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minnesang [2018/11/11 08:19] Robert-Christian Knorrminnesang [2024/04/21 15:33] (aktuell) – [Minne - ein Essay] Robert-Christian Knorr
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 die andern überstrahlend. die andern überstrahlend.
  
-Ehre, Reichtum, Gnade Gottes? Ist das für Walther der Sinn des Lebens? Und plötzlich entfernt er sich wieder in der Zeit, sind sein Sinnen und Trachten fremd, sogar abweisend, erzeugt sein Denken im besten Fall Achselzucken. Aber es kommt ein paar Strophen später noch schlimmer. Walther zieht hier einen Vergleich zwischen Insekten- und Menschenstaat und kommt zu einem seltsamen Ergebnis:+Ehre, Reichtum, Gnade Gottes? Ist das für Walther der Sinn des Lebens? Und plötzlich entfernt er sich wieder in der Zeit, sind sein Trachten fremd, sogar abweisend, erzeugt sein Denken im besten Fall Achselzucken. Aber es kommt ein paar Strophen später noch schlimmer. Walther zieht hier einen Vergleich zwischen Insekten- und Menschenstaat und kommt zu einem seltsamen Ergebnis:
  
 Ich sage dir dies: Ich sage dir dies:
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 Der Eine Gott und das Ziel, einst in den himmlischen Teil des Gottesstaates einzuziehen, sind also die Fluchtpunkte im Unendlichen, auf die das ganze MA zentriert ist. (8) Auch die Kunst, die immer ja eine Funktion ihrer Zeit ist, ist von dieser Weltsicht dominiert. Ein hoher Prozentsatz der Kunst und damit der Literatur (manche Forscher sprechen von annähernd 90%) hat rein geistlichen Inhalt und er ist allein auf das von Walther von der Vogelweide bereits angesprochene Problem ausgerichtet, wie man leben solle, um das ewige Leben im Angesichte Gottes zu erringen. Ein beispielhafter anonymer mystischer Text aus dem 13. Jahrhundert rät deshalb zur Weltflucht: Der Eine Gott und das Ziel, einst in den himmlischen Teil des Gottesstaates einzuziehen, sind also die Fluchtpunkte im Unendlichen, auf die das ganze MA zentriert ist. (8) Auch die Kunst, die immer ja eine Funktion ihrer Zeit ist, ist von dieser Weltsicht dominiert. Ein hoher Prozentsatz der Kunst und damit der Literatur (manche Forscher sprechen von annähernd 90%) hat rein geistlichen Inhalt und er ist allein auf das von Walther von der Vogelweide bereits angesprochene Problem ausgerichtet, wie man leben solle, um das ewige Leben im Angesichte Gottes zu erringen. Ein beispielhafter anonymer mystischer Text aus dem 13. Jahrhundert rät deshalb zur Weltflucht:
  
-Werde wie ein Kind,+Werde wie ein [[Kind]],
 werde taub, werde blind! werde taub, werde blind!
 Dein Selbst und dein Ich Dein Selbst und dein Ich
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 Und so weiter und so weiter, viele hundert Verse lang. Ulrich hatte Sinn für Dramatik; es ist von ihm überliefert, daß er sich einen Finger (Penis?) abschnitt, um ihn als Liebesgabe an seine Angebetete zu schicken.  Und so weiter und so weiter, viele hundert Verse lang. Ulrich hatte Sinn für Dramatik; es ist von ihm überliefert, daß er sich einen Finger (Penis?) abschnitt, um ihn als Liebesgabe an seine Angebetete zu schicken. 
-Obwohl wir heute mit dieser Art von Lyrik nicht mehr viel anzufangen wissen, uns ein solcher Gefühlsüberschwang peinlich berührt und in die Minnelieder häufig ungeschickt klingende Floskeln einfließen, die der Autor in der klassischen römischen, französischen oder eben arabischen Dichtung gefunden hat, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, daß wir es hier mit einem Anfang zu tun haben, hier dichten plötzlich Männer und Frauen in ihrer Volkssprache und es ist das erste Mal, daß von der Liebe in solchen Worten gesprochen wird. Die Minnedichter können nichts dafür, daß ihre Lieder, ihre Bilder und Formulierungen, die sie, das darf man nie vergessen, als erste fanden, so oft kopiert und schließlich Allgemeingut wurden, bis auch der Geschmack des Originals schal wurde.(10)  +Obwohl wir heute mit dieser Art von Lyrik nicht mehr viel anzufangen wissen, uns ein solcher Gefühlsüberschwang peinlich berührt und in die Minnelieder häufig ungeschickt klingende Floskeln einfließen, die der Autor in der klassischen römischen, französischen oder eben arabischen Dichtung gefunden hat, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, daß wir es hier mit einem Anfang zu tun haben, hier dichten plötzlich Männer und Frauen in ihrer Volkssprache und es ist das erste Mal, daß von der Liebe in solchen Worten gesprochen wird. Die Minnedichter können nichts dafür, daß ihre Lieder, ihre Bilder und Formulierungen, die sie, das darf man nie vergessen, als erste fanden, so oft kopiert und schließlich Allgemeingut wurden, bis auch der Geschmack des Originals schal wurde.(10) \\ 
-Deshalb wäre die deutsche Minnedichtung heute längst vergessen, zumindest für ein größeres Publikum uninteressant, wenn sie nicht selbst ein Mittel gefunden hätte, ihr Idealbild von der geistigen Liebe zu brechen. Ich spreche von der niederen Minne, die wohl besser als ebene Minne, als die Minne, die mit beiden Füßen auf dem Boden steht, bezeichnet werden sollte, und von dem Stilmittel der Ironie, das die Minnesänger erstmalig für das christliche Abendland entdeckten. Sie machen diese Dichtung abgesehen von der Schönheit ihres Ausdrucks noch heute lesenswert. +Deshalb wäre die deutsche Minnedichtung heute längst vergessen, zumindest für ein größeres [[Publikum]] uninteressant, wenn sie nicht selbst ein Mittel gefunden hätte, ihr Idealbild von der geistigen Liebe zu brechen. Ich spreche von der niederen Minne, die wohl besser als ebene Minne, als die Minne, die mit beiden Füßen auf dem Boden steht, bezeichnet werden sollte, und von dem Stilmittel der Ironie, das die Minnesänger erstmalig für das christliche Abendland entdeckten. Sie machen diese Dichtung abgesehen von der Schönheit ihres Ausdrucks noch heute lesenswert. 
  
  
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-(8) Daß das MA keine Räumlichkeit in ihren Bildwerken entwickelte, liegt m. E. an eben dieser Tatsache, daß die Menschen ihren Blick nur hinauf zu Gott wendeten und mit ihren emporstrebenden gotischen Kirchen wie mit Fingern auf ihn und die Unendlichkeit deuteten, ihre Augen jedoch nur selten auf der Erde schweifen ließen, einer Erde, deren Erscheinungen sie kaum Interesse entgegenbrachten.+(8) Daß das MA keine Räumlichkeit in ihren Bildwerken entwickelte, liegt m. E. an eben dieser Tatsache, daß die Menschen ihren Blick nur hinauf zu Gott wendeten und mit ihren emporstrebenden gotischen Kirchen wie mit Fingern auf ihn und die [[Unendlichkeit]] deuteten, ihre Augen jedoch nur selten auf der Erde schweifen ließen, einer Erde, deren Erscheinungen sie kaum Interesse entgegenbrachten.
  
  
-(9) Unter diesen Troubadoures und später unter den Minnesängern gab es auch einige Frauen, die dann allerdings den idealisierten Mann, hinter dem sich natürlich Christus verbirgt, anpriesen. Da kann es auch nicht verwundern, daß die wichtigsten Autoren der christlichen Mystik jener Zeit Nonnen wie z. B. die schon erwähnte Hildegard von Bingen (um 1098 - 1179) oder Mechthild von Magdeburg (um 1207 - 1287) waren. Von der letzteren seien hier ein paar Verse aus einem ihrer Minnelieder zitiert. Sie verraten deutlich die Braut Christi:+(9) Unter diesen Troubadoures und später unter den Minnesängern gab es auch einige Frauen, die dann allerdings den idealisierten Mann, hinter dem sich natürlich Christus verbirgt, anpriesen. Da kann es auch nicht verwundern, daß die wichtigsten Autoren der christlichen Mystik jener Zeit [[Nonne|Nonnen]] wie z. B. die schon erwähnte Hildegard von Bingen (um 1098 - 1179) oder Mechthild von Magdeburg (um 1207 - 1287) waren. Von der letzteren seien hier ein paar Verse aus einem ihrer Minnelieder zitiert. Sie verraten deutlich die Braut Christi:
  
 Herr, so harre ich deiner  Herr, so harre ich deiner 
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 (13) Der Begriff der promethischen Scham, den ich hier so bedenkenlos übernehme, stammt aus dem I. Band der Antiquiertheit des Menschen, München 1956, von Günther Anders. (Krodel) (13) Der Begriff der promethischen Scham, den ich hier so bedenkenlos übernehme, stammt aus dem I. Band der Antiquiertheit des Menschen, München 1956, von Günther Anders. (Krodel)
  
-siehe auch Diskussion im [[http://forum.vonwolkenstein.de/threads/2195-Minne-ein-Essay|Wolkenstein-Forum]]+
  
  
minnesang.1541920775.txt.gz · Zuletzt geändert: 2019/07/28 14:06 (Externe Bearbeitung)