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PYTHAGORÄISCHES IM TIMÄOS

PYTHAGORAS hat nichts Schriftliches hinterlassen oder hinterlassen lassen. Somit bleibt alle Überlegung SPEKULATION. (Die HOFFNUNG auf Schriftliches von Pythagoras oder einem seiner unmittelbaren Schüler bleibt uns nach einer Vermutung von WILAMOWITZ: „Herakleitos konnte sein URTEIL über Pythagoras [Er hätte die weiteste „istorie“; s.u. S. 188, Bd. I] unmöglich nur auf mündliche Mitteilungen stützen. In: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: Der Glaube der Hellenen. Band II, S. 245. Berlin 1932.) Aber die FORSCHUNG kann jahrhundertelang der Faszination einer Person erliegen, deren WEISHEIT schon im ALTERTUM Anlaß für manchen MYTHOS gab. („Im THEATER stand er, wie ARISTOTELES sagt, einmal auf und enthüllte den bei ihm Sitzenden, daß sein Schenkel (SYMBOL der ZEUGUNG) von GOLD sei.“ in: Aristoteles fr. 191 Rose DK 14.7. Zeugung, mithin Fruchtbarkeit; samt und sonders MYTHUS des Demeterkultes: ein Frauenfruchtbarkeitssymbol für einen in einer patriarchalischen GESELLSCHAFT lebenden Religionsstifter! Man wird SEHEN, wohin das führt.) Doch muß man das Feste suchen, um WISSENSCHAFT betreiben zu können! Worin besteht es bei Pythagoras? Es sind zwei Lehrmeinungen, die als sicher von ihm gelten dürfen:

Die Lehre vom Wirkungsprinzip der EINS: Die EINS besitzt das VERMÖGEN, aus sich SELBST heraus in das Unbegrenzte (APEIRON) einzudringen, einen Teil aus ihm herauszureißen und ihn durch sich selbst zu begrenzen. („Im ersten BUCH seiner ‚Pythagoräischen Philosophie‘ schreibt Aristoteles, die WELT sei EINS, sie ziehe aus dem Unbegrenzten Zeit, Atem und das Leere an, das allem Einzelnen den RAUM abstecke.“ in: Aristoteles fr.201 Rose DK 58 B 30. Ein Warum wird nicht geliefert!) So entstand und entstehen die Dinge: „omnibus ex nihilo ducendis sufficit unum“ (LEIBNIZ). Eine Konsequenz dieses Wirkungsprinzips ist die TETRAKTYS: „Der MODUS ihrer Konstruktion, 1+2+3+4 , untereinander und nebeneinander als Punkte notiert, wurde als dem der Entstehung der natürlichen Welt äquivalent betrachtet, die musikalischen Zahlenverhältnisse

  • 2:1 Oktave → die Halbierung einer Saite produziert einen Ton, der eine Oktave höherliegt;
  • 3:2 Quinte,
  • 4:3 Quarte

lassen sich untereinander ablesen.“ (Die VORSOKRATIKER I. Hrsg. von J.Mansfeld. Reclam Stuttgart 1991. S. 107.) Und in diesem Sinne „ist die ganze Himmelswelt HARMONIE und Zahl“, wie Aristoteles in METAPHYSIK 985 schreibt.
Die EINS ist nicht alleiniges PRINZIP, sie tritt in einem empedoklischen Sinne in Widerstreit mit unzähligen anderen Wirkungsprinzipien, was letztlich zu der unendlichen Vielheit der Gestaltungen und Inhalte führt. Für Pythagoras waren diese anderen Wirkungsprinzipien Zahlen; er gab ihnen diesen Namen und nannte die ZWEI, die als Entgegensetzung zur EINS – als „absolut diskret und Kontinuität“ (Georg Hegel: Geschichte der Philosophie, Band I. Reclam Leipzig 1982, S. 196.) – nunmehr den GEGENSATZ beschreiben soll, „den UNTERSCHIED, das Besondere“: Das geht so weiter: Für jede Wirkungsweise kann eine Zahl gefunden werden, die definiert - das ist legitim und aller Anfang von Wissenschaft - nur im WIRKUNGSZUSAMMENHANG erkannt und genannt werden muß. (Aristoteles scheint sich keine eindeutige MEINUNG über die Pythagoräer (er spricht immer im Plural) hat bilden können. Wilamowitz meint, Bd. II, S. 188, Platon und Aristoteles hätten schon nichts mehr über die von Heraklit erfahrenen Lehren gewußt. Wie wären ansonsten folgende widersprüchliche Sentenzen zu verstehen? „Offenbar betrachten sie die Zahlen als Prinzip, und zwar zum einen als Stoff für die seienden Dinge, zum anderen als Bestimmtheiten und Zustände. Als Elemente der Zahl betrachten sie das Gerade und das Ungerade, während die Eins aus beiden sei, sie sei ja sowohl gerade als auch ungerade. Aus der Eins entstehe die Zahl, und die ganze Welt bestehe, so behaupten sie, aus Zahlen.“
in: Metaphysik 985/86, auch weiter unten 1080b 18: „Sie konstruieren die ganze Welt aus Zahlen, aber diese Zahlen bestehen – wie man doch wohl einwenden muß – nicht aus Punkteinheiten, nein, die Pythagoräer nehmen vielmehr an, ihre Punkteinheiten hätten Ausdehnung. Die Frage jedoch, wie die erste Eins als etwas Ausgedehntes zusammengesetzt sei, scheinen sie nicht beantworten zu können.“
Nun scheint Aristoteles mit einem Zweig der Pythagoräer, der „ausgedehnte Punkteinheiten“ annahm, Schwierigkeiten gehabt zu haben, was nicht zu verwundern wäre.
Das zweite ZITAT ist logisch nicht mit erstem Zitat vereinbar, denn ein Wirkungsprinzip, das Bestimmtheiten und Zustände beschreibt, kann nicht aus einer materialen Konsistenz bestehen. Pythagoras betrachtete gerade im Gegensatz zu den ionischen Naturphilosophen die Welt nicht durch die Brille des Hylozismus; ihm galt es, ein nichtmateriales Grundprinzip zu setzen.)
Sollen diese Wirkungszusammenhänge nun ebenfalls für das Nichtsinnliche gelten?
Wir werden später sehen, daß es gerade die nichtsinnliche Seite - die sinnliche Seite besteht im Ergebnis des formal Abgegrenzten und so Benannten - der pythagoräischen Zahlenlehre ausmacht, um im SITTLICH-ästhetetischen Bereich Gültigkeit in Anspruch nehmen zu können.

Die Lehre von der Seelenwanderung

„Es müßte sich der GEDANKE aufdrängen - weil es sich zeigte, daß die SEELE der Träger des geistigen Lebens des Menschen war -, daß die SEELENKRAFT, die den Körper belebt hatte, nicht verdiente, nach dem Scheiden von dem materiellen in einen anderen Körper überzugehen.“ (Wilamowitz, Band I, S. 375.
Daß Wilamowitz Pythagoras einen Ionier nennt, der er als gebürtiger Samier tatsächlich war, kann nur den Grund haben, daß Pythagoras schon vor seinem Eintreffen in UNTERITALIEN – als etwa 40jähriger – den Gedanken der wandernden Seele im Gegensatz zu den Lehren der Ionier ANAXIMANDER, THALES und ANAXIMENES vertreten haben muß.) Das sei die Prämisse.
Nun gibt es zwei sich ausschließende Lehrmeinungen, die über Kern, GRUND und BEDEUTUNG dieses Übergangs seit dem ALTERTUM streiten.

„Der gewissermaßen officielle TERMINUS der PYTHAGORÄER für den Übertritt der Seele aus einem Körper in einen andern lautete ‚Palingenesia‘, ‚Wiedergeburt‘, was SERVIUS z. Aen. III, 68 gegenüber der vielfach geläufigen Bezeichnung ‚Metempsychosis‘ ausdrücklich betont: non ‚Metempsychosin‘, sed ‚Palingenesian‘ esse dicit seil.Pythagoras.
Entsprechend Platon Phaedon 70 C: Und wenn sich dies so verhält, daß die Lebenden wieder geboren werden aus den Gestorbenen: so sind ja wohl unsere Seelen dort?“ (Wilhelm Bauer: Der ältere Pythagorismus. In: Diss. Bern 1897. S. 163.
Das kann man nur verstehen, wenn man den TEXT bis 72 d weiterliest: „…..es gibt in der Tat ein Wiederaufleben, und ein Werden der Lebenden Aus den Toten, und ein SEIN der Seelen der Gestorbenen, und zwar für die Guten ein Bessersein, für die Schlechten aber ein Schlechteres.“
Mit diesen Woten dürfte es Bauer schwerfallen, Platon auf die seite der Palingenisten zu stellen.)
Eine dezidierte Beschreibung der pythagoräischen Seelenwandrungslehre ist nicht vorzuweisen; Philolaos, der den Ruf des Pythagoräers genießt und eine solche Beschreibung lieferte, lebte 150 Jahre zu spät, um als reiner Alt-Pythagoräer gelten zu dürfen. Bleibt Gestückel:
Jede Seele hat eine erste körperliche Verbindung erfahren.
Warum? Damit der Mensch als Ebenbild des Schöpfers entstehen konnte.
Diese erste körperliche Verbindung aber kann ihr nicht, wie alle späteren, als „Strafe für Vergehungen“ auferlegt worden sein - göttlicher URSPRUNG! -, also versündigt sie sich mit dem LEIB, dem Ebenbild der NOTWENDIGKEIT. Beim Tode des Körpers scheidet die Seele aus demselben aus, um ein körperloses Leben zu führen, sofern sie nicht gesündigt hat; tat sie es, so geht sie in einen anderen Körper über. Das ganze Seelenleben bis zu ihrer endgültigen Befreiung aus körperlicher Knechtschaft ist nur eine PRÜFUNG ihrer reinen göttlichen Natur, und nur wenn sie sich als standhaft und siegreich allen materiellen Anfechtungen gegenüber bewahrt hat, kann die Seele sich aufschwingen zu absoluter SELBSTÄNDIGKEIT, zu reiner Geistigkeit. - Kernwort ist „Prüfung“, was eindeutig auf den moralischen Aspekt der Lehre hinweist.
Bauer erfaßt einen Gedanken von Erwin Rohde in „Psyche“, 1893, S. 295 f., mit dem dieser eine eher empiropsychologische Deutung altgriechischen Seelenlebens gibt: „Wenn von Hermotimos - Landsmann Anaxagoras‘, also Ionier - berichtet wird, daß er eine SCHEIDUNG zwischen dem reinen ‚Geiste‘ und dem Stofflichen angenommen habe, so sieht man deutlich, wie diese THEORIE aus seinen ‚Erfahrungen‘ - Wanderung der Seele; ekstatische Fahrten über Jahre hinweg - hervorging. Die Ekstasen der Seelen, von denen H. und dies ganze ZEITALTER der verrückten Seher so vielfache ERFAHRUNG machte, wiesen hin auf die Trennbarkeit der ‚Seele‘ vom Leibe, auf höheres Dasein der Seele in ihrem Sonderdasein.- Die Sibyllen, Bakiden, die Bakchoi, Seher und Reinigungspriester, EPIMENIDES, ARISTEAS und so viele andere waren weitere Beispiele für den Aufschwung der Seele ins Göttliche oder Eingehen des Gottes in die Seele.“

HERODOT berichtet in II, 123 von der UNSTERBLICHKEIT der Seele in dem Sinne, daß Willkür bei der Auswahl des Wirtes zwangsläufig erscheinen muß; allerdings bedient er sich auch der magischen Jahreszahl 3000 - bei Platon der Zeitraum bis eine Seele ihre Flügel zurückerhält und in das REICH der Ideen zurückkehrt -, was ihm den VORWURF des Eklektizismus einbringen dürfte. Herodot verzichtet auf eine Nennung der beschriebenen Lehre. Die ÄGYPTER, die er fälschlich für die Urheber dieses Glaubens hält - Herkunftsland war Indien -, besaßen keinen ethisch-politischen Erklärungsrahmen für richtiges Handeln, wie Pythagoras die durch die AKOUSMATA geschaffen hatte.

Wozu Handlungsanweisungen, wenn nicht ein moralischer SINN verfolgt wurde?

Bei den Ägyptern blieb die Seele nach dem TOD eines Menschen lebend übrig. Und so ließen sie diese in einen anderen Körper übersiedeln; bei Pythagoras aber hat die Wanderung einen sittlichen Grund, weshalb auch das neue WORT Metempsychose entstand.
Es können in dieser ARBEIT nicht alle Pythagorismen aufgeführt sein. So mußte eine Auswahl getroffen werden. Der Autor beginnt mit den Vorstellungen vom Schaffensprinzip EINS, fährt fort über Harmonie, Musik und Seele zu explizieren, hofft mit dem Zentralthema des Werkes nicht zu kurz zu verfahren und will mit der Darstellung pythagoräisch-platonischer Herrschaftsprinzipien enden. Diese Reihenfolge orientiert sich an der von Platon vorgelegten.

Das Schaffensprinzip EINS

Der grundlegende Unterschied zwischen Pythagoras und Platon in der Auffassung über das Schaffensprinzip ist wohl der, der zwischen POLYTHEISMUS und MONOTHEISMUS besteht: Galten Pythagoras die Wirkungsprinzipien gleichberechtigt, so ist bei Platon die Orientierung eindeutig auf den einen Schöpfergott gerichtet, allerdings mit pythagoräischen Oeuvre.

Thesen

  • Pythagoras – Die Tetraktys bindet das einzelne in das Viele ein, aus dem es geworden und am Werden ist.
  • Platon – Der Eine gibt dem Vielen und der Harmonie Sinn in einer ständigen Selbstbefragung.

Belege:
„Einer ist es, wenn die Welt denn nach ihrem Vorbild - VOLLKOMMENHEIT - hergestellt sein soll…..“ 31a
„Gott ist, das Viele zu Einem zu vermischen und wieder aus Einem in Viele aufzulösen, hinreichend kundig und zugleich auch fähig…“ 68d
Das WIE der Gestaltung löst Platon ästhetisch, wobei ein dialektischer Grundgedanke, der sich mit dem Verhältnis des Entgegengesetzten beziehungsweise Fremden beschäftigt, Ausgangspunkt der Überlegung ist: „Zwei allein gelungen zusammenzufügen, ohne ein Drittes, ist nicht möglich (tertium comparationis: Platon verwischt über das zahlenmäßige Erfassen eines Anders-Sein qualitative Unterschiede. Die Lösung kann, da die Zahl nicht als Prinzip begriffen wird, nur allegorisch bzw. ästhetisch sein. Der folgende Gedanke geht dann auch richtens Schönheit der erfaßten und gebildeten Welt. - Platon: Timäus. Hrsg. von H.G. Zekl. Meiner HAMBURG 1992. S. 198.): ein Band muß entstehen inmitten der Zwei, das sie zusammenführt. Das schönste Band ist aber dies, das sich selbst und das Verbindende möglichst zu Einem macht; das aufs schönste zu vollenden, dazu ist das Zahlenverhältnis da.“ 31b (Zahl: das, was das Verhältnis von Werden und Sein als beides Enthaltendes vermitteln und darstellen kann. - Auf PARMENIDES soll in dieser Arbeit nicht eingegangen werden.)

Dieses neue pythagoräische Schaffensprinzip korrespondiert mit dem altgriechisch-mythologischen Schaffens- beziehungsweise Schicksalsbegriff, wobei es in folgendem Zitat um das Seelenausgangslos und nicht um das Schaffensprinzip SCHLECHTHIN geht: „Der DÄMON kürt nicht euch, sondern ihr wählt einen Dämon; die VERANTWORTUNG trägt, wer wählt, Gott trägt sie nicht.“ Diese Zeilen stammen aus Platons ‚Staat‘ 617 e und werden vom Herold der LACHESIS an die Seelen gerichtet, bevor diese ihr Lebenslos ziehen.

Das bedarf einer Erklärung: Platon benutzt aus der Frühzeit eine VORSTELLUNG über das SCHICKSAL, nach welcher die drei Töchter des ZEUS und der THEMIS, KLOTHO, ATROPOS und Lachesis, die Moiren, an der Weltachse sitzen und die Lebenslose spinnen. Man stellte sich die Weltachse als eine sich drehende Spinnachse vor, an dessen einem Ende Klotho, die Spinnende, den Faden spinnt und an dessen anderem Ende Atropos, die Abschneidende, diesen abschneidet, so daß er in den Schoß der in der Mitte sitzenden Lachesis, die Zuweisende, fällt, aus welchem dann die Seelen ihr Lebensglück ziehen.
Dieser SCHÖPFUNGSAKT entbehrt vorerst einer sittlichen Prämisse, denn zumindest schwingt der GEDANKE der WILLKÜR in den Worten „Zuweisende“ und „ziehen“ mit. Der Schöpfungsakt des Schicksals: „…in den schon benutzten Krug, in dem er die Seele des Alls mischend zusammengerührt hatte, schüttete er die Überreste des vorher Verwendeten (Der Schöpfer fing mit dem Wichtigsten, dem Lebensraum, an und schuf dann diejenigen, die den Lebensraum – Vielleicht sind diese doch wichtiger? – belebten.) und mischte sie zwar auf etwa gleiche Weise, doch nicht mehr rein im stets gleichen Verhältnis (Die wahre Harmonie ist nicht gewährleistet, also ist das eine Deszendenz.), sondern in zweiter und dritter Näherung. Nachdem er das Ganze angesetzt hatte, nahm er die Seelen heraus, zahlengleich mit den Sternen (Das Zuweisungsproblem wird so gelöst.), und er wies einem jeden STERN eine zu; auch sagte er ihnen die unabänderlichen Schicksalssatzungen an.“ 41d-e
Offensichtlich besaß Platon wenigstens zwei Auffassungen über die geschaffene Seele (Man kann nicht von einer entwicklungspsychologischen bzw. ontogenetischen VERÄNDERUNG des Seelenschicksalsbegriffes sprechen, da der „Staat“ und „Timäus“ etwa zeitgleich entstanden sind und nach Karl Fr. Hermann: Geschichte und SYSTEM der Platonischen Philosophie. 1. Theil. Heidelberg 1839. S. 362. zusammen mit dem „Kritias“ aus der konstruktiven Phase stammen.), eine altgriechisch-mythologische, die Pythagoras und dem Polytheismus verpflichtender war und eine Auffassung, die sich an seine IDEE von dem einen Schöpfergott orientierte. Für diese Behauptung bietet der „Timäus“ allein kein belegendes Material und somit soll auf einen anderen wesentlichen Unterschied zwischen Pythagoras und Platon hingewiesen werden, den man unter dem modernen Begriff „Frauenbild“ zusammenfassen könnte. Die Verflechtung pythagoreischer mit nichtpythagoreischen Gedanken macht die Ursprungsbestimmung von Platons Denken, das auf dem Boden Pythagoras' stehen soll, sehr schwierig; auch, weil nichts Schriftliches von Pythagoras anzuführen ist.

Seelenverhältnisse

Die Seele muß sich bei Platon bewähren, heißt, die Affekte beherrschen. Anderenfalls deszendiert sie in die nächstniedere KATEGORIE, eine erneute Bewährungschance erhaltend.
Die nächst niedere Kategorie, vom Manne aus betrachtet, ist für Platon das WEIB 42b, nach welchem nur noch das TIER Platz auf seiner Skala findet 42c.
Diesen STANDPUNKT macht er in 50d noch deutlicher; die FRAU tritt hierin als Inkubator auf, nicht als gleichberechtigtes WESEN: „Das, was da wird; das, worin dies Werden stattfindet; das nach dessen Abbildung das Werdende in die Natur tritt. So scheint denn auch ein Vergleich angemessen: Das Aufnehmende mit einer Mutter, das ‚nach dem‘ mit einem Vater, das Naturding in ihrer Mitte mit einem Sprößling.“

Wie anders dagegen Pythagoras!
Aetius 5,5,1 stellt Pythagoras neben Platons philosophiegeschichtliche Erzfeinde EPIKUR und DEMOKRIT (Die Insuffizienz einer rein mechanischen Erklärung der Urgründe birgt das Gegenmodell, die Rekonstruktion des Kosmos aus Ideen. Demokrit und Epikur stehen für ein mechanisches WELTBILD.): „auch das Weibliche sende Samen aus. Es besitze nämlich nach innen gewendete Hoden. Deshalb habe es VERLANGEN nach ihrem Gebrauch.“ Aber diese SENTENZ ist Auswirkung eines anderen Grundgedankens, den Jacob Burckhardt zweitausend Jahre später nach seiner ersten Formulierung wie folgt erfaßte: „Es war die Macht des neuen Seelenwanderungsglaubens, welcher die Würde der Geschlechter herstellte.“ (Genannt seien hier Diogenes Laertios 8, 21; DK 14.7; Burckhardt, S. 230.)
Da ist der entscheidende Unterschied zu Platon: Pythagoras Deszendenz lautet Mensch-Tier, Platons Mann-Weib-Tier. Es existieren mehrere Belege, die sich mit dem Verhältnis Pythagoras‘ zu den Frauen beschäftigen. Die goldenen Schenkel des Apollonpriesters (Die goldenen Schenkel stehen als Fruchtbarkeitssymbol, aber sie sind überkommen aus matriarchalischer Zeit. Auch mag es uns heute wundern, daß der Demeterkult-Ort von einem Apollonjünger, als der Pythagoras galt, mitvertreten werden durfte. Zeller, Vorträge und Abhandlungen geschichtlichen Inhalts. Leipzig 1865. S. 44., weiß von einer goldnen Hüfte und politischer Macht Pythagoras‘ zu berichten.), die Aufträge für die Demeterschwester PERSEPHONE im HADES, in dem Pythagoras gewesen sein soll, sind eindeutige Belege für eine gleichberechtigte Stellung der Frau im Ordensbund.
Fassen wir hier also kurz zusammen, daß die Metempsychose eine Rückwirkung auf den einzelnen Menschen ausübte, denn er war selbstverantwortlich für Aszendenz beziehungsweise Deszendenz seiner Seele; für das spätere Leben. Diese mutmaßliche und für die griechische Welt bemerkenswerte Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau erklärt sich aus dem Harmoniebegriff der Pythgoräer: „Die pythagoräische Philosophie geht von der Idee aus, das Wesen der Dinge liege in dem Maße, dem Verhältnisse, der geregelten Form: nicht der Stoff, wie es ionische Wissenschaft mutmaßte, sondern die Gestaltung sei das wahrhaft Reale an den Dingen.“
Diese Betrachtungsweise schließt das RECHT des Stärkeren beziehungsweise das Prinzip des Agon, welches Burckhardt als den patriarchalischen „Drang zur persönlichen Auszeichnung“ betrachtet, aus; jedes Daseinsprinzip - männlich, WEIBLICH, häßlich, schön, gerade, ungerade usw. - erhält einen definierten Rang im Ordensverband und die Möglichkeit, sich selbst neue Präferenzen zu setzen. (Allerdings reicht dies nicht hin, denn die Pythagoräer wollten auf das Leben einwirken, Macht ausüben und die Gesellschaft ihrer von ihnn apostrophierten Bestimmung zuführen: „Pythagoras konnte sich nicht, wie selbst Empedokles es tut, auf die äußerliche REINHEIT seiner GEMEINDE beschränken, wenn sie zugleich die HERRSCHAFT im Staate anstrebte. Darin unterschied sich seine Religion von den anderen Weihen ganz ebenso wie von den ionischen Naturphilosophen, die nichts als ihre naturwissenschaftlichen Forschungen verfolgten.“ Wilamowitz. Band II. S. 192.)
Das feine Verhältnis zwischen den einzelnen Prinzipien spiegelt sich in der Betrachtung der Musik wider, sie ist für die Pythagoräer „Sphärenharmonie“.
Im „Timäus“ dazu: „was andererseits von der Musik durch Töne fürs Gehör Gewinn stiftet, ist um der Harmonie willen geschenkt (Spätestens seit Anton von Webern gilt in der Musik der Tritonus nicht mehr als Dissonanz - Antonym zum Harmonieverständnis unserer Vorfahren - im herkömmlichen Sinne - „TEUFEL in der Musik“ – Bach -, sondern allenfalls als Darstellung der Wirklichkeit.); diese Harmonie enthält Bewegungen, die den Umläufen der Seele in uns verwandt sind.“ 47d
Das ist eine pythagoräische Ausgangsüberlegung, die deduktiv auf alle Belange der WELTERKLÄRUNG von Platon im „Timäus“ angewandt wird. Die Musik steht als AUSDRUCK der Idee, die Platon den pythagoräischen Ansatz gab, wonach es in der erkenntnistheoretischen Philosophie darum gehen muß, ein GESETZ zu finden, das die Kommensurabilität zwischen Erscheinungswelt und den Denkformen bescheibt. Diese Beschreibung fanden die Pythagoräer in einer Eigenschaft der Zahl; nämlich der, zu begrenzen: „die Auffassung der Welt als Harmonie von Grenze und Unbegrenztem, mannigfach durchwaltet von der Ordnung stiftenden Zahl, war für Platon ein Ausgangspunkt dafür, wie das Ineinander von VIELFALT und Einheit des Seienden denkerisch zu bewältigen sei.“ (Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon. in: Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft; Band 10. Nürnberg 1962. S. 78.)
Platon verbindet den Begriff der Harmonie mit dem des Gewinns; „chresimon“: Tauglich- beziehungsweise NÜTZLICHKEIT. Diesen Gedanken führt er später weiter aus 64c und 68e und begibt sich dadurch in einen Gegensatz zu den pythagoräischen Akousmata. Eine Lebenshaltung, die nach dem persönlich Nützlichen fragt, veträgt sich nicht mit einem auf Beibehaltung des </font><font face = "symbol, serif">autoz efa</font>, Er selbst hat es gesagt!, getrimmten Ordensverbandes, der seine KRAFT gerade aus den von allen eingehaltenen Regeln schafft. Platon fordert zwar „Gesetze“, doch orientiert er sich im Gegensatz zu den Pythagoräern gerade nicht unmittelbar am praktischen Leben, sondern stellt ein „Es möge sein!“ auf.
Man darf Platon wegen der praktischen Grundsätzen folgenden Frage nach der Nützlichkeit nicht zu einem Hedoniker machen - der Gedanke liegt wegen des Nützlichkeitspostulats in 64c und 68e nahe -, denn aufgrund seiner „Gesetze“, die für eine Allgemeinheit bestimmt sein sollen, stellt er sich in OPPOSITION zu diesen; allerdings auch in Opposition zum hedonistischen Willen des „demos“.
Der Hedoniker Kernsatz: Der WEISE lebt nur für sich und um seiner selbst willen! Dieser Satz kann reglementierende „Gesetze“ für eine Allgemeinheit nicht vertragen. Platons ZIEL mit den „Gesetzen“ liegt in der Eudämonie des einzelnen im Verband aller. Der Begriff des allgemeinen Glücks hält damit Einzug in die Philosophiegeschichte, denn kein Vorsokratiker frug zuvor danach.

Die sorgsame Beachtung der Weltordnung

„Was nun die Belange von Denken und Gesinnung angeht, so siehst du ja wohl selbst, was das hier bestehende Gesetz gleich zu Anfang für sorgsame Beachtung der Weltordnung zur PFLICHT gemacht hat, indem es alles, bis hin zur Wahrsagekunst und Heilkunst im Dienste der GESUNDHEIT hergeleitet hat“. 24b

Dieser Gedanke weist auf eine Grundvoraussetzung jeder GEMEINSCHAFT: Die Pflicht zur Ordnung.
Das ist eine allgemeine Bestimmung, die auf die „konkreten Existenzen“ (Aristoteles weist Pythagoras das mindere Prinzip der Nachahmung, mimesis, zu, die Eins als bildend wird so platt und teilnahmslos weil als allgemeine Bestimmung unzureichend. Platons Ideen dagegen lassen den konkreten Existenzen die Möglichkeit mittels, metexis, an ihnen Teil von ihnen, dem Göttlichen, selbst zu sein. Hegel, S. 196/197. - Das kann man sagen, wenn man die pythagoräischen Zahlen arithmetisch begreift; begreift man sie dagegen als Prinzipien, so fällt die „mimesis“ als Begriffsbestimmung seiner selbst weg, weil, um mit Pythagoras‘ Lehrer Thales zu sprechen – „Alles ist voll von Göttern!“ – man selbst an sich Teilhabe hat, göttlich ist, und es lediglich gilt, dieser nach von Gerechtfertigten, z. B. von Pythagoras, der selbst im Hades war, Verfertigtem zu genügen.) wirken soll, apodiktisch und postulierend. Er korrespondiert mit der geäußerten pythagoräischen Lebensanweisung: „Wer um Wißbegier und um wahre Gedanken sich müht und besonders dieses unter seinen SEELENVERMÖGEN in Übung gehalten hat, dem ergibt es sich ganz notwendig, Unsterbliches, Göttliches zu denken, wenn er Wahrheit ergreift, soweit es überhaupt menschlichen Wesen gestattet ist, der Unsterblichkeit teilhaftig zu werden, und davon läßt er kein Stück aus, da er doch immer das Göttliche pflegt und dem ihm innewohnenden Schutzgeist selbst in wohlgefügter Ordnung hält, und so ist er denn ausnehmend glücklich.“ 90b-c

Folgende pythagoräische Gedanken sind in zitierter Sentenz nachweisbar:

  • Wißbegier und wahre Gedanken das Mittel der Wissenschaftlichkeit soll die Seele reinigen und den wahren Gedanken, der ÄSTHETIK Gottes, öffnen: „wissenschaftliche TÄTIGKEIT ist die höchste Form der Reinigung und dient der Erlösung der Seele.“ (Döring: Der Begriff der KATHARSIS. In: ARCHIV für Geschichte und Philologie 1892, S. 505. - „Seit Döring glaubt man im Begriff der Katharsis den SCHLÜSSEL fürs Verständnis des Zusammenhangs von Religion und Wissenschaft zu besitzen, insbesondere die Mathematik, löse die Seele von der Bindung an den Körper und sei insofern die vornehmste Art der REINIGUNG, an der das Glück der Seele in diesem und im künftigen Leben hängt.“ Burkert, S. 144.)
  • Seelenvermögen in Übung halten

Die Übung wird durch aufgestellte Regeln leichter vollziehbar; Akousmata - wenn er die Wahrheit ergreift. Zekl verweist auf Theätetos 176a „Anähnlichung an den Gott“; die Aszendenz: Belohnung durch Aufrückung – den Flügeln ein Stück näher – an der Stufenleiter für ein wohlfeiles Leben. Das eigene Göttliche in wohlgefügter Ordnung halten der pythagoräische Grundgedanke des Aufbaus der Welt: „die Ordnung stiftende Zahl“ birgt für Harmonie; der Kosmos, d.i. ein Schmuckkästchen, korrespondiert mit der wohlgeordneten, will heißen, der sich am Göttlichen orientierenden Seele.

Herrschaftsprinzipien – eine Zusammenfassung

„Die Entstehung dieser WELTORDNUNG ist erzeugt worden aus dem Zusammentritt von Notwendigkeit und Vernunft. Indem dabei Vernunft über Notwendigkeit herrschte, so ist zu Anfang dieses All zusammengetreten.“ 48a

Dieser Grundgedanke in Platons „Timäus“ ist pythagoräischen Ursprungs.

Die Pythagoräer waren die nachweislich ersten griechischen Philosophen, die kein stoffliches Grundprinzip vermuteten, sondern auf verschiedene Wirkungsprinzipien setzten.
Platon differenziert in stoffliche Notwendigkeit und nichtstoffliche Vernunftfähigkeit, wobei die von Gott gegebenen Vorstellungen über ein Mögliches letztlich den SIEG über das Wirkliche erbringen sollen. Dennoch: Der Sieger ist philosophiegeschichtlich nicht auszumachen. Die Pythagoräer bleiben ambivalent: „Man sah im Pythagorismus das IDEAL einer Wissenschaft, die sich selber transzendiert zu göttlicher WEISHEIT hin, einer großen SYNTHESE, die das Faszinierende des Religiösen mit der SICHERHEIT exakten Wissens vereinen soll.“
Die Pythagoräer transzendierten die Wirklichkeit, um sie besser erfassen und beschreiben zu können. Platon dagegen setzte ein Ideal, um die Wirklichkeit zu bilden. Seine Erkenntnis ist Welterkenntnis mit Hilfe des Überkommenen, u.a. der Ideen der Pythagoräer, jedoch nicht zum Zwecke bloßer WISSENSCHAFTLICHKEIT, sondern vor allem, um die Welt einem ZWECK zu subsumieren.

pythagoraeisches_im_timaeos.txt · Zuletzt geändert: 2023/11/14 17:58 von Robert-Christian Knorr