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enttaeuschung

ENTTÄUSCHUNG

„Nun, Das LEBEN bringt Enttäuschungen, sicher und alle Tage wieder, aber diese sind Brücken, Übergänge zum Menschsein.“
„Sie meinen, wir hangeln uns von Enttäuschung zu Enttäuschung?“
„Sind Sie überrascht, daß ich kein Feind bin?“
„Nein!“ beeilte sich Edgar zu sagen. „Nein, nein. Reden Sie nur fort!“
Und Schnarrenbeck redete von den Brücken, die den Menschen zielsicher über Erlebnisse hinweghülfen, schien sich geradezu über das Geländer zu beugen, um zu schauen, was im Tale sprudelte, lebte, plätscherte, wie auch immer. Edgar hörte zu und aller widerlicher Geruch vermoderter Bücherweisheit zerstiebte; bereitet war eine Spielfläche für beider Gedanken, die nur aus dem endlosen Irgendwo ihrer Hirne entlassen werden mußten und hier in diesem RAUM zum beiderseitig akzeptablen Nirgendwo wurden:
„Der PROZEß des Suchens ist das eigentlich Spannende gegenüber einem ennuyanten Er-gebnis! - Das heißt natürlich nicht, daß man nicht erst einmal laufen lernen muß. Sie werden von mir nicht hören, daß es dem Empfinden allein überlassen bleibt, den rechten Weg einzuschlagen. Einige Methoden muß man schon in petto haben, um überhaupt in die Tiefe schauen zu können“, sprudelte es aus dem Professor. Dann schwieg er und beide dachten an Lilith, der eine in dem Wissen, ein Symbol der Schönheit und Vollkommenheit im Rhythmus des Lebens gesehen zu haben; der andere, weil er hoffte. Schnarrenbeck hob seinen Krug und prostete Edgar zu. Sie tranken aus. Edgar schloß die Augen, erneut, und spürte das Vibrieren des Parketts. Die Jazzmusiker sielten sich im rhythmischen Wiederkäuen eines Riffs, den sie variierend, leise und beharrlich im Raum verteilten. Schnarrenbeck kehrte zurück und seine Stimme zerstörte das Vibrato. Er sprach wie üblich näselnd-diphthongal. Thema war die Liebe, die er einzufangen und zu bestimmen suchte.
Edgar hörte, wie der Professor vom gaukelnden Prozeß der konstitutiven LIEBE sprach, daß sie nur im praktischen Handeln zu erfüllen sei und sah Schnarrenbeck mit dem Finger drohen, als er in dialektischer Verschränkung das NICHTS als Schrecknis mit dem Samen des Darauf- und Darumseins affizierte: Wie kann man leben, wenn man nur den Nutzen im AUGE hat? fragte er. Also sei es zwangsläufig, durch die Liebe den entscheidenden Übergang zum wahren Menschsein zu wagen.
Edgar fragte sich, durch welche unwegsamen Täler sein Lehrer gegangen sein mußte. Es lag ihm auf der Zunge, einen heiklen Gedanken laut auszusprechen, von dem er wußte, daß damit WAHRHEIT unverkleidet zum Gesprächsende führen mußte. Diese Wahrheit rankte sich um den BEGRIFF der EINSAMKEIT. Edgar spürte in aller Deutlichkeit die fehlende Befreiung vom ihrem eisenklammernden Griff, aus der der Professor nicht entflohen war und deshalb ein Nichts konzedierte, das ihm zwar als Befreiung erschien und doch nur unverhallte Einsamkeit aussprach. Er war FREI und einsam.
„Sie haben nicht aufgegeben, Schnarrenbeck.“
„Kennen Sie den armen Kerl, der glaubte, unser Ich sei eine Illusion, unrettbar gar, und wir existierten nur in der VORSTELLUNG, ein Ich zu sein? Und so seien wir aufgefordert zu suchen, unser anderes Ich zu suchen unter den vielen, die wir neugierig, ja gierig als ein Unsergleichen betrachten und aufsaugen. Aufsaugen, Edgar. Wir sind Menschenfresser, wir Gebildeten. Wir brauchen Menschen, ihre Phantasie, ihren Geist, um nicht in den ewig gleichen Bahnen unseren Frondienst für die Allgemeinheit zu fristen; wir brauchen das täglich Neue, einen Gedanken wenigstens, der kommen mag, durch wen auch immer. Aber den brauchen wir; wir fressen also Menschen, nutzen ihre PHANTASIE aus, ihre Gedanken, ihre Fehler, an denen wir uns aufgeilen… - Edgar, ich will Sie auffordern, aus dem Sumpf aufzutauchen und an die Menschen in Ihrem Tun zu denken, nicht länger politisch oder ästhetisch nach Allgemeinphrasen zu suchen, die als tägliches Bonmot Ihrem GEIST entquillen.“
ICH begreife, worauf Sie hinauswollen. Sie wollen, daß ich Freiheit selbständig erringe.“
„Darauf läuft jede ernstgemeinte Pädagogik hinaus.“
Sie sprachen noch eine ganze Weile so fort. Edgar entwickelte seine Thesen über die Aufgabe des modernen Adels, sprach vom spezialisierten Verstande, der angesichts des Zwanges in der modernen Gesellschaft, sich auf einen besonderen Sachverhalt speziali-sieren zu müssen, ein totes Begriffli würde, wobei CHARAKTER und Zusammenhang verloren gingen. Dies verband er mit seinem Lieblingsgedanken, daß man nämlich den Nominativ dazu benutzte, mit Vorliebe dem Unsagbaren einen Namen zu verpassen, den man sich dann um so leichter aneignen könne, eine Aneignung sei das, die ihren SINN im Nutzen habe, nicht in der Herrschaft über den eigenen Gedanken. Selbst die Mitmenschen würden deshalb zu Dingen und interessierten nur so lange, wie sich der postmoderne Mensch sie in einem Nutzzusammenhang vorstellen könnte. Zum Schluß seiner Antwort auf Schnarrenbecks Vorrede fragte er:
„Kennen Sie nicht auch diese Leute, die sagen: ‚Ich muß nicht wissen, wie es in meinem Auto aussieht, es soll mich ans Ziel bringen?’“ Edgar meinte weiterhin, die gewohnheitsmäßige Handhabung dieses Prinzips zerstöre die Bindung zur Welt und allmählich würden alle Angelegenheiten nur noch nach ihrem Nutzsinn beurteilt. Also sei dieses Prinzip der Nutzanwendung falsch und man müsse ein neues worten, eines, das nicht nach dem Gewinn frage! Schnarrenbeck hörte zu und runzelte die Stirn.
„Gruftgesang, junger Mann“, antwortete er nach längerem Nachdenken. Nun wollte Edgar zeitgemäßer argumentieren und sprach über die neueste politische Bewegung, die es sich in selbstvergeßner Absicht auf die Stirn geschrieben hatte, die Welt unzerstört zu hinterlassen. Seine Stimme klang merkwürdig abgegriffen.
„Sie müssen zustimmen, daß Besitzstandswahrung einen Grundpfeiler der westlichen DEMOKRATIE bildet. Und wenn Sie dies zugegeben haben, dann haben wir die Menschenverachtung dieses Systems auf der Hand liegen. Das ist nämlich eine Vorbedingung des Rechtsstaates, Besitz zu haben. Mehr Besitz ist dann mehr Recht. RECHT ist bezahlbar und kein Gemeingut aller. FREIHEIT ist auf wenige beschränkt, die es sich leisten können, dem Recht zu gehorchen, weil es auf ihrer Seite ist. Sie haben es so eingerichtet.“
Und, als ob er seine eigenen Folgerungen nicht ernst nähme, polterte Edgar fort, nannte die Demokratie eine Farce und grinste wissend, denn schließlich genau das wollte er nämlich sagen. Er forderte von Schnarrenbeck, zuzugeben, daß die Menschen ungleich seien, daß sich deshalb eine Gleichung GLEICHHEIT gleich GERECHTIGKEIT verböte und daß schließlich ein STAAT mit unterschiedlicher Verantwortlichkeit und PFLICHT auch zu einer maßgerechten Verteilung der politischen Macht führen müsse, meinte man es mit der Forderung nach Gerechtigkeit ernst. Und weil er sich seinem Lehrer methodisch verpflichtet fühlte, faßte Edgar seine Argumentation in einem kurzen Schlußwort zusammen:
„Wie kann man einem Verbrecher oder Dummkopf die gleichen Rechte geben wie einem um das Gemeinwohl verdienten Menschen? Vor GOTT sind wir alle gleich, doch in der politischen WIRKLICHKEIT dürfen wir niemals zulassen, daß alle über einen Kamm geschoren werden: Man muß die Stimmen wägen und nicht zählen, sagte einer ihrer berühmten Vorgänger zurecht!“
Der kratzte sich am Kinn: „Vielleicht rührt unsere Unzufriedenheit daher, daß wir Geist-reichen von Dingen eingeschränkt werden, denen wir zumeist keine Achtung entgegenbringen. Ich spreche von den alten Bildern in unserem Kopf, die es uns verbieten, dagegen Widerspruch zu wagen. Wir kriechen vor der urbanen Machtentfaltung der PLEBS selbstergeben im Staub und wagen nur theoretisch Einspruch, den dann auch noch verklausuliert, damit die’s nit verstehen. Seien Sie ehrlich, mein Junge, auch Sie tun das letztlich! Also verkümmert der WILLE zur MACHT..“
„Sprechen Sie weiter, Schnarrenbeck! Jetzt spricht Ihr Herz.“
„Geben Sie mir ZEIT, junger MANN! Die kleinen grauen Zellen arbeiten nicht so schnell in lange nicht benutzten Bahnen. Da ist Kalk aus dem Wege zu räumen.“
„Ja, ich verstehe. Aber nicht nur die Jungen müssen die Karre aus dem Dreck ziehen.“
„Ja doch, Edgar, ich verstehe Ihre Aversionen, aber eine Antwort geben Sie nicht. So frage ich mich immer noch, wie Sie die Besten ausmachen wollen und wenn Sie die ausgemacht haben, wie Sie feststellen wollen, ob die Erwählten es auch noch Jahre später sind! Charismatische Herrschaft sinkt und fällt mit dem Glauben der Jünger an ihre Führer, nicht wahr? Wie aber erweisen Ihre Besten besondere Qualitäten?“
„Die Suche ist die Antwort, Schnarrenbeck. Wer einmal in diesen Kreis gewählt wurde, hat die Aufgabe der Suche.“
„Durch wen gewählt wurde?“
„Den Anfang setzt das VOLK durch WAHL, dann bestimmt sich dieses Gremium jedes JAHR selbst, erwählt oder wählt ab, doch sollte hier nur eine große Mehrheit abwählen können. Wichtig ist, daß keine Patriarchalität entsteht, denn die ist jedenfalls schlechter als Erwähltheit. So genau weiß ich das alles noch nicht. Die Sache muß sich entwickeln und nicht von vornherein bestimmt werden. Vielleicht könnte man plebiszitäre Elemente einfügen, beispielsweise das Volk alle fünf Jahre Tribunen in diesen Senat wählen lassen.“
„Das wird zu Flügelkämpfen, Rechtsunsicherheit und letztlich wahrscheinlich zu einem Führerstaat führen. Es wird nicht einfach sein, Kompetenzen genau abzugrenzen.“
„Lassen Sie uns doch erst einmal anfangen! Sie werden sehen, wie dynamisch sich alles entwickelt.“
„Uns?“
„Irgendwer muß anfangen.“
„Ach, Edgar, Edgar, Edgar!“
Sie lachten. Sie waren ein GESPRÄCH. Sie waren auf dem Wege. Es ging nicht um Entscheidungen, sondern um Realisation ihrer Geister: Sie wollten einander austauschen und sich emporschwingen zu neuen Perspektiven.
„Warum eigentlich wollen Sie etwas ändern?“ fragte Schnarrenbeck, ein neues Schwarz-bier auf den Tisch stellend.
„Ich denke, daß sich der MENSCH ganz ausprägen sollte. Ich habe immer die Leute gehaßt, die das Gute definieren und ihr Handeln danach abstimmen. Alle definierten Zwecke sperren den Menschen in ein SYSTEM. Das ist es nicht, was ich will, was ich denke, was uns ausmacht. Was und wer wir wirklich sind, das bleibt nur zu ahnen. Ich hoffe, daß wir zurückfinden und in der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse nicht unseren letzten SINN sehen. - Sie werden verstehen, daß ich genau an dieser Stelle ADEL einfordere und nicht das Loblied des toleranten und unaffektierten Mittelmaßes singe, der sich gegenüber Rauchern und Übergewichtigen maßlos ereifern kann, doch in Weltanschauungsfragen völlige Indifferenz zeigt.“
Wenig später: Einige Junggebliebene am Tresen schrieen durcheinander, forderten Nach-schub für trockene Kehlen und griffen lustvoll nach vorübergehenden Frauen. Schnarrenbeck lachte sein distinguiert-unterkühltes und trotzdem lautstarkes Lachen. Die Junggebliebenen begriffen dieses Lachen als Angriff gegen die von ihnen beanspruchte Vorherrschaft in diesen Räumlichkeiten. Ein etwa Vierzigjähriger rief etwas Aggressives zu Edgar und Schnarrenbeck hinüber.
Schnarrenbeck stand auf und ging zum Tresen, um zwei neue Schwarzbier zu holen. Dann bezahlte er die Rechnung der Junggebliebenen. Das machte offensichtlich Eindruck. Der lauteste Schreihals wendete sich ab. Schnarrenbeck kam zurück.
„Ich kenne diese Leute. Sie suchen ihren Samstagabend-Streit, glauben Sie mir. Vielleicht wäre es besser, wenn wir gingen“, sagte Edgar halblaut. Schnarrenbeck hatte es nicht gehört.
„Ihr Rückgriff geht weit zurück; Sie denken, daß Sie Ihre Gedanken weihen, indem Sie die auf ältere stellen. Diese hatten ihre Zeit, sind längst zu Randnotizen in der Geschichte geworden, nicht wert, wieder zu Leben zu werden. Es geht weiter! Der Mensch wird nicht hinter den letzten Menschen zurückgehen!“
Schnarrenbeck schüttelte mit dem Kopf. Doch ein Blick ins erhitzte GEMÜT seines Gesprächspartners zeigte ihm, daß hier noch Emotionen vielleicht auch ihm den BODEN öffnen könnten, um längst versiegten Wassern neuen Raum zu verschaffen. Er fühlte sich angestrengt von den trotzigen Erwiderungen seines ehemaligen Schülers.
Inzwischen hatten sich die Krakeeler am Tresen vom mutigen Verhalten Schnarrenbecks erholt und waren übereingekommen, sich nichts von diesem „Steuergeldfresser“ sagen zu lassen. Zu dritt standen sie nun vor Edgar und Schnarrenbeck, eine kräftige fünfunddreißigjährige FRAU, ein sportlicher Vierzigjähriger und ein hagerer Mann unbestimmbaren Alters. Sie musterten ihre Gegner. Edgar wollte gehen, doch Schnarrenbeck zog ihn am Ärmel. Edgar mußte bleiben.

enttaeuschung.txt · Zuletzt geändert: 2024/03/06 09:10 von Robert-Christian Knorr