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NATIONALSTAATBILDUNG

Typologie

  • demokratisch-revolutionäre Umgestaltung bereits bestehender Nationalstaaten - Westeuropa
  • integrative STAATSBILDUNG als nationaler Vereinigungsprozeß von Teilstaaten - vorwiegend Mitteleuropa
  • sezessionistsiche Staatsbildung von Nationen, die sich aus Vielvölkerstaaten herauslösen - vorwiegend Osteuropa

Die Frage eines Nationalstaats hatte in den letzten zweihundert Jahren eine Aktualität, die vielleicht nur noch von der sozialen Frage übertroffen wurde. Zumeist standen und stehen beide in einem engen Wirkzusammenhang. Die mehr oder weniger unterdrückten Volker in den Vielvölkerstaaten des 19. Jahrhunderts Österreich/Ungarns, Rußlands, der Türkei (Osmanisches Reich), Britanniens oder der USA verbanden ihre SEHNSUCHT nach FREIHEIT und Unabhängigkeit in einem eigenen nationalstaatlichen Gebilde fast immer auch mit sozialer beziehungsweise wirtschaftlicher Freiheit. Ob es sich um die Iren in BRITANNIEN handelte, die Schwarzen oder Indianer in den USA, die Armenier in der Türkei, die Balten oder Finnen im Russischen Reich, die Slawonen, Slowenen oder Kroaten in ÖSTERREICH-UNGARN oder oder oder…, fast immer gingen Forderungen nach mehr politischer AUTONOMIE auch mit sozialen Forderungen einher. „In einem generellen Sinne ist sie offenbar unlösbar“, sagte Theodor Schieder, einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Nationalitätenfrage, vor den versammelten Geistesgrößen der HERDER-Gesellschaft 1951. Warum ist sie unlösbar?
Was veranlaßte 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, die vielen Völker im Osten Europas, eigene Staaten zu begründen, von denen man heute behaupten könnte, sie seien überflüssig oder zumindest wirtschaftlich SINNLOS?

Vor hundertfünfzig Jahren hielt der Italiener MANCINI eine REDE in Turin, in der er begründete, warum es ein Italien geben müsse. Eine NATION in einem staatlichen Organismus würde den Frieden sicherstellen können, weil das Gewaltmonopol für die Nation von der Nation selbst ausginge. Der NATIONALSTAAT würde eine ORDNUNG schaffen, die in einem VIELVÖLKERSTAAT nicht gewährleistet werden könne.

A. Nationalstaatbildungen

Historisch betrachtet lassen sich drei Phasen der Nationalstaatbildung feststellen:

I. Phase

Die großen bürgerlichen Revolutionen im WESTEN Europas führten auch zu einer Nationalisierung. ENGLAND und FRANKREICH gingen aus ihren bürgerlichen Revolutionen als gestärkte bürgerliche Nationalstaaten hervor. Die Nation bildete sich als eine Gesamtheit vereinigter Individuen, die unter einem gemeinsamen GESETZ stehen und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind. Der frühneuzeitliche Nationalstaat der westeuropäischen Nationen war eine innerstaatliche REVOLUTION, in der die MEHRHEIT der Menschen beziehungsweise BÜRGER eines bereits bestehenden Staates ihre politischen Werte zu denen des gesamten Staates machte. Sie nannten sich dann Nation oder Volkswille und kehrten die politischen Verhältnisse um. In England blieb zwar das Königtum nominell an der Spitze des Staates, allerdings aber ist der heute gebräuchliche Beisatz REPRÄSENTATIV AUSDRUCK der tatsächlichen politischen Machtverhältnisse, die eben nicht mehr (seit dem 17. Jahrhundert) beim englischen Königtum liegen, sondern auf das besitzende Bürgertum übergingen, die für sich in Anspruch nahmen und nehmen, dem Volkswillen zu entsprechen.
In dieser PHASE der Umgestaltung der (mittelalterlichen) Gesellschaft jedenfalls, die für viele Menschen in EUROPA und Amerika beispielgebend wurde, wurde das Prinzip der Volkssouveränität erstmals politisches THEMA und scheinbar durch die Bildung von bürgerlichen Nationalstaaten in England, Frankreich oder Holland umgesetzt.

II. Phase

Hier bilden sich Nationalstaaten aus staatlich voneinander getrennten Gebilden, die ihre Zerrissenheit überwinden wollen. Diese Revolution zerstört den vorhandenen STAAT, auf dessen Gebiet sich ein Teil eines neuen Staates bildet und zusätzlich noch von anderen Gebiete einfordert, auf denen zum STAATSVOLK des neuen Staates gehörige Menschen wohnen. Zu dieser Phase gehör(t)en die Einigungsbewegungen, wie sie auch genannt wurden, Italiens und Deutschlands. Die Nation ist vor dem Staat. Das BEWUßTSEIN der die Revolution tragenden Menschen definiert sich über Sprache, gemeinsame Abstammung, gemeinsame GESCHICHTE oder kulturell. Italien und Deutschland sind Länder größter politischer Zerrissenheit gewesen, dennoch trug die Deutschen wie die ITALIENER über Jahrhunderte hinweg der unpolitisch gemeinte Gedanke ihrer selbst als KULTUR- beziehungsweise Sprachgemeinschaften. Goethe fuhr eben nach Italien, obwohl es dieses im Grunde genommen als Staat gar nicht gab. Und Giordano BRUNO flüchtete vor der INQUISITION aus Italien nach Deutschland, nicht ins REICH, zu dem er eigentlich nominell als STAATSBÜRGER gehörte.
Es entwickelte sich in Italien wie in Deutschland der HUMANISMUS auf diesem BODEN einer idealistischen Verbundenheit der Völker über Staatsgrenzen hinweg, weil man nach dem Allgemeinmenschlichen suchte. Andererseits hatten es die Völker Italiens und Deutschlands im 19. Jahrhundert auch satt, in der staatlichen SELBSTÄNDIGKEIT gegenüber ihren westlichen Nachbarn zurückzustehen, so daß der Ruf nach staatlicher Einheit gegenüber denjenigen, die die Freiheit und das sittliche Gemeinwohl im Auge hatten, immer lauter wurde. Die Einheit sollte unbedingt herbeigeführt werden. (Dieses damals heraufkommende PRINZIP politischer WILLENSBILDUNG der übergroßen Mehrheit könnte dann auch bei der Heraufdämmerung des FASCHISMUS resp. NATIONALSOZIALISMUS in Italien und Deutschland eine nicht unwichtige ROLLE gespielt haben.)
Daß gerade in Deutschland damit gegen ein Grundprinzip deutschen Selbstverständnisses, das der Prämisse der Freiheit gegenüber machtpolitischem oder wirtschaftlichem Kalkül, politisiert wurde, ist UNS nicht zuletzt im 20. Jahrhundert zum Verhängnis geworden.

III. Phase

Die Nationalstaaten in Westeuropa waren im 17./18. Jahrhundert fertig und konzentrierten sich auf Landerwerbungen außerhalb Europas. Die Briten hatten Irland sich einverleibt, die Franzosen ELSAß und Lothringen. Dabei blieb es vorerst. Ihre ORIENTIERUNG richtete sich auf Afrika, Asien oder Ozeanien. Die Amerikaner hatten einen ganzen Kontinent für ihre Eroberungszüge. Im Osten Europas existierten um 1850 drei Großreiche, in denen viele Nationalitäten mehr oder weniger SCHLECHT zusammenlebten: RUßLAND, das Osmanische Reich und Österreich/Ungarn.
In diesen Großreichen entstand bei den „unterdrückten“ Völkern ein Bewußtsein gegen den sie beherbergenden Staat. Der bestehende Staat ist das Fremde und der Gewaltträger, gegen den man sich erheben muß, um selbständig zu werden, selbst eine Macht aufzubauen. Das bedeutet, anders als bei Deutschen und Italienern, daß sich osteuropäische Nationalstaaten aus Großreichen bildeten. Das ist die Entstehung aus der Abtrennung, der Sezession.

A.1) Der Verfassungsstaat

Der Verfassungsstaat definiert sich über eine Verfassung, der seine Mitglieder zustimmen. Sprache oder RASSE spielen beim Zusammenschluß keine bedeutsame Rolle. Die „Nation“ definiert sich über Regeln, eine Verfassung, Gesetze oder eine gemeinsame Geschichte. Beispiele hierfür sind u.a. die USA, Frankreich oder Indien. Fundamental ist hierbei die Forderung nach GLEICHHEIT, über die sich das einzelne Mitglied aufgehoben fühlen kann, weiterhin bedarf solche Verfassungsnation eines funktionierenden Rechtsapparates, der garantiert, daß jedes einzelne Mitglied Klage erheben kann. Die Konstituierung rechtsgleicher Bürger (VOLKSSOUVERÄNITÄT) führt so zu einem Zusammenfallen von Staat und Nation.
Das größte PROBLEM hierbei besteht zumeist darin, daß die Menschen aufgrund ihres engen Denkens sich nicht in der Lage SEHEN, den allgemeinen Bestimmungen eines höheren Menschseins – TOLERANZ, tätiges Miteinander, VERANTWORTLICHKEIT – auf einen größeren Gesichtskreis auszuweiten. So nimmt es nicht wunder, daß ausgerechnet in den genannten Nationalstaaten algerische Franzosen, schwarze Amerikaner, buddhistische Inder in eben ihren Vierteln leben, in die ANDERE nicht eingelassen werden, wodurch ein Austausch zwischen den „Nationen“ innerhalb der einen Verfassungsnation quasi nicht stattfindet.

A.2) Der Nationalstaat

Das gemeinsame Bindeglied ist die Sprache, das Herkommen und die gemeinsam erlebte Geschichte. Der Staat hat hier keine bedeutsame Funktion, er besitzt lediglich Aufgaben der VERWALTUNG. ZIEL dieser STAATSFORM ist es, alle Gleichsprechenden unter einem politischen Gesamtausdruck (Großstaat) zu vereinigen.
Diese IDEE ist bedeutsam in Deutschland, Italien oder Polen geworden. Wilhelm Jordan hat 1848 in seiner Polenrede in der Frankfurter Paulskirche die Grundgedanken dieser Idee wie folgt zusammengefaßt:
„Jeder ist ein Deutscher, der auf deutschem Gebiet wohnt… Er [der Begriff der Nation] hat sich völlig verändert, die Nationalität ist nicht mehr begrenzt durch die Abstammung und die Sprache, sondern ganz einfach bestimmt durch den politischen Organismus, durch den Staat. Die ENGLÄNDER, Schotten und Iren bilden alle zusammen eine Nation. Sie fassen sich zusammen zur britischen Nation, und mit demselben Recht können wir sagen: Alle, welche Deutschland bewohnen, sind DEUTSCHE, wenn sie auch nicht Deutsche von Geburt und Sprache sind. Wir dekretieren sie dazu, wir erheben das Wort Deutscher zu einer höheren Bedeutung und das Wort Deutschland wird fortan ein politischer BEGRIFF.“

nationalstaatbildung.txt · Zuletzt geändert: 2022/12/17 09:15 von Robert-Christian Knorr