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wenderoman

WENDEROMAN

- als SUJET kann er ein Entwicklungsroman sein, getreu dem Muster aus dem sozialistischen REALISMUS: Held wächst in ihn bedrückenden Verhältnissen auf, dann ändern sich die Verhältnisse, er muß sich anpassen → entweder obsiegt er oder geht in den neuen Verhältnissen unter (Thomas Brussig: Helden wie wir; Uwe Tellkamp: Der Turm)
- oder: ein HELD wird mit den Verhältnissen nicht fertig, also ändert er sie (Sven Regener: Herr Lehmann)
- oder: es wird ein Zwischengeschlecht (a interregi rectis) beschrieben und die Lösung von Lebensfragen wird auf ein Unbestimmtes (auf später) verschoben
- oder: man karikiert alles und der Leser findet am Ende heraus, daß sich eigentlich gar nichts veränderte (Michael Klonovsky: Land der Wunder)
- oder: ohne innere Anteilnahme (SYMPATHETIE) beschreibt man in poetischer SPRACHE die Unvereinbarkeit des Gegensätzlichen (Günter Graß: Ein weites FELD)

"Herbstzeitlos" ist nichts von alldem. Das THEMA des Textes ist die DEUTSCHE Frage, allerdings nicht in einem politischen Kontext, sondern in einem anthropologischen. Die deutsche Frage lautet nämlich nicht, ob die deutschen Stämme sich in einem politischen STAAT zusammenfinden, sondern ob das Lebensmuster einer konzilianten Weltwahrnehmung sich gegenüber pragmatischen oder autoritären Konzepten behaupten kann.
Dieser deutschen Frage geht der Text anhand poetischer Bilder und Situationen im persönlichen Lebensumfeld eines männlichen und mehrerer weiblicher Helden nach.

Wende-Roman vs. Entwicklungsroman

Muß jedenfalls historisch umfaßt werden. Zeit und Ort: DDR. Für den Westen nicht zutreffend. In Osteuropa wurden die gesellschaftlichen Veränderungen um 1989 REVOLUTION oder „Perestroika“ genannt, in der DDR „Wende“. Was unterscheidet Revolution von Wende? Die Richtung der Bewegung. Eine Wende ist eine Kehre - in der DDR die Hinwendung zu einem anderen Teil Deutschlands, zur BRD, zudem die ERKENNTNIS, daß der westdeutsche Weg richtig, der ostdeutsche falsch gewesen; darum nur Teilaspekt der Revolution erfüllt bei Betrachtung einer deutschen Identität, wie's die BRD für sich in Anspruch nahm -, keine Umstülpung. Tempo und ORDNUNG der Dinge bleiben bestehen. Alles mit Fragezeichen zu versehen: War die BRD eine politische Alternative für die Menschen in der DDR?
Bei einer Revolution ändert sich alles, das Unterste wird zu oberst gekehrt. Also, Zeitraum neunziger Jahre. Vergleichbar mit Biedermeier-Roman, VORMÄRZ-Roman, sozialistischem Realismus? Ist der Wende-Roman eine zeitlich fixierbare Gattung? Gattung vielleicht zu hoch gegriffen? Eine Modeerscheinung wie breakdance oder Hiphop? Ist es 2001 schon zu spät für einen Wende-Roman?

Was muß drin stehen: (Merkmale)

  1. in der Exposition müssen die Dinge des Davor dargestellt werden;
  2. ein Roman benötigt einen poetischen Rahmen; der politische BEGRIFF WENDE muß den Kern markieren;
  3. Stilmittel sollten die des sozialistischen Realismus - keine Strauss-Ästhetik, Godot, Turrini, Grass - sein, daraus entsteht ein Problem, weil eben die Gefahr der Parodie besteht - die Form wird beibehalten, aber die Inhalte werden umgekehrt -, wie's auch in etlichen Wenderomanen geschah (Sonnenallee, Helden wie wir) oder es besteht die Gefahr fehlender Leichtigkeit (Nicolaikirche), wenn der Inhalt protuberant wird;
  4. explizite (gesell.) und implizite (subjektive) Fragestellungen werden durch die Virulenz der gestaltenden Kräfte forciert und einer Lösung zugeführt;
  5. die historischen Ereignisse vom Herbst '89 müssen Nennung finden, zumindest im poetischen Rahmen für den Leser erreichbar sein;
  6. die politischen Ereignisse müssen auf die Helden Auswirkungen haben.

Der Typus der Erzählsituation (auktorial, ich-Form oder personal) ist nebensächlich, denn entscheidend ist, daß in einer halbkreis- oder kreisförmig angelegten Ganzheit das Romanhafte zum Ausdruck kommt. Das bedeutet, der Wende-Roman muß die Ganzheit des Gesellschaftlichen erfassen, muß Verhältnisse beschreiben, indem verschiedene Erzählsituationen geschaffen werden, wodurch eine gegenseitige Verwandtschaft der Situationen deutlich wird. Warum? Weil der Wende-Roman zuvörderst gesellschaftliche Themen in den Mittelpunkt stellen muß, die aber im SUBJEKT einen Niederschlag fanden, dann finden. Ein Wende-Roman baut sich als Mischform auf. Einzelne Elemente extremer Darstellungssituationen sollen heuristisch wirken. Der Leser erkennt im Neben-und Miteinander typischer Gegebenheiten die triadische (drei Ebenen der ERZÄHLSITUATION; siehe oben) oder kreisförmige (dann mehr auf Entwicklung bzw. spiralförmige Anordnung gesetzt) Anordnung des Gesamtwerkes. Fraglich ist die pointierte Darstellung. Soll eine Krisensituation ins Zentrum gestellt werden? Wohl kaum, weil die Spannungsmomente sich notwendig darauf beziehen müssen, polare statt triadische Annäherung dann spezifisch wären, was einem ganzheitlichen Anspruch nicht genügte.

Also, alles zielt auf die Darstellung einer Lebensgeschichte ab. Die Handlungsdauer korreliert mit der ERZÄHLZEIT. Der Leser wird durch Jahrzehnte geschleppt… Dies scheint nahezuliegen, aber genau daß es eben nicht so ist, unterscheidet endgültig den Typus „Wende-Roman“ von herkömmlichen Entwicklungsromanen. Zwar spielen pointierte und zumeist knapp erzählte kritische Ereignisse eine entscheidende Rolle, aber der historische Zeitraum ist begrenzt. Wiewohl: Vielleicht neigt man als Wende-Roman-Schriftsteller gerade dadurch dazu, den knappen historischen Horizont durch auseinandergedehntes Erzählverhalten breiter zu machen. (Knapp ist der Zeitraum der eigentlichen Taten, die Ankündigung allerdings vollzog sich längerwärts.)
Die Schicksalskurve des Helden steht im Zusammenhang mit den historischen Ereignissen, sie fällt in eins, sie koinzidiert. Der Prozeß des allmählichen Reifens, der historische Ereignisse bestenfalls benutzt, um diesen Prozeß voranzutreiben (zu katalysieren), steht als Indiz auch für den Wende-Roman, allerdings besitzt er hier entscheidende Bedeutung. Eben eine Wende. Im Entwicklungsroman besitzen historische Ereignisse akzidentiellen Charakter, wichtiger ist das Subjekt. Im Wende-Roman verschwindet das Ich in der Allgemeinheit, zumindest tritt es nur im Schatten auf. Im Entwicklungs-Roman läuft alles auf die Entwicklung des Ichs hin zu einem Ideal ab, nicht auf das Verschwinden des Ichs in einem gesellschaftlichen NICHTS/ICHTS. (Muß noch genauer geprüft werden.) - Der CHARAKTER des Helden bleibt Substanz für die Handlung, aber das SCHICKSAL erfüllt sich außerhalb. Eine Verbindung zum Inneren wird punktuell erzielt. Unausschöpfbar bleibt die Gegensätzlichkeit von Wille und VORSTELLUNG. Das Außen kann dem Willen Ziele setzen, die aber niemals erreicht werden.
Ein Wende-Held kann dem Nexus nicht Paroli bieten: er vergeht, er ordnet sich unter oder ein. Ein Entwicklungs-Held besteht die Reifeprüfung.

Fasse ich es also zusammen: Der Wende-Roman ist eine Unterordnung des Entwicklungs-Romans. Das Politische besitzt eine größere BEDEUTUNG als das Persönliche. Beim Entwicklungs-Roman wird das Schicksal genommen, im Wende-Roman hingenommen. Allerdings besteht die MÖGLICHKEIT (für den Autoren) hier einen starken Charakter in ein Wende-Geflecht zu setzen, ihn sich bewähren zulassen. Doch den Beweis einer solchen Handhabung eines neuartigen poetischen Rahmens bleiben heutige SCHRIFTSTELLER bislang schuldig.

wenderoman.txt · Zuletzt geändert: 2022/11/23 06:40 von Robert-Christian Knorr