausgelebte Beziehung zu Hermynia gestanden, was ihn jetzt reute. Unausgelebt. Er hob sie auf und küßte ihr sanft die Lippen, auch dies als stumme Drohung begreifend. Lobos besaß immer noch nicht die Kraft, Claudia ins Gesicht zu blicken. Sein Mund blieb hart, als er stumm nickte. Da nahm Claudia seine Hände und streichelte sie sanft. Er beugte sich zu ihr nieder und küßte ihr Haar, wobei ihm die Vorstellung eines leichten Rottons Übelkeit verursachte. Seine Frau! Er hatte ihr seine Jugendlieben, vor allem die unausgelebte Beziehung zu Hermynia gestanden, was ihn jetzt reute. Unausgelebt. Er hob sie auf und küßte ihr sanft die Lippen, auch dies als stumme Drohung begreifend.
  
 18.09.99 18.09.99
  
-„Es ist so, wie du’s dir schon denkst“, sagte sie mit harter Stimme. +„Es ist so, wie du’s dir schon denkst“, sagte sie mit harter Stimme.\\ 
-„Du verschweigst mir etwas!“ erwiderte er barsch. Sie nickte. „Wie viele?“ wollte er wissen. +„Du verschweigst mir etwas!“ erwiderte er barsch. Sie nickte. „Wie viele?“ wollte er wissen.\\ 
-„Nur einer. Aber der eine...“ +„Nur einer. Aber der eine...“\\ 
-„Wann?“ +„Wann?“\\ 
-„Vor deiner Zeit... Ich traf ihn auf einem Spaziergang in den Ottilienbergen. Ich war jung, sehr jung, so wie er. Der schöne junge Mann stand an einem Brunnen und beugte sich über den Brunnenrand, spielte mit dem  Wasser in der Tiefe. Ich war vom Hinaufgang sehr erschöpft und begehrte von dem Wasser. Er lächelte und sagte, es sei kein Eimer vorhanden. Der Strick sei lose. Er band der Strick fest um mich und ließ mich in die Tiefe unter der Bedingung, daß ich ihm etwas mit heraufbringen mochte. Ich fragte ihn, wie. Er lächelte nur. Ich ließ mich darauf ein und er ließ mich hinunter. Es war nicht sehr tief, vielleicht drei Meter. Ich schöpfte mit den Händen und trank von dem kühlen Naß; nun, wie sollte ich’s anstellen? Mit den Händen mußte ich mich am Strick festhalten, die einzige Höhlung war mein Mund... Er trank mich aus. Lobos, er trank und trank und konnte gar nicht genug bekommen. Und ich ließ es geschehen, ließ ihn trinken und ließ mich ein zweites und drittes Mal die wenigen Meter bis zum Wasser hinabgleiten und hinaufziehen.– Ja, ich fand Gefallen daran.“ +„Vor deiner Zeit... Ich traf ihn auf einem Spaziergang in den Ottilienbergen. Ich war jung, sehr jung, so wie er. Der schöne junge Mann stand an einem Brunnen und beugte sich über den Brunnenrand, spielte mit dem  Wasser in der Tiefe. Ich war vom Hinaufgang sehr erschöpft und begehrte von dem Wasser. Er lächelte und sagte, es sei kein Eimer vorhanden. Der Strick sei lose. Er band der Strick fest um mich und ließ mich in die Tiefe unter der Bedingung, daß ich ihm etwas mit heraufbringen mochte. Ich fragte ihn, wie. Er lächelte nur. Ich ließ mich darauf ein und er ließ mich hinunter. Es war nicht sehr tief, vielleicht drei Meter. Ich schöpfte mit den Händen und trank von dem kühlen Naß; nun, wie sollte ich’s anstellen? Mit den Händen mußte ich mich am Strick festhalten, die einzige Höhlung war mein Mund... Er trank mich aus. Lobos, er trank und trank und konnte gar nicht genug bekommen. Und ich ließ es geschehen, ließ ihn trinken und ließ mich ein zweites und drittes Mal die wenigen Meter bis zum Wasser hinabgleiten und hinaufziehen.– Ja, ich fand Gefallen daran.“\\ 
-Lobos wurde unruhig. „Und wenn es zufällig ein anderer gewesen wäre und ihm wäre zufällig etwas Ähnliches eingefallen...“+Lobos wurde unruhig. „Und wenn es zufällig ein anderer gewesen wäre und ihm wäre zufällig etwas Ähnliches eingefallen...“\\
 „Dann hätte ich es eben auch getan“, bestätigte Claudia Lobos’ Verdacht. „Dann hätte ich es eben auch getan“, bestätigte Claudia Lobos’ Verdacht.
  
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 2. Kapitel: Die letzten Tage des zweiten Reiches 2. Kapitel: Die letzten Tage des zweiten Reiches
  
-Die letzte Etappe begann mit Bethmanns Sturz. Die Arbeiter schufen den Volksbund, dagegen profilierte sich immer stärker die Vaterlandspartei. Beide arbeiteten gegen die Monarchie, die Volksbündler suchten die zunehmende Entfremdung zwischen Mannschaften und Offizieren mit Argumenten zu schüren, die auf dem Verstandesmechanismus eines vulgären Materialismus fußten-mithin unvergorenen Wein als Seligmacher verteilen wollten-die Vaterlandspartei war alles andere als vaterländisch orientiert und suchte Ansprüche „Deutschlands“ auf Entschädigung für die Leiden des aufgezwungenen Krieges zu rechtfertigen. Annexionen fremden Volkstums als Entschädigung?! Man stelle sich diesen verquasten Unsinn vor! Beide Seiten bildeten die Vorläufer für politische Kräfte, die mit ebenjener Inbrunst späterhin an der Zerstörung des Staates und des Landes erfolgreicher Hand anlegten. +Die letzte Etappe begann mit Bethmanns Sturz. Die Arbeiter schufen den Volksbund, dagegen profilierte sich immer stärker die Vaterlandspartei. Beide arbeiteten gegen die Monarchie, die Volksbündler suchten die zunehmende Entfremdung zwischen Mannschaften und Offizieren mit Argumenten zu schüren, die auf dem Verstandesmechanismus eines vulgären Materialismus fußten-mithin unvergorenen Wein als Seligmacher verteilen wollten-die Vaterlandspartei war alles andere als vaterländisch orientiert und suchte Ansprüche „Deutschlands“ auf Entschädigung für die Leiden des aufgezwungenen Krieges zu rechtfertigen. Annexionen fremden Volkstums als Entschädigung?! Man stelle sich diesen verquasten Unsinn vor! Beide Seiten bildeten die Vorläufer für politische Kräfte, die mit ebenjener Inbrunst späterhin an der Zerstörung des Staates und des Landes erfolgreicher Hand anlegten. \\
 Der Haß auf die Offiziere wuchs, man sah in ihnen den preußischen Geist, der sich um jedermanns Willen nicht bekümmerte, sondern ein abstraktes Prinzip durchzusetzen suchte. Der Kaiser wurde durch einen Herrn von Berg von der Außenwelt abgeschirmt, ließ es sich aber auch gefallen, die Geschäfte zusehens aus den Händen zu verlieren; er vertraute schon längst den strategischen Fertigkeiten Ludendorffs, von wirtschaftlichen Fragen hatte er eh keine Ahnung, von sozialen sowieso noch nie besessen. Abordnungen, die auf den Ernst der Lage aufmerksam zu machen suchten, fanden kein Gehör. Man sah keinen Sinn in einer Aufgabe, da die deutschen Heere im Felde noch unbesiegt waren. Man? Die Oeffentlichkeit!!! Die übergroße Mehrheit der Deutschen. Man erkannte, daß der Haß zwischen dem Heer und der Etappe, wie man die Zulieferung und die Nichtfrontkämpfer beinahe in einen wertenden Wirkzusammenhang setzte, stets wuchs. Herr von Hintze suchte eine politische Bereinigung der innenpolitischen Unwägbarkeiten, indem er eine parlamentarische Monarchie mit demokratischen Zügen endgültig durchsetzte, von Baden, der dies zuvor und dennoch zu spät initiiert hatte, hoffte auf die Erhaltung des Kaiserreichs, suchte Vermittlung zwischen den Interessen, erfüllte Vorbedingungen des sich bereits im Sommer 1918 als Sieger des Krieges profilierenden amerikanischen Präsidenten Wilson, um das Morden endlich auszusetzen. Umsonst.   Der Haß auf die Offiziere wuchs, man sah in ihnen den preußischen Geist, der sich um jedermanns Willen nicht bekümmerte, sondern ein abstraktes Prinzip durchzusetzen suchte. Der Kaiser wurde durch einen Herrn von Berg von der Außenwelt abgeschirmt, ließ es sich aber auch gefallen, die Geschäfte zusehens aus den Händen zu verlieren; er vertraute schon längst den strategischen Fertigkeiten Ludendorffs, von wirtschaftlichen Fragen hatte er eh keine Ahnung, von sozialen sowieso noch nie besessen. Abordnungen, die auf den Ernst der Lage aufmerksam zu machen suchten, fanden kein Gehör. Man sah keinen Sinn in einer Aufgabe, da die deutschen Heere im Felde noch unbesiegt waren. Man? Die Oeffentlichkeit!!! Die übergroße Mehrheit der Deutschen. Man erkannte, daß der Haß zwischen dem Heer und der Etappe, wie man die Zulieferung und die Nichtfrontkämpfer beinahe in einen wertenden Wirkzusammenhang setzte, stets wuchs. Herr von Hintze suchte eine politische Bereinigung der innenpolitischen Unwägbarkeiten, indem er eine parlamentarische Monarchie mit demokratischen Zügen endgültig durchsetzte, von Baden, der dies zuvor und dennoch zu spät initiiert hatte, hoffte auf die Erhaltung des Kaiserreichs, suchte Vermittlung zwischen den Interessen, erfüllte Vorbedingungen des sich bereits im Sommer 1918 als Sieger des Krieges profilierenden amerikanischen Präsidenten Wilson, um das Morden endlich auszusetzen. Umsonst.  
  
 23.08.1999 23.08.1999
  
-Die Gegner wollten Deutschland nicht als Monarchie bestehen lassen, wollten es kleiner und ärmer machen, wollten es demütigen, das Rückgrat brechen, um es als Widerpart auszuschalten. Auf eine Vermittlung und einen gerechten Frieden bestand nie eine Aussicht, insofern erwies sich die Voraussage der Ultristen rechts und links als schlichtweg wahr. +Die Gegner wollten Deutschland nicht als Monarchie bestehen lassen, wollten es kleiner und ärmer machen, wollten es demütigen, das Rückgrat brechen, um es als Widerpart auszuschalten. Auf eine Vermittlung und einen gerechten Frieden bestand nie eine Aussicht, insofern erwies sich die Voraussage der Ultristen rechts und links als schlichtweg wahr. \\
 Als der Volksbund für Vaterland und Freiheit Anfang November tagte, stand es außer Frage, daß der Krieg verloren sei, daß das Kaiserreich unhaltbar sei, stand außer Frage,  daß der völlige Zusammenbruch staatlicher Ordnung unmittelbar bevorstünde.  Als der Volksbund für Vaterland und Freiheit Anfang November tagte, stand es außer Frage, daß der Krieg verloren sei, daß das Kaiserreich unhaltbar sei, stand außer Frage,  daß der völlige Zusammenbruch staatlicher Ordnung unmittelbar bevorstünde. 
-Am Samstag, dem 9. November riß man den Offizieren die Achselstücke ab, die Mittagszeitungen nannten Ebert den neuen Reichspräsidenten, später wurden Meldungen laut, die von Matrosenaufständen berichteten, von einem Kaiser in Holland, vom Abdanken der Fürsten, vom blutarmen Abdanken der alten Herrscher, für die die Armee nicht eintrat, wobei es die alten Herrscher aber auch nicht wünschten, daß Deutsche auf Deutsche schossen. Eine skurrile Revolution... Am Sonntag hatten sich die meisten mit der neuen Situation abgefunden, sich bereits bei den neuen Herren erkundigt, ob sie weiterhin im Staatsdienst Dienst tun könnten, v.a. bezahlt werden würden. Sie würden! Also putzte man sich heraus, nicht so prunkvoll wie zu Kaisers Zeiten, doch mit dem Stolz eines Bürgers, und ging im Tier-oder Englischen Garten spazieren. +Am Samstag, dem 9. November riß man den Offizieren die Achselstücke ab, die Mittagszeitungen nannten [[Ebert]] den neuen Reichspräsidenten, später wurden Meldungen laut, die von Matrosenaufständen berichteten, von einem Kaiser in Holland, vom Abdanken der Fürsten, vom blutarmen Abdanken der alten Herrscher, für die die Armee nicht eintrat, wobei es die alten Herrscher aber auch nicht wünschten, daß Deutsche auf Deutsche schossen. Eine skurrile Revolution... Am Sonntag hatten sich die meisten mit der neuen Situation abgefunden, sich bereits bei den neuen Herren erkundigt, ob sie weiterhin im Staatsdienst [[Dienst]] tun könnten, v.a. bezahlt werden würden. Sie würden! Also putzte man sich heraus, nicht so prunkvoll wie zu Kaisers Zeiten, doch mit dem Stolz eines Bürgers, und ging im Tier-oder Englischen Garten spazieren.\\ 
-Nur innerhalb des Militärs ging es nicht ganz so reibungslos vor sich. Da gab es Gegnerschaft zwischen Mannschaft und Offizieren, verstärkt wurde dies durch die bald bekannt werdenden Waffenstillstandsbedingungen, die quasi einer Kapitulation gleichkamen. Das unbesiegte deutsche Heer sollte als großer Verlierer aus dem Kriege heimkehren? In Deutschland regte sich gegen diese Bedingungen Widerstand. Man wußte, daß man nicht gut stand an der Front, doch schließlich stand man überall im Feindesland, wie konnte da von einer Niederlage gesprochen werden? Man hatte vier Jahre allein gegen die Welt bestanden, hatte sich behauptet, nun sollte alles umsonst gewesen sein, trotz der Zusicherungen des großen Wilson, der einen ehrenvollen Frieden versprochen hatte, wenn man sich mit einer defensiven Linie begnügen wollte... Man wollte ja! Kriegsziel war die Erhaltung des status quo ante; nur einige wenige schrien nach Annexionen, nach dem Mehr eines territorial saturierten Deutschlands. Die gab es in jedem Land, warum also auch nicht in Deutschland? Wegen dieser Schreihälse sollte das ganze Land abgestraft werden? Man frug sich dies immer stärker. Da mußte prinzipiell eine große Lüge im Raume stehen, wenn Versprechungen willkürlich gegeben und gehalten wurden. Willkür oder Konzept? Konzept!  +Nur innerhalb des Militärs ging es nicht ganz so reibungslos vor sich. Da gab es Gegnerschaft zwischen Mannschaft und Offizieren, verstärkt wurde dies durch die bald bekannt werdenden Waffenstillstandsbedingungen, die quasi einer Kapitulation gleichkamen. Das unbesiegte deutsche Heer sollte als großer Verlierer aus dem Kriege heimkehren? In Deutschland regte sich gegen diese Bedingungen Widerstand. Man wußte, daß man nicht gut stand an der Front, doch schließlich stand man überall im Feindesland, wie konnte da von einer Niederlage gesprochen werden? Man hatte vier Jahre allein gegen die Welt bestanden, hatte sich behauptet, nun sollte alles umsonst gewesen sein, trotz der Zusicherungen des großen Wilson, der einen ehrenvollen Frieden versprochen hatte, wenn man sich mit einer defensiven Linie begnügen wollte... Man wollte ja! Kriegsziel war die Erhaltung des status quo ante; nur einige wenige schrien nach Annexionen, nach dem Mehr eines territorial saturierten Deutschlands. Die gab es in jedem Land, warum also auch nicht in Deutschland? Wegen dieser Schreihälse sollte das ganze Land abgestraft werden? Man frug sich dies immer stärker. Da mußte prinzipiell eine große Lüge im Raume stehen, wenn Versprechungen willkürlich gegeben und gehalten wurden. Willkür oder Konzept? Konzept! \\ 
-Ein Staat, der sich auf solch wackligen Füßen erbaut, auf vagen Versprechungen und dem Diktat eines Lugs, der wird untergehen, eher früh als spät. +Ein Staat, der sich auf solch wackligen Füßen erbaut, auf vagen Versprechungen und dem Diktat eines Lugs, der wird untergehen, eher früh als spät.\\ 
-Das Muster des Machtwechsels war an allen Orten in Deutschland ähnlich: die Offiziere verschwanden, das Machtvakuum füllten Soldatenräte, die sich nach russischem Vorbild konstituierten. In diesen Räten errangen die aggressiveren Unabhängigen bald die Oberhand, wohingegen sich in den Arbeiterräten, die sich vornehmlich in den Industriezentren des Landes konstituierten, gemäßigte Sozialdemokraten das Sagen hatten, allmählich auch linksliberale und moderate bürgerliche Stimmen Sprache erhielten. Das ist ein Phänomen dieser Revolution gewesen: die Regierungssozialdemokratie erwies sich als unfähig, die Geschicke der Revolution zu koordinieren, obwohl der übergroße Teil der deutschen Bevölkerung ihnen das Vertrauen aussprach. Die Sozialdemokratie handelte erstaunlich patriotisch, aber auch letztlich gegen die Interessen des Proletariats, für die sie doch einst aufgestanden war. Eine zwiespältige psychologische Grundierung: Vielleicht sorgte ein jahrzehntelang von den politischen Opponenten vorgebrachtes Verdikt des Vaterlandslosen noch nach und sie bemühten sich, nun allen versteckten Gegnern das Gegenteil zu beweisen? +Das Muster des Machtwechsels war an allen Orten in Deutschland ähnlich: die Offiziere verschwanden, das Machtvakuum füllten Soldatenräte, die sich nach russischem Vorbild konstituierten. In diesen Räten errangen die aggressiveren Unabhängigen bald die Oberhand, wohingegen sich in den Arbeiterräten, die sich vornehmlich in den Industriezentren des Landes konstituierten, gemäßigte Sozialdemokraten das Sagen hatten, allmählich auch linksliberale und moderate bürgerliche Stimmen Sprache erhielten. Das ist ein [[Phänomen]] dieser [[Revolution]] gewesen: die Regierungssozialdemokratie erwies sich als unfähig, die Geschicke der Revolution zu koordinieren, obwohl der übergroße Teil der deutschen Bevölkerung ihnen das Vertrauen aussprach. Die Sozialdemokratie handelte erstaunlich patriotisch, aber auch letztlich gegen die Interessen des Proletariats, für die sie doch einst aufgestanden war. Eine zwiespältige psychologische Grundierung: Vielleicht sorgte ein jahrzehntelang von den politischen Opponenten vorgebrachtes Verdikt des Vaterlandslosen noch nach und sie bemühten sich, nun allen versteckten Gegnern das Gegenteil zu beweisen?\\ 
-Das Reich stand am Abgrund, aber es hielt. Nichts fiel ab. Das Volk wollte keine proletarische Revolution, es wollte Frieden und Brot, es wollte keine Demütigung und es wollte keine Restauration, es wollte keine fremden Truppen im Land, es wollte den Anschluß Deutsch-Österreichs, wollte die Polen und Franzosen im Zaume halten, es wollte deutsch bleiben, über die Klassen-Konfessions-Standesschranken hinweg. Man hatte das Gefühl des Deutschseins genossen wie eine neue Erkenntnis, endlich zueinandergefunden, wollte man nicht durch ein diabolisches Außen dazu genötigt werden, sich selbst aufzugeben. Man wollte auch im Inneren nicht durch traditionelle Kämpfe aufgerieben werden: Ruhe und Ordnung sollten herrschen, Aufbau beginnen. So fühlte die übergroße Mehrheit der Deutschen. Der Kaiser war ihnen lieb gewesen, aber lieber war ihnen Deutschland, also war es um den Kaiserthron nicht sehr schade. Man hatte Respekt vor den Offizieren und dem Adel, ihm hatte Deutschland viel zu verdanken, doch der Verlust eines Titels kann modernen Menschen nicht allzuviel bedeuten; die Arbeit ist’s, die zählt, die Arbeit am Ganzen. Der Adel würde seine Aufgabe als Aufgabe begreifen lernen müssen. Niemand erschlug seinen „Peininger“, nicht einmal die deutschen Bolschewiken zündeten Schlösser an, verfolgten Grafen und Fürsten, nicht einmal die ärgsten Lumpenproletarier zogen mit Messern gegen ihre alte Herrschaft. Nicht einmal die! Man überlege, was das bedeutet! Man riß den Offizieren die Achselstücken ab! Das war’s! Das war die deutsche Revolution! Selbst im Augenblick des größten Hasses setzte man ein Standessymbol, begriff man sich selbst als Teil eines Ganzen, eines Körpers, zu dem man eben stand. Die Uniform wurde nicht angegriffen, sondern das Achselstück, der Rang. Jeder sollte gleich sein, jeder sollte dienen! +Das Reich stand am Abgrund, aber es hielt. Nichts fiel ab. Das Volk wollte keine proletarische Revolution, es wollte Frieden und Brot, es wollte keine Demütigung und es wollte keine Restauration, es wollte keine fremden Truppen im Land, es wollte den Anschluß Deutsch-Österreichs, wollte die Polen und Franzosen im Zaume halten, es wollte deutsch bleiben, über die Klassen-Konfessions-Standesschranken hinweg. Man hatte das Gefühl des Deutschseins genossen wie eine neue Erkenntnis, endlich zueinandergefunden, wollte man nicht durch ein diabolisches Außen dazu genötigt werden, sich selbst aufzugeben. Man wollte auch im Inneren nicht durch traditionelle Kämpfe aufgerieben werden: Ruhe und Ordnung sollten herrschen, Aufbau beginnen. So fühlte die übergroße Mehrheit der Deutschen. Der Kaiser war ihnen lieb gewesen, aber lieber war ihnen Deutschland, also war es um den Kaiserthron nicht sehr schade. Man hatte Respekt vor den Offizieren und dem [[Adel]], ihm hatte Deutschland viel zu verdanken, doch der Verlust eines Titels kann modernen Menschen nicht allzuviel bedeuten; die Arbeit ist’s, die zählt, die Arbeit am Ganzen. Der Adel würde seine Aufgabe als Aufgabe begreifen lernen müssen. Niemand erschlug seinen „Peininger“, nicht einmal die deutschen [[Bolschewiki#Bolschewiken]] zündeten Schlösser an, verfolgten Grafen und Fürsten, nicht einmal die ärgsten Lumpenproletarier zogen mit Messern gegen ihre alte Herrschaft. Nicht einmal die! Man überlege, was das bedeutet! Man riß den Offizieren die Achselstücken ab! Das war’s! Das war die deutsche Revolution! Selbst im Augenblick des größten Hasses setzte man ein Standessymbol, begriff man sich selbst als Teil eines Ganzen, eines Körpers, zu dem man eben stand. Die Uniform wurde nicht angegriffen, sondern das Achselstück, der Rang. Jeder sollte gleich sein, jeder sollte dienen!
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-Das war der Anfang der Revolution. Sie ging weiter und blieb nicht in ruhigen Gewässern. Das Volk hatte seine Oberschicht verloren und taumelte. Man tanzte, setzte höhere Löhne durch, ohne die Arbeitsproduktivität zu erhöhen.  +
-1918 überließ die Oberschicht den „Proleten“ den politischen Trümmerhaufen. Wirtschaftlich war das Land ruiniert, die neuen „Herren“ sahen sich über Nacht vor der Aufgabe, mit ungeschulten Kräften Posten zu übernehmen. Viele, die sich im sicheren Schutz der Opposition bisher hinter radikalen Phrasen verbargen, mußten nun Hand anlegen und eine neue Herrlichkeit schaffen. Ohne Fehlgriffe und Fehltritte ging das nicht ab. +
-Anfang 1919 sammelten sich die versprengten konservativen Kräfte und bildeten Freiwilligenverbände, die dem Chaos ein Ende machen wollten, zuweilen grausam richteten, sich über geltende Gesetze hinwegsetzten und mordeten, wer ihrer Meinung nach an Deutschland frevelte. Unterstützt wurden sie in ihrer Handlung durch die Ententepolitik, durch die stets in Deutschland einfallenden Polen, durch das Weltrevolutionsgeschwafel radikaler Bolschewiken, durch das unsinnige Schuldverdikt der Franzosen, Deutschland sei einzig am Kriege schuldhaft. All dies verstärkte die Abwehr an der Tatsache der neuen Republik, die mit all diesen Egoisten und Relativisten und Pflichtlosen, mit Deutschlands Feinden eben, unter einer Decke zu stecken schien. Was sollte auch ein pommerscher Bauer von der Regierung halten, dem dreimal das Haus ausgeraubt wurde von polnischen Banden, und das sich selbst entwaffnende deutsche Heer konnte nichts dagegen tun? Was sollte ein badischer Winzer auch an der Republik finden, wenn ihm marodierende französische Soldaten Ihle und Kellerinhalt raubten und es damit begründeten, daß Deutschland schließlich selbst schuld sei, daß ihm solches geschähe? +
-Eine Wahl zur Nationalversammlung sollte Abhilfe schaffen und einen Rechtsraum schaffen, auch Heer und Polizei konstituieren, die die neuen Grenzen des Reiches wirksam schützen könnten. +
-Aber wollen wir nicht der Entente oder den Russen die Schuld an der Fehlgeburt der Weimarer Republik geben. Zur Konstituierung einer breiten Mehrheit für die neuen Verhältnisse, überhaupt für neue Verhältnisse fehlte es an einigem: +
-1. Die Deutschen waren innerlich zerstritten, wie eh und je. Der Aufbruch 1914 hatte seine Kehrseite. Nach dem Hurrapatriotismus, der so flach nicht war, aber als Bindemittel nur über die Mangeljahre des Krieges hielt, folgte nunmehr das Aufbrechen der alten Klassen-Konfessions-Standesschranken. +
-2. Die Aristokratie des Geistes war Postulat, Tatsächlichkeit nicht. Man dachte historisch und größtenteils relativistisch. Der Blick war nicht nach vorne gerichtet, sondern auf Erhaltung. Die politische Rekursivität auf den alten Kaiserstaat erschien den Herren Professoren erwünschenswerter als der Ausgriff nach neuen Möglichkeiten. Das zweite Reich galt als Krone der deutschen historischen Entwicklung, alles andere wurde beinahe snobistisch abgekanzelt. +
-3. Die Literaten sielten sich im Duktus internationalistischer Bohemvivanz. Man gockelte antibürgerlich, dekadenz-und markterfahren, selbstgefällig-geschäftstüchtig durch die Formen des Sichausdrückens. Der kühne Entwurf fehlte vollends. Ein circulum vitiosis. +
-4. Die Proletarier wurden durch zwei Parteien diszipliniert, die sich beide den Ideen des Miteinander verschlossen. Sie diffamierten Ideale des Humanismus und der Gerechtigkeit zugunsten eines auf Kampf und Macht ausgehenden Proletariats. Die einen hatten kein Konzept für die Zukunft und strahlten keine parteiübergreifende geistige Frische aus, um zerstrittene Trägheit in eine neue Richtung zu bewegen; die Sozialdemokraten besaßen nur Ressentiments gegen die bislang Herschenden, die Unabhängigen äugten beflissen nach Osten, um den großen Umwurf alles Bestehenden doch noch einläuten zu können. +
  
-Die innere Lage Deutschlands 1918/9 war alles andere als kontingent. Die verschiedenen und stets wechselnden Bündnisse zwischen Literaten, Konservativen, Unabhängigen, Spartakisten und Zentrumlern zielten schon auf die Neugestaltung des kraftlosen Vaterlands, doch die Palette der Vorschläge reichte von der Wiedereinführung eines urdemokratischen Modells mit eindeutig mittelalterlich-ständischem Charakter, wobei hier Spartakisten und Zentrumler sich in der Intention der Machtverteilung trafen, nicht aber im Grunde des Gedankens, über die Konstituierung einer an westeuropäischen Dogmen geschulten Vernunftsstaatlichkeit mit parlamentarischer Wahldemokratie bis zur Forderung einer neuen Aristokratie mit intendiertem Führertum, um das schlingernde Staatsschiff fest an eine charismatische Person up to date zu binden. Man schwankte zwischen irrationalem Machtsstaat und rationalem Vernunftstaat und dem Urkommunismus. Über allem schwebte das kommende Verdikt der Entente, deren Forderungen nach Reparationen, deren bereits greifende wirtschaftliche Restriktion.+Das war der Anfang der Revolution. Sie ging weiter und blieb nicht in ruhigen Gewässern. Das [[Volk]] hatte seine Oberschicht verloren und taumelte. Man tanzte, setzte höhere Löhne durch, ohne die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. \\ 
 +1918 überließ die Oberschicht den „Proleten“ den politischen Trümmerhaufen. Wirtschaftlich war das Land ruiniert, die neuen „Herren“ sahen sich über Nacht vor der Aufgabe, mit ungeschulten Kräften Posten zu übernehmen. Viele, die sich im sicheren Schutz der [[Opposition]] bisher hinter radikalen Phrasen verbargen, mußten nun Hand anlegen und eine neue Herrlichkeit schaffen. Ohne Fehlgriffe und Fehltritte ging das nicht ab.\\ 
 +Anfang 1919 sammelten sich die versprengten konservativen Kräfte und bildeten Freiwilligenverbände, die dem Chaos ein Ende machen wollten, zuweilen grausam richteten, sich über geltende Gesetze hinwegsetzten und mordeten, wer ihrer Meinung nach an Deutschland frevelte. Unterstützt wurden sie in ihrer Handlung durch die Ententepolitik, durch die stets in Deutschland einfallenden Polen, durch das Weltrevolutionsgeschwafel radikaler Bolschewiken, durch das unsinnige Schuldverdikt der Franzosen, Deutschland sei einzig am Kriege schuldhaft. All dies verstärkte die Abwehr an der Tatsache der neuen Republik, die mit all diesen Egoisten und Relativisten und Pflichtlosen, mit Deutschlands Feinden eben, unter einer Decke zu stecken schien. Was sollte auch ein pommerscher Bauer von der Regierung halten, dem dreimal das Haus ausgeraubt wurde von polnischen Banden, und das sich selbst entwaffnende deutsche Heer konnte nichts dagegen tun? Was sollte ein badischer Winzer auch an der Republik finden, wenn ihm marodierende französische Soldaten Ihle und Kellerinhalt raubten und es damit begründeten, daß Deutschland schließlich selbst schuld sei, daß ihm solches geschähe?\\ 
 +Eine Wahl zur Nationalversammlung sollte Abhilfe schaffen und einen Rechtsraum schaffen, auch [[Heer]] und Polizei konstituieren, die die neuen Grenzen des Reiches wirksam schützen könnten.\\ 
 +Aber wollen wir nicht der Entente oder den Russen die Schuld an der Fehlgeburt der Weimarer Republik geben. Zur Konstituierung einer breiten Mehrheit für die neuen Verhältnisse, überhaupt für neue Verhältnisse fehlte es an einigem:\\ 
 +  * 1. Die Deutschen waren innerlich zerstritten, wie eh und je. Der Aufbruch 1914 hatte seine Kehrseite. Nach dem Hurrapatriotismus, der so flach nicht war, aber als Bindemittel nur über die Mangeljahre des Krieges hielt, folgte nunmehr das Aufbrechen der alten Klassen-Konfessions-Standesschranken. 
 +  * 2. Die [[Aristokratie]] des Geistes war Postulat, Tatsächlichkeit nicht. Man dachte historisch und größtenteils relativistisch. Der Blick war nicht nach vorne gerichtet, sondern auf Erhaltung. Die politische Rekursivität auf den alten Kaiserstaat erschien den Herren Professoren erwünschenswerter als der Ausgriff nach neuen Möglichkeiten. Das zweite Reich galt als Krone der deutschen historischen Entwicklung, alles andere wurde beinahe snobistisch abgekanzelt. 
 +  * 3. Die Literaten sielten sich im Duktus internationalistischer Bohemvivanz. Man gockelte antibürgerlich, dekadenz-und markterfahren, selbstgefällig-geschäftstüchtig durch die Formen des Sichausdrückens. Der kühne Entwurf fehlte vollends. Ein circulum vitiosis. 
 +  * 4. Die Proletarier wurden durch zwei Parteien diszipliniert, die sich beide den Ideen des Miteinander verschlossen. Sie diffamierten Ideale des Humanismus und der Gerechtigkeit zugunsten eines auf Kampf und Macht ausgehenden Proletariats. Die einen hatten kein Konzept für die Zukunft und strahlten keine parteiübergreifende geistige Frische aus, um zerstrittene Trägheit in eine neue Richtung zu bewegen; die Sozialdemokraten besaßen nur Ressentiments gegen die bislang Herschenden, die Unabhängigen äugten beflissen nach Osten, um den großen Umwurf alles Bestehenden doch noch einläuten zu können. 
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 +Die innere Lage Deutschlands 1918/9 war alles andere als kontingent. Die verschiedenen und stets wechselnden Bündnisse zwischen Literaten, Konservativen, Unabhängigen, Spartakisten und Zentrumlern zielten schon auf die Neugestaltung des kraftlosen Vaterlands, doch die Palette der Vorschläge reichte von der Wiedereinführung eines urdemokratischen Modells mit eindeutig mittelalterlich-ständischem Charakter, wobei hier Spartakisten und Zentrumler sich in der Intention der Machtverteilung trafen, nicht aber im Grunde des Gedankens, über die Konstituierung einer an westeuropäischen Dogmen geschulten Vernunftsstaatlichkeit mit parlamentarischer Wahldemokratie bis zur Forderung einer neuen Aristokratie mit intendiertem Führertum, um das schlingernde Staatsschiff fest an eine charismatische Person up to date zu binden. Man schwankte zwischen irrationalem Machtsstaat und rationalem Vernunftstaat und dem Urkommunismus. Über allem schwebte das kommende Verdikt der Entente, deren Forderungen nach [[Reparationen]], deren bereits greifende wirtschaftliche Restriktion.\\
 Man traf sich in der Mitte, beinahe: Es wurde kein rationaler Vernunftstaat, kein Führerstaat und kein Urkommunismus. Man traf sich in der Mitte, beinahe: Es wurde kein rationaler Vernunftstaat, kein Führerstaat und kein Urkommunismus.
  
 23.08.99 23.08.99
  
-In Amerika und England plante man die Aufteilung Deutschlands, die Einbindung des Westens und Südens in den eigenen Machtbereich, die Preisgabe des Nordens und Ostens, um dort ein Schlachtfeld gegen den Bolschewismus zu konzipieren. Die Franzosen bestanden auf eine Zerschlagung des deutschen Einheitsstaates. Keine guten Aussichten für Gerechtigkeit, für Recht überhaupt. Die Welt war nun schon der großen Suggestion erlegen, daß die Deutschen Schuld trügen, schließlich waren es die Deutschen gewesen, die angefangen.. Es hatten die Großsprecher in Frankreich und England Handhabe erhalten, die Poincares und Churchills, die Deutschlandhasser. Die Amerikaner hatten ihren moderaten Präsidenten abgewählt, der neue stand Europa fern wie einer, der den Mund mit dem Fernrohr erkundet. Deutschland war den westlichen Wünschen ausgeliefert. Die Folge war Versailles, was im Grunde schon einen Kompromiß darstellt. Das ist ja das Schlimme, daß Versailles einen Kompromiß darstellte!+In Amerika und England plante man die Aufteilung Deutschlands, die Einbindung des Westens und Südens in den eigenen Machtbereich, die Preisgabe des Nordens und Ostens, um dort ein Schlachtfeld gegen den Bolschewismus zu konzipieren. Die Franzosen bestanden auf eine Zerschlagung des deutschen Einheitsstaates. Keine guten Aussichten für Gerechtigkeit, für Recht überhaupt. Die Welt war nun schon der großen Suggestion erlegen, daß die Deutschen Schuld trügen, schließlich waren es die Deutschen gewesen, die angefangen.. Es hatten die Großsprecher in Frankreich und England Handhabe erhalten, die [[Poincare]]s und [[Churchill]]s, die Deutschlandhasser. Die Amerikaner hatten ihren moderaten Präsidenten abgewählt, der neue stand [[Europa]] fern wie einer, der den Mund mit dem Fernrohr erkundet. Deutschland war den westlichen Wünschen ausgeliefert. Die Folge war Versailles, was im Grunde schon einen Kompromiß darstellt. Das ist ja das Schlimme, daß [[Versailles]] einen Kompromiß darstellte!
  
 26.08.99 26.08.99
  
-Und nach Versailles wurde das Schreien um die Schuldzuweisung des ganzen Elends erst recht laut. Die Bedingungen des Friedens standen zur Entscheidung: man sollte wählen zwischen der gemäßigten Fremdherrschaft, die darauf aus war, das Land zu zerteilen und auszubeuten, sollte außerdem Gebietsverluste von ca. 14% in Kauf nehmen und dem erneuten Krieg. Annehmen oder Krieg? +Und nach Versailles wurde das Schreien um die Schuldzuweisung des ganzen Elends erst recht laut. Die Bedingungen des Friedens standen zur Entscheidung: man sollte wählen zwischen der gemäßigten Fremdherrschaft, die darauf aus war, das Land zu zerteilen und auszubeuten, sollte außerdem Gebietsverluste von ca. 14% in Kauf nehmen und dem erneuten Krieg. Annehmen oder Krieg?\\ 
-Beide Seiten hatte ihre Argumente. War es nicht wahrscheinlich, daß die Entente auseinanderbrach, insofern Deutschland nicht annahm? Hatte sich nicht bereits in England starker Widerstand gegen die französischen Pläne zur Aufteilung und Besetzung Deutschlands gebildet? Hatten nicht selbst französische Vertreter gemeint, daß die Bedingungen eigentlich für ein stolzes Volk unannehmbar seien? Drohte nicht die Bolschewisierung Mitteleuropas, wenn die Deutschen machtlos seien? Das waren die Argumente, die sich gegen die Annahme des Diktats aussprachen. Auf der anderen Seite standen diejenigen, die meinten, man solle sich im Restbestand des Reiches einrichten und das Land mit der neuen Struktur aufbauen. Der Kapitalismus sei zwar moralisch am Ende, doch biete der Sowjetkommunismus auch keine Alternative; man müsse lavieren, sich gegen den angelsächsischen Machtkomplex im Westen behaupten, die Polen und Sowjets auf Distanz halten und die Ansprüche der Alliierten so gut wie möglich befriedigen, was nur möglich sei, wenn man erst einmal die Bedingungen annehme. Man war sich in Deutschland darüber einig, daß die Belgier und Franzosen ein Recht darauf besäßen, ihre Schäden mit deutscher Hilfe zu beseitigen.  +Beide Seiten hatte ihre Argumente. War es nicht wahrscheinlich, daß die Entente auseinanderbrach, insofern Deutschland nicht annahm? Hatte sich nicht bereits in England starker Widerstand gegen die französischen Pläne zur Aufteilung und Besetzung Deutschlands gebildet? Hatten nicht selbst französische Vertreter gemeint, daß die Bedingungen eigentlich für ein stolzes Volk unannehmbar seien? Drohte nicht die Bolschewisierung Mitteleuropas, wenn die Deutschen machtlos seien? Das waren die Argumente, die sich gegen die Annahme des Diktats aussprachen. Auf der anderen Seite standen diejenigen, die meinten, man solle sich im Restbestand des Reiches einrichten und das Land mit der neuen Struktur aufbauen. Der Kapitalismus sei zwar moralisch am Ende, doch biete der Sowjetkommunismus auch keine Alternative; man müsse lavieren, sich gegen den angelsächsischen Machtkomplex im Westen behaupten, die Polen und Sowjets auf Distanz halten und die Ansprüche der Alliierten so gut wie möglich befriedigen, was nur möglich sei, wenn man erst einmal die Bedingungen annehme. Man war sich in Deutschland darüber einig, daß die Belgier und Franzosen ein Recht darauf besäßen, ihre Schäden mit deutscher Hilfe zu beseitigen. \\ 
-Doch es steht hier noch einmal die Frage, worauf sich die Forderungen der Entente gründeten? Es ist jener ominöse Kriegsschuldartikel, der quasi eine moralische Rechtfertigung der Niederwerfung und Bestrafung Deutschlands urgründete. Mit dem Fall dieser Gründung ins Bodenlose wäre demnach die gesamte Problematik auflösbar. +Doch es steht hier noch einmal die Frage, worauf sich die Forderungen der Entente gründeten? Es ist jener ominöse Kriegsschuldartikel, der quasi eine moralische Rechtfertigung der Niederwerfung und Bestrafung Deutschlands urgründete. Mit dem Fall dieser Gründung ins Bodenlose wäre demnach die gesamte Problematik auflösbar.\\ 
-Wir haben bereits zum Ende des ersten Buches Gründe für den Ausbruch des Krieges gelegt. Nunmehr wollen wir noch ein wenig tiefer graben, gemeinhin die festen Säulen in ihrem Fundament prüfen, ob sie ein Gebäude tragen können wie das Aufgerichtete des Kriegsschuldartikels: +Wir haben bereits zum Ende des ersten Buches Gründe für den Ausbruch des Krieges gelegt. Nunmehr wollen wir noch ein wenig tiefer graben, gemeinhin die festen Säulen in ihrem Fundament prüfen, ob sie ein Gebäude tragen können wie das Aufgerichtete des Kriegsschuldartikels:\\ 
-Die Frage ist eine psychologische, eine der Taktik, des politischen Geschicks, nicht zuletzt jedoch eine des Selbstverständnisses und des geistigen Grundes der jeweiligen Völkerschaften, mithin also eine Frage der Völkerpsychologie. Als die Deutschen durch Belgien marschierten, gewann die englische Suggestion eines prinzipiell Unrecht auslebenden Staates mit der Sinnzuweisung Deutschland weltweit an Wirkung. Durch Deutschlands Akt der Brechung internationalen Rechts war es für die englische Kriegspartei –viele Engländer waren durchaus schwankend in der Frage, ob man denn auf Frankreichs Seite stehen sollte oder sich gar heraushalten müsse-ein leichtes, sich durchzusetzen und den Krieg gegen Deutschland für legitim, ja für zwingend anzusehen.  +Die Frage ist eine psychologische, eine der Taktik, des politischen Geschicks, nicht zuletzt jedoch eine des Selbstverständnisses und des geistigen Grundes der jeweiligen Völkerschaften, mithin also eine Frage der Völkerpsychologie. Als die Deutschen durch Belgien marschierten, gewann die englische Suggestion eines prinzipiell Unrecht auslebenden Staates mit der Sinnzuweisung Deutschland weltweit an Wirkung. Durch Deutschlands Akt der Brechung internationalen Rechts war es für die englische Kriegspartei –viele Engländer waren durchaus schwankend in der Frage, ob man denn auf Frankreichs Seite stehen sollte oder sich gar heraushalten müsse-ein leichtes, sich durchzusetzen und den Krieg gegen Deutschland für legitim, ja für zwingend anzusehen. \\ 
-Dieser Schritt folgte dem englischen Selbstverständnis, genau wie der Durchmarsch für die Deutschen aus ihrem Selbstverständnis heraus folgerichtig und legitim war. Dennoch ist es damit nicht getan, daß nunmehr beide Parteien so dastehen, als folgten sie nur zwangsläufig dem einmal eingeschlagenen Weg, seien also ebenso schuldig wie schuldlos. Es gibt einen Schuldigen, wie zu zeigen sein wird. Beschäftigen wir uns zunächst mit Englands Selbstverständnis, dem Archetypischen und durch Vernunft gereinigten Urgrund politischen Handelns. Es ist nicht rein, Kräfte und Gegenkräfte bedingen und binden einander, doch läßt sich eine Linie ziehen, eine schwankende Linie, die dennoch das Typische und Gelegentliche, das Zufällige oder Abweichende in den Kanon stellt und somit verbindet.+Dieser Schritt folgte dem englischen Selbstverständnis, genau wie der Durchmarsch für die Deutschen aus ihrem Selbstverständnis heraus folgerichtig und legitim war. Dennoch ist es damit nicht getan, daß nunmehr beide Parteien so dastehen, als folgten sie nur zwangsläufig dem einmal eingeschlagenen Weg, seien also ebenso schuldig wie schuldlos. Es gibt einen Schuldigen, wie zu zeigen sein wird. Beschäftigen wir uns zunächst mit Englands Selbstverständnis, dem Archetypischen und durch Vernunft gereinigten Urgrund politischen Handelns. Es ist nicht rein, Kräfte und Gegenkräfte bedingen und binden einander, doch läßt sich eine Linie ziehen, eine schwankende Linie, die dennoch das Typische und Gelegentliche, das Zufällige oder Abweichende in den Kanon stellt und somit verbindet.\\
 Politisches Handeln rührt aus der Geistesart der Handelnden. Englische Geistesart nun tut nichts ohne moralische Begründung. Die moralische Begründung wiederum wurzelt dort im Kalvinismus. Der Kalvinismus hat als Wesenszug die Belohnung des gerecht arbeitenden Menschen im Angesicht des Herrn. Wer im Angesicht des Herrn nicht rechtens schafft, der wird früher oder später bestraft werden. Wer sich erhöht oder gegen die Ordnung stellt, der wird bestraft werden. Der Engländer muß sich seinem Handeln gemäß in diesen Kanon stellen, sein Handeln diesbezüglich prüfen. Hat er sich einmal entschlossen, eine Entscheidung gefällt, so wird er dabei bleiben. Politisches Handeln rührt aus der Geistesart der Handelnden. Englische Geistesart nun tut nichts ohne moralische Begründung. Die moralische Begründung wiederum wurzelt dort im Kalvinismus. Der Kalvinismus hat als Wesenszug die Belohnung des gerecht arbeitenden Menschen im Angesicht des Herrn. Wer im Angesicht des Herrn nicht rechtens schafft, der wird früher oder später bestraft werden. Wer sich erhöht oder gegen die Ordnung stellt, der wird bestraft werden. Der Engländer muß sich seinem Handeln gemäß in diesen Kanon stellen, sein Handeln diesbezüglich prüfen. Hat er sich einmal entschlossen, eine Entscheidung gefällt, so wird er dabei bleiben.
  
 28.08.99 28.08.99
  
-Aber diese Charakteristik ist nicht die ausschlaggebende für die Geistesart des Engländer. Der Engländer wählte sich den Kalvinismus als zu ihm passende religiöse Ausprägung. Der Kalvinist traegt sein Handeln in den Vordergrund als moralisch legitimiert. Darin auch die Politik, die so zum Handlanger wird. Politik wird zur Frage der Macht, der Auseinandersetzung mit jedem andersgearteten Gegner, der wiederum moralisch nicht die HÖHE des Kalvinisten tragen kann, denn Gott belohnt nur die rechtmäßig Handelnden, bestraft aber die unmoralisch Handelnden. Das ist der entscheidende Punkt. Der Engländer fühlt sich in seinem politischen Handeln moralisch legitimiert und reklamiert daraus eine Weltherrschaft, insofern sein Handeln durch den Erfolg bestätigt wird.+Aber diese Charakteristik ist nicht die ausschlaggebende für die Geistesart des Engländer. Der Engländer wählte sich den Kalvinismus als zu ihm passende religiöse Ausprägung. Der Kalvinist traegt sein Handeln in den Vordergrund als moralisch legitimiert. Darin auch die Politik, die so zum Handlanger wird. Politik wird zur Frage der Macht, der Auseinandersetzung mit jedem andersgearteten Gegner, der wiederum moralisch nicht die HÖHE des Kalvinisten tragen kann, denn Gott belohnt nur die rechtmäßig Handelnden, bestraft aber die unmoralisch Handelnden. Das ist der entscheidende Punkt. Der Engländer fühlt sich in seinem politischen Handeln moralisch legitimiert und reklamiert daraus eine Weltherrschaft, insofern sein Handeln durch den Erfolg bestätigt wird.\\
 Nun die Deutschen. Emporgekommen. Nichtkalvinistisch. Also Übergangsgewinnler, nur kurzfristig siegreich, denn Gott wird die Gerechten belohnen, früher oder später. Die Deutschen aber verwerfen die Politik als diabolisch, begegnen politischen Argumenten mit Skepsis, da ihnen die Politik nur ein Deckmantel für die Erreichung von Macht ist. Sie verwerfen Politik! Die Deutschen begegneten den Engländern mit Realismus, beschrieben ihre Absichten in der Diskussion [die Deutschen entwickelten erst 1916 eine Kriegszieldiskussion, die bis dahin verboten war!], arbeiteten somit den Feinden quasi in die Hände, die nunmehr jeden Diskussionsbeitrag für bare Münze nahmen und Schuldzuweisungen rückwirkend auf geäußerte Annexionsgelüste der Schwerindustrie und alldeutscher Spinner bezogen. 2%, so sagt man, waren dieser Partei in Deutschland zuzurechnen. 2%! Immerhin 1,4 Millionen Anhänger! Nun die Deutschen. Emporgekommen. Nichtkalvinistisch. Also Übergangsgewinnler, nur kurzfristig siegreich, denn Gott wird die Gerechten belohnen, früher oder später. Die Deutschen aber verwerfen die Politik als diabolisch, begegnen politischen Argumenten mit Skepsis, da ihnen die Politik nur ein Deckmantel für die Erreichung von Macht ist. Sie verwerfen Politik! Die Deutschen begegneten den Engländern mit Realismus, beschrieben ihre Absichten in der Diskussion [die Deutschen entwickelten erst 1916 eine Kriegszieldiskussion, die bis dahin verboten war!], arbeiteten somit den Feinden quasi in die Hände, die nunmehr jeden Diskussionsbeitrag für bare Münze nahmen und Schuldzuweisungen rückwirkend auf geäußerte Annexionsgelüste der Schwerindustrie und alldeutscher Spinner bezogen. 2%, so sagt man, waren dieser Partei in Deutschland zuzurechnen. 2%! Immerhin 1,4 Millionen Anhänger!
-Soweit zum Ansatz der Schuldverstrickung. +Soweit zum Ansatz der Schuldverstrickung.\\ 
-Wir können es zugespitzt sagen: Es gab für die Deutschen keine Chance, dem Krieg aus dem Wege zu gehen! Es gab keine Chance gegenüber Frankreich, dessen Stern im Sinken begriffen war und es gab keine Möglichkeit England gegenüber, dessen Zenit ebenfalls überschritten war. Deutschland wurde jeden Tag ein wenig reicher, ganz ohne Krieg und es würde weiter reicher werden, die Weiten des Ostens und die Lage zwischen dem aufstrebenden Rußland und dem reichen Frankreich begünstigten wirtschaftliches Wachstum, zudem sich Rest-Europa früher oder später dem Riesen in der Mitte würde anschließen wollen.+Wir können es zugespitzt sagen: Es gab für die Deutschen keine Chance, dem Krieg aus dem Wege zu gehen! Es gab keine Chance gegenüber Frankreich, dessen Stern im Sinken begriffen war und es gab keine Möglichkeit England gegenüber, dessen Zenit ebenfalls überschritten war. Deutschland wurde jeden Tag ein wenig reicher, ganz ohne Krieg und es würde weiter reicher werden, die Weiten des Ostens und die Lage zwischen dem aufstrebenden Rußland und dem reichen Frankreich begünstigten wirtschaftliches Wachstum, zudem sich Rest-Europa früher oder später dem Riesen in der Mitte würde anschließen wollen.\\
 Die Deutschen indes boten ein gutes Ziel: ihre Überheblichkeit und ihr Kompensiergehabe. Gar manchem in höheren Regierungskreisen, dem Kaiser selbst, munkelte man, ging es nicht schnell genug mit der Aufholjagd am globalen Kuchen. Die Deutschen indes boten ein gutes Ziel: ihre Überheblichkeit und ihr Kompensiergehabe. Gar manchem in höheren Regierungskreisen, dem Kaiser selbst, munkelte man, ging es nicht schnell genug mit der Aufholjagd am globalen Kuchen.
 Genug! Der Rest ist Phantasie! Genug! Der Rest ist Phantasie!
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 Plötzlich war Tauwetter eingetreten. Der Schnee war geschmolzen, erste Krokusse lugten zaghaft durch den Matsch. Die Luft sänftelte. Die Menschen entstarrten und hofften wieder. Plötzlich war Tauwetter eingetreten. Der Schnee war geschmolzen, erste Krokusse lugten zaghaft durch den Matsch. Die Luft sänftelte. Die Menschen entstarrten und hofften wieder.
  
-Lobos hatte es nicht weit bis zu seinem Klassenzimmer. Er mußte nur die Lindenstraße überqueren, dann am Kreuzungspunkt mit der Friedrichstraße auf den Verkehr achten und schon war er da. Er stieg die schlecht beleuchtete Treppe hinauf und betrat den langen Flur, von dem die einzelnen Klassenräume abgingen. Er war ein wenig spät dran, heute Morgen. Die Schüler saßen an ihren Baenken und starrten ihn fassungslos an. Diese hageren und hochgestirnten Gesichter, diese großteils vom Hunger häßlich gewordenen Totenmasken, an denen die restlichen Gliedmaßen herabhingen, kraftlos, ermüdet, saftlos.+Lobos hatte es nicht weit bis zu seinem Klassenzimmer. Er mußte nur die Lindenstraße überqueren, dann am Kreuzungspunkt mit der Friedrichstraße auf den Verkehr achten und schon war er da. Er stieg die schlecht beleuchtete Treppe hinauf und betrat den langen Flur, von dem die einzelnen Klassenräume abgingen. Er war ein wenig spät dran, heute Morgen. Die Schüler saßen an ihren Baenken und starrten ihn fassungslos an. Diese hageren und hochgestirnten Gesichter, diese großteils vom Hunger häßlich gewordenen Totenmasken, an denen die restlichen Gliedmaßen herabhingen, kraftlos, ermüdet, saftlos.\\
 Es roch nach einer Mischung aus alten Möbeln, dem Phenyl der Saubermachkolonnen und ganz zart versuchte sich da ein neuer Geruch anzumelden. Der Tod stand noch in der Tür, aber er war im Gehen. Seine Schüler blickten zu ihm, durch die kärgliche Beleuchtung hindurch. Die Münder sprachen einen Gruß, den er mechanisch beantwortete. Es roch nach einer Mischung aus alten Möbeln, dem Phenyl der Saubermachkolonnen und ganz zart versuchte sich da ein neuer Geruch anzumelden. Der Tod stand noch in der Tür, aber er war im Gehen. Seine Schüler blickten zu ihm, durch die kärgliche Beleuchtung hindurch. Die Münder sprachen einen Gruß, den er mechanisch beantwortete.
  
 Oder hatte er das nur geträumt? Oder hatte er das nur geträumt?
  
-Er taumelte nach Hause. Claudia empfing ihn mit der Nachricht, daß ihr Vater gestorben sei. Ein Freund machte seine Kondolenz. Lobos fragte sich, ob er ein besserer Liebhaber sein mochte, ob Claudia in seinen Armen vollere Lippen, weicheres Haar bekäme, ob sie wieder dieses Leuchten in ihren Augen verschenkte, wenn sie nur eine Nacht mit dem fremden Mann nachholte, wozu er sie nicht nötigen mochte. +Er taumelte nach Hause. Claudia empfing ihn mit der Nachricht, daß ihr Vater gestorben sei. Ein Freund machte seine Kondolenz. Lobos fragte sich, ob er ein besserer Liebhaber sein mochte, ob Claudia in seinen Armen vollere Lippen, weicheres Haar bekäme, ob sie wieder dieses Leuchten in ihren Augen verschenkte, wenn sie nur eine Nacht mit dem fremden Mann nachholte, wozu er sie nicht nötigen mochte.\\ 
-Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, erzählte Herma  von dem Toten. Sie hatte ihn zwar nur einmal gesehen, damals auf Samin, kurz vor dem Krieg. Aber die beiden hatten Freundschaft geschlossen, sei es, weil er dort im Nordosten eine Glaubensgenossin nicht vermutet hatte, sei es, weil er in ihrem Alter war, sei es, weil sie sich selbst nun dem Tode ein Stück näher glaubte, also erzählen mußte, was sie im Anzuge zu sagen hätte. Der Tote war mit sechzig Jahren gestorben, wurde merkwürdiger durch seinen Tod, wurde den Leiden enthoben und den Enttäuschungen entsetzt. Herma wußte vieles, vieles mehr als zu vermuten stand. Sie wußte von einem Ring zu erzählen, den der Tote als Lebender stets bei sich trug. Der Ring war ein Bündnis gegen seine und jetzt ihre Angst, war ein gutes Bild für die Magerkeit des Augenblicks, umschloß er doch einst die Fülle.  Und wie sie da so sprach, da fing sie fürchterlich zu weinen an, so daß Lobos sie aus dem Zimmer geleiten mußte. Und Herma schwatzte im herausgehen noch so manch Belangloses. Und dann war im Raum nur noch Schweigen. Claudia schniefte und tupfte mit ihrem weißen Seidentuch eine Träne aus dem Auge, Lobos suchte nach Worten, aber das Reden war ihm unmöglich geworden. +Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, erzählte Herma  von dem Toten. Sie hatte ihn zwar nur einmal gesehen, damals auf Samin, kurz vor dem Krieg. Aber die beiden hatten Freundschaft geschlossen, sei es, weil er dort im Nordosten eine Glaubensgenossin nicht vermutet hatte, sei es, weil er in ihrem Alter war, sei es, weil sie sich selbst nun dem Tode ein Stück näher glaubte, also erzählen mußte, was sie im Anzuge zu sagen hätte. Der Tote war mit sechzig Jahren gestorben, wurde merkwürdiger durch seinen Tod, wurde den Leiden enthoben und den Enttäuschungen entsetzt. Herma wußte vieles, vieles mehr als zu vermuten stand. Sie wußte von einem Ring zu erzählen, den der Tote als Lebender stets bei sich trug. Der Ring war ein Bündnis gegen seine und jetzt ihre Angst, war ein gutes Bild für die Magerkeit des Augenblicks, umschloß er doch einst die Fülle.  Und wie sie da so sprach, da fing sie fürchterlich zu weinen an, so daß Lobos sie aus dem Zimmer geleiten mußte. Und Herma schwatzte im herausgehen noch so manch Belangloses. Und dann war im Raum nur noch Schweigen. Claudia schniefte und tupfte mit ihrem weißen Seidentuch eine Träne aus dem Auge, Lobos suchte nach Worten, aber das Reden war ihm unmöglich geworden.\\ 
-Der Freund machte einen Seitenblick zu Lobos und sprach: „Werden Sie nach Ottilienberg reisen, liebe Frau Claudia?“ Und weil Claudia nichts sagte, fühlte der alte Freund sich bestätigt und fuhr fort: „Ihr Mann wird wohl bald eine Professur erhalten und hier unabkömmlich sein.“ +Der Freund machte einen Seitenblick zu Lobos und sprach: „Werden Sie nach Ottilienberg reisen, liebe Frau Claudia?“ Und weil Claudia nichts sagte, fühlte der alte Freund sich bestätigt und fuhr fort: „Ihr Mann wird wohl bald eine Professur erhalten und hier unabkömmlich sein.“\\ 
-Lobos stutzte kurz ob dieser Unverfrorenheit. Doch der Freund schien alles zu wissen. Lobos ging zum Fenster und ließ die lauen Lüfte herein. Dann schritt er den Bogen zu Claudia und sah in ihre Augen. Sie fragten. Und plötzlich spürte Lobos die Verwandlung ihres Körpers. Zuerst zitterte er, dann strahlte er eine wohlbekannte Wärme aus, die er hören konnte. Diese Verwirrung der Gefühle hatte er schon einmal in ihrer Nähe gespürt; seine Augen blickten nur kurz zum Dritten, dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände und begann es zu küssen. Sie sank an ihm nieder und begann ihn festzuhalten, schlang ihre Arme um seine Beine, als ob da keine Hosen wären, küßte sie ihn aufwärts. Eine Tür klappte. +Lobos stutzte kurz ob dieser Unverfrorenheit. Doch der Freund schien alles zu wissen. Lobos ging zum Fenster und ließ die lauen Lüfte herein. Dann schritt er den Bogen zu Claudia und sah in ihre Augen. Sie fragten. Und plötzlich spürte Lobos die Verwandlung ihres Körpers. Zuerst zitterte er, dann strahlte er eine wohlbekannte Wärme aus, die er hören konnte. Diese Verwirrung der Gefühle hatte er schon einmal in ihrer Nähe gespürt; seine Augen blickten nur kurz zum Dritten, dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände und begann es zu küssen. Sie sank an ihm nieder und begann ihn festzuhalten, schlang ihre Arme um seine Beine, als ob da keine Hosen wären, küßte sie ihn aufwärts. Eine Tür klappte. \\
 „Ich will immer in deiner Nähe leben“, sagte sie kaum hörbar. Aber Lobos hatte jetzt nichts mehr zu hören.  „Ich will immer in deiner Nähe leben“, sagte sie kaum hörbar. Aber Lobos hatte jetzt nichts mehr zu hören. 
 Sein Verstand begann, die altgewohnte Tätigkeit wieder aufzunehmen: ‚Sie ist hysterisch!’ dachte er und wurde wieder der alte Steifhans, dem ein Gefühl nichts gilt. Er drückte die Gattin beinahe barsch von sich, besann sich dann aber einer Pflicht und küßte ihr noch im Wegdrehen die Stirn. Sein Groll über den Brunnenkuß am Ottilienberg hatte wieder die Oberhand in seinem Gefühlsleben gewonnen. Sein Verstand begann, die altgewohnte Tätigkeit wieder aufzunehmen: ‚Sie ist hysterisch!’ dachte er und wurde wieder der alte Steifhans, dem ein Gefühl nichts gilt. Er drückte die Gattin beinahe barsch von sich, besann sich dann aber einer Pflicht und küßte ihr noch im Wegdrehen die Stirn. Sein Groll über den Brunnenkuß am Ottilienberg hatte wieder die Oberhand in seinem Gefühlsleben gewonnen.
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-„In der Schule findest du deinen Platz, eine Institution, die das Leben absichtlich kompliziert und Kindern das Leben erschwert. Macht dich das nicht mißtrauisch, Lobos? Kannst du dich mit lauter Wahrheiten frei bewegen?“ +„In der Schule findest du deinen Platz, eine Institution, die das Leben absichtlich kompliziert und Kindern das Leben erschwert. Macht dich das nicht mißtrauisch, Lobos? Kannst du dich mit lauter Wahrheiten frei bewegen?“\\ 
-„Ja, es ist die Frage, was überhaupt Schule ist. Ist sie nicht nur so etwas wie eine tägliche Unterweisung, eine Vorbereitung aufs Leben?“ +„Ja, es ist die Frage, was überhaupt Schule ist. Ist sie nicht nur so etwas wie eine tägliche Unterweisung, eine Vorbereitung aufs Leben?“\\ 
-„Das will sie sein. Vielmehr ist sie jedoch eine Institution, etwas Erfundenes, die das Leben in komplizierten Zusammenhängen darstellt, ohne doch ein Ende oder eine konkrete Handlungsanweisung geben zu können. Schule ist Bücherschule, ist antiquiert und voll von notwendig daraus folgender Unzufriedenheit, weil da immer die Lücke klaffen muß zwischen dem im Buche dargestellten Ideal und der rauhen Wirklichkeit, die niemals dem entsprechen kann, was da dargestellt worden ist. Schule ist Zivilisation und nicht Kultur, ist Theorie und trockener theoretischer Schein, statt geboren aus einer inneren Zwang, einem kindgerechten Dasein im sozialen Lernen...“ +„Das will sie sein. Vielmehr ist sie jedoch eine Institution, etwas Erfundenes, die das Leben in komplizierten Zusammenhängen darstellt, ohne doch ein Ende oder eine konkrete Handlungsanweisung geben zu können. Schule ist Bücherschule, ist antiquiert und voll von notwendig daraus folgender Unzufriedenheit, weil da immer die Lücke klaffen muß zwischen dem im Buche dargestellten Ideal und der rauhen Wirklichkeit, die niemals dem entsprechen kann, was da dargestellt worden ist. Schule ist Zivilisation und nicht Kultur, ist Theorie und trockener theoretischer Schein, statt geboren aus einer inneren Zwang, einem kindgerechten [[Dasein]] im sozialen Lernen...“\\ 
-„Entschuldige, daß ich dich unterbreche, mein Freund. Dein Pasquill erinnert mich an die Wut eines Posaunisten, der jahrelang brav seine Noten lernte. Eines Tages versuchte er, das Instrument zu spielen, doch aus dem Hohlkörper kamen nur dumpfe quäkige Geräusche. Da füllte er den Klangkörper mit Seifenschaum und blies Luftbläschen. Die Noten lagen irgendwo im Zimmer verstreut. An diesen Spieler, diesen gewollten Spieler, denn eigentlich war er es ja nicht, erinnerst du mich.“+„Entschuldige, daß ich dich unterbreche, mein Freund. Dein Pasquill erinnert mich an die Wut eines Posaunisten, der jahrelang brav seine Noten lernte. Eines Tages versuchte er, das Instrument zu spielen, doch aus dem Hohlkörper kamen nur dumpfe quäkige Geräusche. Da füllte er den Klangkörper mit Seifenschaum und blies Luftbläschen. Die Noten lagen irgendwo im Zimmer verstreut. An diesen Spieler, diesen gewollten Spieler, denn eigentlich war er es ja nicht, erinnerst du mich.“\\
 „Ich hoffe, die Geschichte treibt dich nicht in den Selbstmord. Sie hat was davon, so zu enden.“ „Ich hoffe, die Geschichte treibt dich nicht in den Selbstmord. Sie hat was davon, so zu enden.“
lobos.1237044311.txt.gz · Zuletzt geändert: 2019/07/28 13:59 (Externe Bearbeitung)