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WEINGEDICHT

- alles, was dem Saufen und damit verbundenen Feiern und Lebensgenuß zuträgliche poetische FORM

Die Kadmische Tochter SEMELE gebar dem Jupiter einen berühmten Sohn, den fröhlichen BACCHUS, die Sterbliche den Unsterblichen, schreibt Philipp von Zesen in seiner deutschen MYTHOLOGIE von 1712. Andere nennen Bacchus einen babylonischen HERRSCHER, der, auf dem Krankenbett liegend, durch WEIN genaß, wodurch derselbe zu einem Gottähnlichen erhöht wurde. Aus einem Genesenden wird schnell ein Dankender; er huldigt dem Wein und lebt in der ZUKUNFT, zumal als Erster, fortan als den Göttern Näherer. Das ist vage; fest dagegen steht, daß Bacchus kein archetypisch-griechisches WORT ist, aber über die Linie Griechenland-ITALIEN zu UNS kam. Seitdem in DEUTSCHLAND Wein angebaut wird (Zeitenwende), verbinden wir den GENUß desselben mit Bacchus.
Es stellt sich nunmehr die Frage, inwiefern der Wein für POSTMODERNE Menschen noch diese dem bloßen Konsum übergreifende BEDEUTUNG besitzt, wie dies offensichtlich unseren Altvorderen zugeschrieben werden muß. Als historisches Bindeglied bietet sich eine Sammlung von Volksliedern an, die unter diesem Aspekt betrachtet werden sollen.
Man kann davon ausgehen, daß lyrische Texte des Volksgutes nicht über jene Überstrukturiertheit verfügen, die meist Texte von Einzelpersonen aufweisen. Der zumeist mündlich überlieferte TEXT erfährt Abweichungen vom Ursprungstext. Jeder Nutzer des Textes übernimmt, was er verstand oder für wichtig hielt, wandelte nach seinem Gutdünken und setzte hinzu, was die Mode gebot. Das ist legitim und ein ZEICHEN innerer Anteilnahme; der blasse SCHEIN eines unnahbaren und dem jeweiligen KÜNSTLER unverständlichen beziehungsweise untragbaren Textes wird durch den genialen Streich des Besserwissenden seinem PUBLIKUM mundgerecht verändert. Denn: Der volksnahe Lyriktext trägt eindeutigere Züge, will sich unmißverständlich äußern und weist dementsprechend kaum Überlagerungen auf; diese sind MÖGLICH, jedoch nicht ausschlaggebend für das VERSTÄNDNIS der aufgeführten Texte. Es leuchtet ein, daß eine analytische Herangehensweise sich nicht als sonderlich ergiebig erweisen dürfte. Die vorliegenden Texte sollen nicht kritisiert sein; im GEGENTEIL, es soll vielmehr um ein behutsames Verstehen gehen, nicht um Bemächtigung. Was FREMD ist, will nicht bemächtigt werden; das führte zu Verkrümmungen, birgt kein Verständnis, allenfalls Adaption oder wird zum Wirrwarr, aus dem nichts Gescheites werden kann. Im Folgenden sind also Texte erfaßt, die beim Interpreten (darauf hat sich der Verfasser geeinigt) Verständnis fanden. Es zählte das GEFÜHL! Gehen wir also davon aus, daß KOMMUNIKATION mit einem Text nicht eine rationale Deutung, sondern eine irrationale Beziehung benötigt, um dem BEGRIFF der VERSTÄNDIGUNG zu entsprechen. Dabei kann auf rationale Deutungsmuster nicht verzichtet werden; allein, sie gehorchen dem ZWECKe des Verstehens, nicht dem des Sich-Bemächtigens, was RATIONALITÄT mit sich bringt. Der Text wird beobachtet, als Gesamteindruck zu fassen versucht, um schließlich in einer darstellenden Vermittlung die gewünschten praktischen Interessen zu gegenwärtigen. Das zuweilen postulierte intersubjektive Beurteilungsschema soll außen vor bleiben, weil jeder Text sich nur SUBJEKTIV erschließen kann, auch wenn alles getan wurde, allgemeine Kommunikation zu erheischen.
Im Anfang der Betrachtungen der Weingedichte aus einer im Geiste und täglichem Stoßgebet fast verdrängten Zeit steht:

Sollt ich ein FELDHERR sein und Kriegsheere führen,
So wollt ich stracks auszieren
Das ganze Kriegesheer
Mit einem solchen Volk, das hold den Büchern war;

Bacchus und sein Kamerad
Ceres sollten uns wohl geben
Brot und Speis und Wein, zu leben,

Die Feder sollte mir anstatt der Schwerter dienen,
Wir wollten uns erkühnen,
In alle Welt zu gehn.
Mich deucht, ich wollte wohl mit diesem Volk bestehn…

aus: Philipp von Zesen; Großer Kriegshymnus

Der Wein erfrischt den GEIST. Wer des Geistes voll ist, lechzt nach keinem Totenbein. Dieser Grundgedanke soll am Anfang der Abhandlung stehen.

Beileibe ist in Zeiten, da der KRIEG als Probat der POLITIK galt, mitnichten von etwas anderem als martialischem Gedränge bei unauflösbaren Streitereien zu denken; nein, letztlich bleibt der WUNSCH unserer nichtkriegsbegeisterten INTELLIGENZ des Jahres 1618 nur als possibles Denkmuster verstattet und trägt vielleicht historische Früchte des Andersseins. Allein schon deshalb lohnt die Akklamation Zesens: Hinein in den Kriegsrat mit ihm!

Tra, ri, ro,
Zum Weine, zum Weine,
In meiner Mutter Keller
liegt guter Muskateller,
Jo, jo, jo,
Der Sommer, der ist do.

Wir wünschen dem Herrn
Ein goldnen Tisch,
Auf jeder Eck ein gebacknen Fisch,
Und mitten hinein
Drei Kannen voll Wein,
daß er dabei kann fröhlich sein…

aus: Philipp von Zesen; Das Sommertagslied

Der gute Wein liegt im kühlen Keller; er wird von der Mutter zum guten Essen heraufgeholt: man genießt ihn. Was wäre der Festtagsbraten ohne den wohl temparaturierten Würzwein? Es war bisweilen üblich, den Wein zu würzen, um dem Kitzel des Gaumens Genüge zu tun. Anders, aber nicht minder bedeutsam eine zweite Nutzanwendung des Weins: das Trinken. Wein als Durstlöscher und mithin Freudenspender in nicht unerheblichem Maße der MASSE denn dem Maße zu danken.
Eine feinere, geradezu sublime Angeratenheit des Weines will uns der BRÄUTIGAM aus „Hochzeitmittag“ kredenzen. Die Seele entzündet, will heißen: Sie zeigt die frohlockende und unterschwellige Liebesbereitschaft. Der Wein als ein Aphrodiasicum birgt jene LEIDENSCHAFT, die im Bräutigam zutage treten will und wird, denn dieser setzt sich ihr aus, will in vollen Zügen einhergehen, nimmt sich nicht zurück, was vielleicht die MODE geboten hätte, wäre es nicht der Hochzeitsmittag. Die Kühle des Kellers und die KRAFT der Entzündung (im Sinne von involvieren oder ins LEBEN drängen) korrespondieren als Entgegensetzungen, denn die Vermählung von Erfrischung und Entzündung verschmilzt beider SINN zu einem!
Wie ähnlich sich Gemütsverfassungen über Jahrhunderte sein können, soll ein kurzer Exkurs in die heutige Zeit zeigen:

Hohe Zeit (Tino Strempel: Für Dich. Altstadt Druck Rostock 1992.)

Nur ein wenig ANGST vielleicht
wenn an steilen
rauhen Ufern
wir unsere Blicke
vereinen,
die stillen, suchenden,
sich dann verklären
im Gleiten der Zeit
und kälter werden,
die wir doch brennen
wollen,
und verschlungen zu werden
wie
steile rauhe Ufer
vom stetig nehmenden
RHYTHMUS. -
Nur ein wenig Angst vielleicht
vor der erfüllten SEHNSUCHT.

Aus der Hohe Zeit des Lebens soll jetzt der Bogen geschlagen sein in die Niederungen des Alltäglichen. Nun muß dieser Alltäglichkeit nicht unbedingt die SUCHE nach dem langweiligen oder fast düsteren Konnotat folgen. Beileibe nicht: Das Alltägliche, es ist uns die HEIMAT! Aus der NATUR des Begriffes folgert das Wohlbefinden. Heimat, d.i. der Ort, der ein Heim gibt. Heim, d.i. die Stätte des eigentlichen Wohlbefindens. Wozu gäbe es sie ansonsten? Ist MENSCH mit der Stätte des Aufenthalts unzufrieden, wird er versuchen, nach dem Bilde seiner angenehmsten VORSTELLUNG zu verändern. Und wie wird er diesen umgestalteten Hort dann nennen? In der Ferne der ERINNERUNG aus der Zukunft wird es die Heimat, der man Tränen nachweint, der man immerfort GESTALT geben wollte und sich nicht zurücknimmt, bis daß es geschehen ist. Man vergäbe sich zuviel!

In „Des Knaben Wunderhorn“ spielt der BEGRIFF der Heimat eine zentrale ROLLE. In vielen Gedichten wird vom Wein als von einem an die Heimat Erinnernden oder die Heimat Assoziierenden gesprochen:

Den Wein, den wollen wir trinken,
Den wir gewohnet sein.
Erinnerung beim Wein

Nun gäbe dieser herausgerissene „unechte“ Distichon (für den „echten“ fehlt jeweils eine Hebung pro VERS) für sich genommen noch kein Indiz für aufgestellte Behauptung; allerdings muß der Gedichttitel berücksichtigt werden.
Im Nachwort ihrer Anthologie setzen ARNIM/BRENTANO einen weiteren Akzent für die Nutzanwendung des Weines als Synonym für Heimat beziehungsweise Vertrautes:

Frischauf, ihr Bursche! wandert mit,
Holt Bündel und Felleisen,
Doch eh wir mit dem letzten Schritt
Der Stadt den Rücken weisen,
Schenk, Mädchen, uns noch Kuß und Wein,
Drauf mit der Sonn zu reisen.

Liebesrose, Lied 18

Kuß und Wein sind gedankliche Präsuppositionen, um mit der Sonn reisen zu können; die Wanderburschen müssen, wie damals üblich, die Heimat verlassen und fordern das, was sie am meisten an diese erinnert. Erst dann haben sie GEWIßHEIT auf ein glückliches Wiedersehen.
Jeder Wein ist einzigartig und unnachahmlich. Das liegt geradezu in seinem Begriff. Deshalb auch kann sich ein aller Undeutlichkeit entbehrender AUSDRUCK wie „Heimat“ an das Denotat Wein hängen, um das Konnotat „Heimat“ zu bilden. Am Ausschließlichen läßt sich das Exemplarische festmachen.
Und diesen Heimatwein erst einmal als solchen begriffen zu haben gebiert die freudestrahlende Nutzanwendung, das Proficiat!:

GLORIA, ihr Brüder alle,
Proficiat, ihr Herrn!
Kapitel wollen wir halten
Bis zu dem Morgenstern.
Nun resonet in laudibus,
Wer übrigbleibt, bezahlen muß.

Trinklied 1500-1550

Es sei die für heutiges Sprach- und Sozialempfinden beträchtliche Einschränkung nicht vorenthalten, daß es im Lied allem Anschein nach um eine Männergesellschaft geht, was erwähnt, jedoch nicht weiter behandelt beziehungsweise beurteilt werden soll. Man saß beim Abendstern beieinander, gab dessen Bedeutung Sinn und trug diese bis in die Morgenstunden, um bei nämlichem, selbigem Morgenstern die Sitzung, das KAPITEL halten, zu beenden.

Gleiches leitet zur nächsten Beschreibungs- beziehungsweise Interpretationsebene über: Der Wein als geistliches Getränk.

Fällt im Himmel ein Festtag ein,
Speisen wir Forellen,
Peter geht in Keller nein,
Tut den Wein bestellen;

PAULUS schenkt den Wein in Krug.

Nun adje, du falsche WELT,
Du tust mich verdrießen,
Im Himmel mir es besser gfällt,
Wo alle Freuden fließen.
Aussicht in die EWIGKEIT

Peter, der Erstgenannte, geht voran, setzt die HANDLUNG in Gang. Wie bei den zwölf Aposteln. Peter, der Jünger Jesu, ist der wichtigste Apostel: „…ich [Jesus] will dir [Petrus] des Himmelreichs SCHLÜSSEL geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im HIMMEL gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmelreich los sein.“ (Mt. 16.19) Was Peter (zu deutsch: der Fels) beschließt zu tun, hat seine Rechtfertigung schon als vom SCHÖPFERsohn erteiltes Prärogativ bezogen, ist somit als moralische Handlung unangreifbar und will getan sein. Das wird bedeutsam in einem anderen Gedicht, worin uns der Wein in einem anderen Lichte vorgestellt wird:

Die Mörder fand er im Wirtshaus
An der Schifflade zu Zürich drauß,
Die Raben stießen die FENSTER ein
Und warfen um das Bier und Wein.

St. Meinrad

Das Er ist ein Peter, der die Mörder des heiligen Meinrad in einem Wirtshaus fand, bei Bier und Wein. Die Diskrepanz, die Entgegensetzung vom Wasser trinkenden Meinrad und den im Wirtshaus Wein trinkenden Mördern kann deutlicher nicht dargestellt sein. Meinrad verzichtet in der selbstgewählten BUßE auf die Labe der Welt -

Ein Born da unter Steinen quillet,
Da hat St. Meinrad den Durst gestillet.

-, die in FORM der Mörderräuber der distingierten Attributation eines Luxusgutes, in dem Falle des Weines, bedarf.

Die Verfänglichkeit des BÖSEn („Mitteilungen aus den Memoiren des Satan. Hg. von xxxxf.“-August 1825) einerseits, andererseits die urbane Freude am quillenden Leben („PHANTASIEn im Bremer Ratskeller“) waren bevorzugte Themen Wilhelm HAUFFs, der in der ersten Septemberwoche des Jahres 1826 Bremen und vor allem dessen Ratskeller einen ihn erquickenden aber auch anstrengenden Besuch abstattete. Die ANALOGIE zu dem soeben behandelten Gedicht von der Aussicht in die Ewigkeit läßt diesen kleinen Ausflug zu Hauff als einen zum Verwandten verstehen.
Vorliegendes WERK unterscheidet sich in einem Punkt jedoch wesentlich von den Gedichten in „Des Knaben Wunderhorn“: Es lebt von dem Charakter des phantasiebegabten INDIVIDUUMs! Zwar wird auch in den Volksliedweisen oftmals vom LEIDe des einzelnen gesungen; aber wer wollte bestreiten, daß sich über Jahrhunderte hinweg, wenigstens schließlich durch die Bearbeitung von Arnim/Brentano nicht Ecken und Kanten, die auf einen ARCHETYPUS hätten hindeuten können, abgeschliffen haben? Hauffs Geschichte dagegen besitzt eine SUBJEKTIVITÄT, die sich erst über die Kenntnis persönlicher RELATIONen zu Bremen und dem fein deuten und erleben lassen, was im Folgenden auch deshalb geschehen soll1. Nach bestandener zweiter theologischer PRÜFUNG nahm der Schwabe Hauff die seinen Landsleuten gemäße Magisterreise nach Norddeutschland auf, die ihn u.a. nach Bremen führte. Dort wartete alles schon auf den ‚dämonischen’ Verfasser der SATANsmemoiren mit Spannung und auch ein wenig Unbehagen. Allerdings setzt sich Hauff selbst eine andere Prämisse, als jener Erwartungshaltung der PATRIZIER zu entsprechen: 0 Gott, ich wollte ja lieber, daß sie mir auf der Treppe einige Sekunden fluchten, als daß sie sich von neun Uhr bis ein Uhr langweilten, wenn sie nur mit meinem Körper sich unterhielten und bei der Seele UMSONST anfragten, die einige Straßen weiter auf Unserer Lieben Frauen Kirchhof nachtwandelte. Nein, Hauff hält seinen Schalttag: …[wenn man] auch einmal auf ein paar Sekunden einkehrt im eigenen Gasthof [seiner]…Brust, sich bewirtet an der langen Table d’hote der Erinnerung und nachher die Rechnung ad notam schreibt… Genau diesen will Hauff nunmehr halten und was käme ihm rechter als die Aussicht, in der Stille der NACHT in einem berühmten Weinkeller diesem zu frönen?
So sitzt er denn, allein, im Keller, eingeschlossen, und trinkt den Römer leer. Die Gedanken explizieren chronologisch; beim vierten Glase wird die erste Lebensepoche greifbar: die Schulzeit! Allerdings betrachtet er nicht die Schulzeit in der Bedeutung des Begriffs, sondern in der Selbstbefragung als einem Indiz für die egalitäre Ausgangsposition seiner selbst mit seinen Altersgenossen. Er stellt sich nach frisch gewonnenem Doktorhut als JEDER dar, obwohl das ZIEL jeglicher SCHULE in gerade der Erwerbung jenes Titels „Doktor“ gipfeln muß, will man es mit der Schule auch in ihrem Sinn ernst meinen: „Und was sind wir denn Absonderliches geworden? Doktor? Das kann jeder werden, der VERNÜNFTIG genug ist, eine Dissertation zu schreiben. Beinahe bitter. Aber er trinkt weiter und überschreitet die Grenze, in der aus dem Bauchgenuß fein ein gewisser Nexus auf den Kopf verweist. Dort nehmen jetzt die GEISTER des Weines freien Lauf und treffen sich irgendwann in der Zirbeldrüse (galt damals als Sitz der Seele) wieder, um den GEIST zu erhellen. Die RATIO allerdings muß sich verabschieden. Nach dem sechsten Glas fragt der einsame Zecher nach der LIEBE, welche Antwort will dort, allein im Keller in einer fremden Stadt und angesichts der im RAUM schwebenden Ungewißheit eigenen Wollens andere gefunden sein als eine skeptische. Diese wandelt sich bald in den WAHN der EITELKEIT:
Ein berühmter Mensch möchte ich sein, nur daß sie von mir hörte und stolz zu sich sagte: ‚Der hat dich einst geliebt’; aber leider reden die Leute nicht von mir, höchstens wird man ihr morgen sagen: ‚Gestern nacht ist er wieder bis Mitternacht im Weinkeller gelegen!’
Daß vorliegende Szenerie nicht zur selbstmitleidigen Nabelschau verkümmert, liegt an dem ungeringen Maße Selbstironie, denn die aufgestellte These einer ANTONYMIE von Weinkeller und berühmt weckt eigentlich nur selbstenthebende Assoziationen, will Hauff nicht einen Schalttag halten, wie der in der ÖFFENTLICHKEIT viel gepriesene Großvater? Ergo, durch die Funktionalisierung des einsamen Trinkens wirkt Hauff nicht als dauerbrennender Aussäufer, als der er sich zumindest in diesem KONTEXT mittelfristig wähnt; nein, er betrachtet seinen Schalttag als notgedrungenes Aussteigen von den Qualen des KAUSALNEXUS, sozusagen auch als eine Möglichkeit, einmal auszuspannen, wenn die täglichen Dinge zur Verzweifelung gereichen. Schließlich kommen sie: die Geister des Kellers. Pünktlich, kurz nach Mitternacht. Sie nennen sich Apostel, tragen deren Namen und zum Teil auch deren Eigenschaften.

Es ist ungemein schwierig, aus den spärlichen charakterlichen Eigenschaften, die uns die BIBEL übermittelt, ein getreues Bild von jeder einzelnen PERSON zu zeichnen. Namentlich scheint dies nur bei Paulus, Petrus, Johannes und JUDAS möglich zu sein. Vielleicht hat Hauff deshalb diese Figuren besonders deutlich gezeichnet.

Da sind zuerst Jakobus und Matthäus, der Lange und der Kleine. Jakobus mit Hetzpeitsche und Jagdhorn und großer schwarzer Lockenperücke, der immer noch der alte ist. Matthäus als verissimus Evangelist bringt die Gesellschaft auf den ‘richtigen’ Weg: Er schellt Balthasar, der Kellermeister aus dem SCHLAF. Und schon kommen Judas und Andreas. Der eine gutmütig und wohlgenährt, der andere als ein zierlicher, feiner Herr; wohl der PHILOSOPH unter den Bacchanten. Ferner Philippus, mit weiter Unterlippe und rotausgeschlagenem Gesicht wirkt er mächtig und feist, unduldsam und einfach ungeschlacht. Der Verdacht liegt nahe, die „Zwölf Apostel“ zu Trägern verschiedenster Weinarten beziehungsweise zu Charakteren, die die verschiedenen Weinsorten auszeichnen, zu machen. Allerdings ist die Zeichnung der nicht vollständig vorgestellten Apostel (nur neun namentliche Erwähnungen) recht eintönig. Fast jeder ist „dick geworden“ oder zumindest schläfrig, aber auch stark und ungeduldig. Der Hauptakzent in der Beschreibung dieser Szenerie liegt demnach nur in ihr selbst; es sind nicht die Charaktere, die sich in der SZENE befinden, sondern: es ist eigentlich nur der eine Charakter des Weinliebens, der die Blüten des Besinnens treibt und ergötzt. Aber es soll trotz dieses Mangels ein wenig tiefer in den TEXT eingedrungen werden; alltäglich ist diese Nabelschau nicht und vielleicht sollte sie sogar anbefohlen sein!
Petrus, allgemein als führender Apostel auch hier anerkannt, eröffnet die Runde: Da wären wir ja…, da wären wir ja, wir junges, munteres Volk von 1700, und alle wohlbehalten wie sonst. Das ist ein leiser Appell zur ORDNUNG. Daß Petrus dem letzten Punkt gemäß zu handeln vorhat, erhellt der erste Dialog mit dem geradezu erstarrten Hauff. Petrus nämlich ist es, der zuerst das Wort an Hauff richtet: Wie wagst du es…, hieher zu kommen in dieser Stunde, graduiertes Menschenkind? Die Ernsthaftigkeit mit der diese Frage gestellt wird, assoziiert sofort den Verdacht der Monopolisierung des Kellers zugunsten der ‚Kellergeister’ selbst. Leider nimmt der ‚LIBERALe’ Bacchus Petrus das Wort, so daß nach Hauffs scharfer Erwiderung der Charakter „Petrus“ nicht weiter gezeichnet wird, was ansonsten vielleicht auch zur genaueren Charakterisierung einer Weinsorte hätte geführt haben können. Bacchus ist der weltgewandte Schäker, der in diesem Keller eine spezielle, doch keine besondere Rolle spielt, denn natürlich schäkert er mit dem deutschen Fräulein „Jungfer ROSE“, doch ist deren Zurückweisung mehr ihrem NATURELL zu schulden als der Verfänglichkeit des ansonsten siegesbewußten Bacchus, der sich jedoch erstaunlicherweise mit der augenscheinlichen Niederlage abgibt.
Petrus ist es, der nach Balthasars Erzählung von einer Begegnung mit dem TEUFEL (oder einem ihm Verfallenen) zuerst und nach dem eigentlichen bei jeder Begegnung mit einem Teufel nach der SEELE fragt. Petrus setzt Akzente und gibt die Richtung der Handlung an, verfolgt dann aber die angegebene Richtung nicht weiter. Er weiß auf Balthasars Irritation (Was schaute nach dem körperlichen Tode auf den toten KÖRPER? Antwort Petrus’: Deine Seele!) zu antworten. Petrus ist es auch, der empirisch-psychologisierend nach dem wütenden Abgang des Rolands dessen Seelenzustand beschreibt. Auch weiß er eine SENTENZ auf die zeitgenössischen oder vielleicht in ihrer Wirksamkeit schon fast vergilbten pietistischen Frömmler zu sagen: Es hat zu jeder Zeit Narren gegeben! Schließlich offenbart er musische Neigungen als er mit herrlichem, sonorem Sekund Andreas bei einem Ständchen begleitet.
Paulus ist munter und kommunikativ. Er trauert den schönen alten Zeiten hinterher, allerdings kann dies nur ironisch begriffen sein. Wie ist sonst die Frage der Apostel nach den Zuständen der Gegenwart zu begreifen? Wahrscheinlich jedoch ist, daß Paulus schon pro forma den alten Zeiten nachtrauert, wie dies gelegentlich bei älteren Herrschaften zu beobachten ist. Damit ist die FIGUR Paulus jedoch noch keinesfalls erschöpft. Als Paulus von der ungetrübten und ewigen Freude und Herrlichkeit durch den Genuß des Weines schwärmt möchte man meinen, daß dieses gleichsam der tiefere Sinn der alljährlichen Zusammenkunft im Ratskeller sein muß; allzu zentral steht diese euphorische ELOGE des nachbenannten Apostels in der Erzählung. Nach der EUPHORIE, dem Proficiat, komplettiert das manum de fabula Paulus dessen bizarres BILD. Daß es gerade der Weltreisende des Neuen Testaments sein mußte, den Geschichten nicht interessieren!? Hat er nicht sein ganzes Leben lang Geschichten erzählt und vertrieben? Ist er nicht selbst Geschichte genug? Ebenfalls vom DICHTER Hauff durch eine kräftigere Federführung gezeichnet: Judas. Judas, in altdeutschem Rot, mit an die Kopfhaut vermittels Eiweiß geklatschten Haaren, erscheint uns mit einem wohlgenährten Bäuchlein, ist gutmütig und ein Spiegelbild seiner äußeren altdeutschen Tracht: Er steht für die treue deutsche MINNE. Er haßt die VERÄNDERUNG und verschmäht die Menschen: Der Teufel hole sie all. Judas spricht das verbotene Wort aus. Wenn einer das darf, dann Jesu Verräter, wodurch Hauff einer Erwartungshaltung seiner Leser auch geflissentlich nachzukommen gedenkt. Judas bringt das GESPRÄCH wieder auf Hauff, bisweilen ausgelacht: …und die Apostel lachten den Judas aus und verhöhnten ihn. - Soll dieser Artikel schon werten? - Hauff fiel hier wohl einer soziopolitischen FLOSKEL des Jahres 1826 zum OPFER, denn im übrigen wird Judas keineswegs als verräterisches JUDENurbild gezeichnet, wie dies hätte geschehen können.
Man setzt den unterbrochenen Gesang fort, will zuweilen aber auch belehren. Seine Tanzaufforderung an die Jungfer Rose könnte aus seiner Sicht fast komisch gemeint sein, doch allzusehr spricht die Geradlinigkeit seines Charakters gegen eine Verhohnepiepelung eines altdeutschen Moralvorstellungen entsprechenden älteren Frauenzimmers: Ehrenfeste und allerschönste Jungfer Rose; dürfte ich mir…
Johannes dagegen schlägt aus einer schläfrigen und trübseligen Grundposition heraus melancholische und nostalgische Töne an. Er ist der eigentliche MORALIST. Johannes' entscheidender SATZ wird im Irrealis gehalten; vielleicht ein Affront gegenüber dem TON der GLAUBENSGEWIßHEIT in der APOKALYPSE, die Dopplung der Verneinung macht diesen allerdings zunichte: …diese Menschen wären auch wert, Wasser aus dem Rhein zu SAUFEN, statt des Rebenblutes seiner HÜGEL, wenn sie den Namen des Mannes vergessen hätten, der zuerst die Reben pflanzte im Rheingau. Es ist ein Proficiat! auf KARL den Großen.
Es läßt sich folgende Grundstimmung konstatieren: Die Szenerie, dort, tief unten in den Gewölben des Bremer Ratskellers, vermittelt eine AMBIVALENZ von wehmütiger, fast wehleidiger, Erinnerung an bereits Erlebtes und blanker Lebenslust für den Augenblick. Die Freude der nächtlichen Eskapade in die munter-wehmütige, permanente aber auch stockende Reminiszenz des Lebens wird nur von der Verschmähten der gähnenden Gesellschaft getrübt; sie verschmäht nun ihrerseits Hauff. Dessen EPIGRAMM jedoch lautet: Dem alten Rathaus und seinen Kellerhallen warf ich noch einen Kuß zu, drückte mich dann in die Ecke meines Wagens und ließ die Phantasien dieser Nacht noch einmal vor meinem Auge vorübergleiten. Kein Wort von der Geliebten.

Die Liebe und der Wein: Der Wanderer steht beizeiten auf. Er gürtet sich und sein Wams, streicht behutsam dem MÄDCHEN das schlafende Haupt und geht. Sie erwacht, vermißt und hat Tränen in den Augen. Es ist der Lauf der Welt. Manchmal aber bleibt er doch noch einen Tag, bevor er, dem Auftrage von Generationen gehorchend, weiter in der Welt nach VERVOLLKOMMNUNG seines Hand-Werks strebt. Es zog ihn dieses STREBEN in die Welt, auch die Not. Nur selten blieb ein Platz daheim. HOFFNUNG lag zumeist in der Ferne; vielleicht gab es dort Brot für ehrliche Arbeit. „Das Wandern ist des Müllers Lust“ und auch wohl ein ZWANG; schließlich konnte nur einer die Mühle erben und wer seiner Knechtschaft ledig sein wollte, der mußte wandern. Der Sinn des Wandermanns ist also das WEITER, nicht ein BLEIBEN. Er verließ ein trauriges und einsames HERZ, ein Herz, daß mit einer schönen Erinnerung, seltener mit Hoffnung weiter still und friedlich vor sich hinlebt; bis eines Tages der Liebste vielleicht wiederkehrt…

„Wohl heute noch und morgen , Da bleibe ich bei dir Wenn aber kömmt der dritte Tg, So muß ich fort von hier.“

Ein Haus tat sie sich bauen Von lauter grünem KLEE, Tat auf zum Himmel schauen Wohl nach dem Rosenschnee.

„Wann kömmst du aber wieder, Herzallerliebster mein, Und brichst die roten Rosen Und trinkst den kühlen Wein?“

Mit gelb Wachs tat sie’s decken Mit gelber LILIE rein, Daß sie sich könnt verstecken, Wenn’s regnet kühlen Wein.

„Wenn’s schneiet rote Rosen, Wenn’s regnet kühlen Wein; So lang sollst du noch harren, Herzallerliebste mein.“

Und als das Haus gebauet war, Trank sie den Herrgottswein; Ein Rosenkränzlein in der Hand Schlief sie darinnen ein.

Ging sie in Vaters Gärtelein, Legt nieder sich, schlief ein; Da träumet ihr ein Träumelein, Wie’s regnet kühlen Wein.

Der Knabe kehrt zurücke, Geht zu dem Garten ein, Trägt einen KRANZ von Rosen Und einen Becher Wein.

Und als sie da erwachte, Da war es lauter nichts; Da blühten wohl die Rosen Und blühten über sie.

Hat mit dem Fuß gestoßen Wohl an das Hügelein, Er fiel: da schneit es Rosen, Da regnet’s kühlen Wein.

Wo’s schneiet rote Rosen, da regnet’s Tränen drein

Drei Hebungen, meist jambischer Auftakt, doch lohnt hier, wie bei fast allen volksnahen Weisen eine nähere textstrukturelle UNTERSUCHUNG nicht, die später, an einem UHLAND-Gedicht verwickeltere Ergebnisse zeitigen wird. Das Interesse gilt den Sinnträgern, der textlichen SUBSTANZ, die sich um das Begriffspaar Liebe-Wein rankt. Der Wein tritt uns in viererlei Hinsicht entgegen: 1. Und trinkst den kühlen Wein? fragt das Mädchen.
Der gekühlte Wein aus dem Keller ist der beste, der, der dem heimkehrenden Geliebten kredenzt wird. Es ist derjenige Wein, den die Mutter zum Festtagsbraten aus dem Keller oder aus der nördlich gelegenen Speisekammer herbeiholt. Dieser ist das äußere Zeichen der Heimat, des sich in diesem Falle wieder zu Hause Fühlens. Im übertragenen Sinne ist es die Frage des Mädchens, wann er sie zu ehelichen gedenkt.
2. Wenn’s regnet kühlen Wein, antwortet der junge Mann.
Diese Antwort entbehrt nicht einer gewissen KOMIK. Zum einen kann man sich nicht vorstellen, daß der Davongehende ohne ein hoffnungsfrohes Wort von der Geliebten scheidet. Es ist der Tag nach dem Jüngsten Gericht, an dem den Erlösten und Erwählten der Himmel seine Pforten öffnet und der Labe, dem Fest der Erwählten, das Beste gibt: kühlen Wein. Zum anderen jedoch vertröstet er die Harrende auf den Sanktnimmerleinstag, denn im Grunde rechnet er nicht mit einer glücklichen VEREINIGUNG auf dieser Welt. Er geht, vielleicht findet er im Ungewissen irgendwo ein GLÜCK; aber wie wollte er es seiner Liebsten dann noch mitteilen?
3. Trank sie den Herrgottswein: Dieser christliche TERMINUS deutet auf die doppelte BEDEUTUNG des Abendmahls hin, bei dem Wein dahingehend gereicht wird, als daß REUE und Vergebung erbeten wird. Das Teilen des Gemeinsamen birgt eine Verbindung mit dem LEIB und dem Geiste des Herrn, der in diesem Falle auf den Geliebten verweist. Das Haus war gebauet und sie weihete es ihren Hoffnungen. Herrgottswein ist eine Hypertrophie eigener unerbittlicher Wünsche. Neben der christlichen Bedeutung verschob sich die ihrer subjektiven Erwartungshaltung entsprechende ins Blickfeld.
4. Trägt… einen Becher Wein (bei der Rückkehr)
Es ist doch geschehen. Das Unerwartete, es trat ein. Wer in den Händen zur Bewillkommnung einen Becher Wein trägt, will dieses auch mitteilen. Der Wunsch der Erwartenden ist in Erfüllung gegangen. Er kam zurück und trug die ZUKUNFT in ihr zusammengefallenes Traumhaus; der TRAUM kann WIRKLICHKEIT werden. Sie schaut zum Himmel hinauf und deckt ihr Traumhaus mit gelbem Wachs. Soll der Blick zum Himmel, mithin der Blick auf den am Dach verwendeten gelben Wachs, letztlich zur gewünschten GERECHTIGKEIT des heimkehrenden Geliebten führen, in dessen Händen die Jungfrau schließlich so weich und beugsam wie Wachs wird? Dieses Bild ist insgesamt zu bizarr, um den Intentionen des Schreibenden zu entsprechen; die WAHRHEIT mag irgendwo zwischen der einfachen Interpretation nach der Bedeutung des handwerklich verwendeten Wachses und dem vorigen liegen. Wir wissen es nicht und können dementsprechend lediglich vermuten.

Der nächste Betrachtungsschwerpunkt zielt auf die wirtschaftliche Bedeutung des Weines. Bremen spielte vor Zeiten eine nicht unbedeutende Rolle, sofern es um den Weinhandel ging. Über die Weser vollzog sich ein oftmals sehr beschwerlicher Transport des Rebensaftes:

Sie hatten einen Hölk mit fein genommen,
Darmit waren sie auf die Weser gekommen…

Die Seeräuber

(Hulk oder Holk: ein-, später dreimastiges Handels- und Kriegssegelschiff des ausgehenden Mittelalters)

Die Seeräuber des MITTELALTERs raubten demnach nicht nur GOLD und Edelsteine, Samt und Damast oder Gewürze, sondern auch Wein. Das ist ein vollkommen neuer Aspekt: Wein als Zahlungsmittel beziehungsweise Wertgegenstand. Er besaß seinen Wert vor allem dadurch, daß er als Herrengetränk galt: Eine Mahlzeit ohne Wein war ein prandium caninum d.i. die Herabsetzung auf die Stufe des Pöbels, was die Nahrungsaufnahme, die in höheren Ständen als RITUAL mehr und mehr behandelt wurde. Auch deshalb wurde er verfeinert mit fremdartigen Gewürzen; nur der arme Mann trank ihn rein und aus Kannen, nicht aus dem Faß im kühlen Keller. Heute dagegen wird Wein ohne Zusätze getrunken. Es gilt nicht mehr als vornehm, den Wein mit Gewürzen zu bereichern beziehungsweise bestimmte Geschmackseigenschaften hervorzukehren; vielleicht ein Indiz dafür, daß es eigentlich jedem vergönnt ist, die entsprechenden Gewürze zu beziehen.

An anderer Stelle steht nicht der Vertrieb, sondern die Herstellung, das Handwerk des Winzers im Vordergrund. In einem Trinklied von ca. 1500 wird die Produktion von Wein auch als Kunst betrachtet:

Und wer es nicht kann kauen,
Der geh auch nicht zum Wein…

Die KUNST des Anbauers besteht gerade darin, den Wein zu kauen; bei keiner anderen Anbaufrucht denn dem Wein ist der GESCHMACK so ausschlaggebend. Natürlich ist KORN nicht gleich Korn und Raps nicht gleich Raps; auch beim Honig spielt der charakteristische Geschmack mitunter keine unbedeutende Rolle, doch was ist das alles im Vergleich zu dem unermeßlichen REICHTUM, des Weinbuketts, innumera atque infinita esse? Mit diesem Reichtum kann sich keine andere landwirtschaftlich angebaute Frucht messen, und, das ist gerade der Charakter des Weines: In der Unermeßlichkeit gibt der Wein sich Form und Gestalt!

Der LYRIKER schafft den überstrukturierten Text. Im folgenden Gedicht eines Zeitgenossen Arnims und Brentanos, Ludwig Uhland, soll einmal eine andere Möglichkeit der INTERPRETATION gewagt sein, die sich hauptsächlich an Interferenzen und Strukturen im Text orientiert und nicht, wie bislang, der Deutung des Wortes Vorrang geben will.

Wein und Brot

  1. Solche Düfte sind mein Leben,
  2. Die verscheuchen all mein Leid;
  3. Blühen auf dem Berg die Reben,
  4. Blüht im Tale das Getreid.
  5. Donnern werden bald die Tennen,
  6. Bald die Mühlen rauschend gehn,
  7. Und wenn die sich müde rennen,
  8. Werden sich die Keltern drehn.
  9. Gute Wirtin vieler Zecher,
  10. So gefällt mir's, flink und frisch;
  11. Kommst du mit dem Wein im Becher,
  12. Liegt das Brot schon auf dem Tisch.

Das Gedicht zerfällt in drei Teile:

  1. 1-2 Vorgang als Exposition
  2. 3-8 Anschauung bäuerlichen Lebens
  3. 9-12 Zustandsbeschreibung nach getaner Arbeit.

Es ist ferner volksliedähnlich gestaltet. Uhland verwendet den dem VOLKSLIED typischen Endreim beziehungsweise Kreuzreim; der Kunstliedcharakter beschränkt sich formal auf den trochäischen Auftakt, der konsequent durchgehalten wird. Das lyrische ICH lebt dem Frohsinn; es will den Geruch des Lebens, der Labe einholen, es lebt auf, wenn der FRÜHLING mit dem Urbanstag, 25.Mai, den Reben die Blüten treibt, dem Bauern wie dem WINZER kommendes GLÜCK verkündet; dann, ja dann sind die ärgsten Ängste des Winters wirklich weggescheucht, dann spätestens hat der schon lange gegangene Osterspaziergang eine würdige Fortsetzung erfahren (PICTURA). Uhland benutzt eine Äquivalenz in den Versen 3 und 4, die er mit einer Kontradiktion umrahmt. Nach dem blühenden Berg erwartet der Leser geradezu ein blühendes Tal, auch, da der Blick von oben nach unten schweift; denn aller SEGEN kommt von oben. Das Blühen wird angeschaut, es setzt das lyrische Ich in Freiheit, ist somit die angeschaute FREIHEIT.
Nachdem man nun eine wohlgeordnete freiheitliche VORAUSSETZUNG für die tägliche NOT des Erwerbs besitzt, kann es an dem ohne WUT im Bauch, Ingrimm o.a. sein. Die Verse 5 bis 8 beschreiben die SITUATION des Ernteeinbringens in September (Vers 5) und Oktober (Vers 8). Uhland geht chronologisch vor, bricht aber in diesem Sinne mit STROPHE 1, als der Blick noch von den Reben zum Getreide ging; aber vielleicht verweilte er mit seiner Anschauung auf dem Korn und will erst später wieder den Wein betrachten? Dennoch, dieser Rhythmuswechsel kann als Schwäche bezeichnet werden, den im übrigen fließen die Verse weich und ohne Brüche wie Ellisionen oder Enjambements still vor sich hin. Nach Vers 8 ist die Arbeit getan. Jetzt wird gefeiert (Verse 10 und 11). Nach der Eingangseloge, die die weitere Betrachtung gleichsam als Vorgang initiierte, beschreibt Uhland einen ZUSTAND, der diese Anstrengungen (Vers 7) rechtfertigte (Subscriptio): die MANIFESTATION der Beschreibung der Erschwernis des Erwerbs: müde rennen, um den Saft aus der Traube zu ziehen.
Der dritte Teil des Gedichts beschreibt aus der Sicht des lyrischen Ichs - gleichsam in die Betrachtungsweise des Anfangs zurückkehrend - den Sinn der Anstrengungen des Jahres: das angenehme Leben, den Zustand des Verzehrens, das Einnehmen des Erarbeiteten. Der Wein fungiert hierin als Willkommenstrunk, als Einladung zu Tisch; das lyrische Ich wird in den Kreis der Arbeitenden aufgenommen, darf teilhaben am Erfolg der Arbeit. Der Text kehrt zur Exposition zurück; die Betrachtung ist nicht mehr intersubjektiv gefärbt, d.h., zwar empfunden, aber von einer ALLGEMEIN geltenden Position dargestellt, sondern: Das lyrische Ich erlebt durch direkten Bezug von einem Protagonisten beziehungsweise einer Protagonistin des Geschehens (Vers 11). Daß es eine Sie ist (Vers 9), bezeichnet eher einen mütterlichen, Heimat gebietenden, betonenden Aspekt des Ganzen, als es in dem in der LYRIK vorherrschenden Liebesaspekt Anklang finden will.
Und schließlich vollzieht sich das wirkliche Sichwohligfühlen am heimatlichen Tisch oder in der ERINNERUNG daran, die ein Gleiches schafft. Und in diesem Sinne, Proficiat, Ihr Herrn!

weingedicht.txt · Zuletzt geändert: 2023/10/31 07:49 von Robert-Christian Knorr