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STAMMBUCH

Schiller an einen unbekannten Freund

1.Ist einer KRANK und ruhet gleich
2.im Bette das von Golde reich
3.recht fürstlich ist gezieret,
4.so haßet er doch solche Pracht
5.auch so daß er die ganze Nacht
6.ein kläglich Leben führet
7.und zählet jeden Glockenschlag,
8.und seufzet nach dem lieben Tag.

4.3.1777

Aussagen über den Autor

Der Autor Friedrich Schiller verlebte seine KINDHEIT in kleinbürgerlicher Enge unter dem strengen Regiment seines autoritären Vaters und seiner pietistischen Mutter im Südwesten Deutschlands. Der Vater erhoffte sich Besserung durch den ADEL, durch feudal geleitete Veredelung der unteren Volksschichten. Dieses BEGEHREN muß sich dem jungen Menschen tief eingeprägt haben. Auf BEFEHL des Landesherrn (HERZOG Karl Eugen) wurde er Zögling der militärischen Pflanzschule und studierte anfangs JURA, später Medizin. Das Studium wurde von ihm 1780 angeschlossen, ein JAHR nach den anderen Zöglingen seines Matrikels, denn KARL EUGEN hatte dem Eleven ein zusätzliches Jahr verordnet. Ein Auszug aus seinem ZEUGNIS könnte einen Grund dieses „Sitzenbleibens“ liefern:
„Gaben: mittelmäßig; Aufführung: gleichgültig; FLEIß: seinen Kräften angemessen.“ Als Karlsschüler las unser Autor die Werke Klopstocks, Lessings, Goethes, Shakespeares und Rousseaus und wurde nachhaltig durch seinen LEHRER ABEL geprägt. Dennoch oder gerade deshalb ließen die schulischen Leistungen immer mehr nach durch häufige Krankheiten, die er weidlich dazu nutzte, seine geliebten Autoren zu lesen.
Der Initiator dieser Lesefreudigkeit, Abel, ist als Vertreter einer Genielehre bekannt. Er verband diese IDEE mit der staatspolitischen der Republik - zumindest einer TENDENZ dahingehend - und bezeichnete das GENIE als ein Produkt von NATUR und ERZIEHUNG in der erzeugenden Hinsicht und gab dem Genie gleichsam die MAXIME auf, für menschenwürdige Verhältnisse zu kämpfen. Abel bestärkte das NATURELL unseres Eleven in dieser Hinsicht, verstärkte den HAß auf unmenschliche Verhältnisse und setzte in den jungen Menschen gleichsam die Aufgabe, nach bestem WISSEN und Gewissen Abhilfe zu schaffen.
Erste poetische Gehversuche sind auf das Jahr 1776 zurückzuführen, dennoch bleiben sie fürs erste unwesentlich; sie galten ihm zur Bestimmung der eigenen PERSON, nicht als literarische Produkte.
Seine erste lateinisch geschriebene Dissertation philosophia physiologiae wurde abgelehnt. Begründung: Zweimal habe ich diese weitläufige und ermüdende Abhandlung gelesen, den SINN des Verfassers aber nicht erraten können… (NA,Bd.21,S.115. )

Textanalyse

Beim vorliegenden TEXT handelt es sich um ein Stammbuchblatteintrag. Er ist also, selbst für einen lyrischen Text, recht kurz. Was können wir von diesem Text erwarten?
Welche Kontingenzbeziehungen, welches Maß an Geschlossenheit und welche KOHÄRENZ simultaner Bedeutungen zum Thema - das wir unschwer als Gelegenheitsgedicht zur Tröstung eines Kranken ausmachen können - sind vom Text zu erwarten bzw. nachweisbar?
Dieses Trostspenden ist im Grunde genommen das Thema des Gedichts. Zwar benutzt der Autor einige sprachliche Umwege, die noch näher zu erläutern sein werden, doch letztlich findet das GEDICHT seinen thematischen Fokus im Spenden von TROST, wahrscheinlich gegenüber einem FREUND, der in gesundheitliche Bedrängnis geriet. Wir können das nur mutmaßen, wissen es nicht. Die Geschlossenheit ist somit, zwar durch einige tendenziös kritische Untertöne, die stilistisch gesehen Volksliedcharakter tragen (vier Hebungen, einfaches Reimschema) gestört, aber über diese Untertöne kommt der Autor zum Eigentlichen, zur Trostvermittlung, zurück, weshalb die Geschlossenheit des Gedicht durchaus als gewährleistet bezeichnet werden kann.
Es ist das Thema des Gedichts, über den TOD - der in der FORM seines schwächlicheren Bruders, der KRANKHEIT, auftritt - hinaus HOFFNUNG zu geben. Vielleicht spricht sich der Autor als Betroffener aus, weiß, wovon er spricht und auch, wovon er im speziellen Falle SPRECHEN muß, um dem Kranken ZUKUNFT aufzuzeigen. Wieso sich dem Autor an den Gedanken des Krankenbettes das BILD des Goldes hängt, er sich gleichsam an dieser KONNOTATION berauscht und ohne diese Querverbindung sicherlich keine Gelegenheit gefunden hätte, diese Verse zu schreiben, mag in seiner BIOGRAPHIE, die ich bemühte bis zu dem Zeitpunkt der Niederschrift des Gedichts anzuzeigen, liegen. Es scheint dennoch ein klarer GEIST hinter dem Vorhang der düsteren Form hervor. Die Wolken können davongeblasen sein; die ERHEBUNG zu den lichten Höhn der Hoffnung setzte schon ein; die Verse fließen leicht und ohne Brechung, ohne Brechung, die dem Zuhörenden stolpern machte, denn (3) und (6) bilden formal gesehen einen erheblichen Bruch, der sich schon aus dem Wiederholen der Senkung ergibt. Folgte bis dahin jeder Senkung eine Hebung, so folgen nunmehr zwei Senkungen aufeinander. Ahnt man hier den Hang des späteren Klassikers zum daktylischen JAMBUS? Sicher nicht. Der Autor hat zwar in seinen späteren Werken oftmals diesen VERS gewählt, doch beileibe nicht aus dieser jugendlichen Marotte heraus, denn er schämte sich in späteren Jahren sehr seiner „Jugendsünden“.
Mit Jürgen Schulte (Einführung in die Literaturinterpretation. Stuttgart (Metzler 217) 1990, S. 138.) können wir von einem kürzeren lyrischen Text ausgehen und eine hohe Komplexität der Bedeutungsrelationen und Kontextbezüge vermuten. Suchen wir sprachliche Signifikanten, so können wir in einer syntagmatischen Bedeutungsreferenz in verschiedenen Ebenen ein Beispiel nennen: krank (l)- Bette (2) - fürstlich gezieret (3) - Pracht (4) - kläglich (6) - seufzet (8). Schon diese Strukturelemente deuten auf etwas Erzähltes hin, das auf verschiedenen Ebenen spielt und wie folgt gedeutet werden könnte. Das Ausgangswort „krank“ zieht in der Denotation das Wort „Bette“ nach sich. Damit konnotiert sich „kläglich“ und „seufzet“, allerdings nicht „Pracht“ und „fürstlich“. Und eben doch, denn dieses ist gerade das Besondere an diesen Versen, wie wir später SEHEN werden. Wichtig ist, daß über die Prämisse „krank“ etwas im Folgenden erzählt wird, das schließlich dort endet, wo der Leser den BEGRIFF „krank“ auch manifestiert erwartet, bei „kläglich“ und „seufzet“ etc. Man könnte strukturell also von einem einschließendem Aufbau sprechen. Die semantischen Relationen liegen vor Augen: krank - Bett -… - kläglich Leben - … - seufzet.

Das Gerüst der STROPHE bilden diese Begriffe, sie bestimmen demnach auch den Charakter der Verse. Die ORDNUNG der Textelemente auf den einzelnen Ebenen ist ebenso gewährleistet:
krank (l) - das WAS
Bette (2) - das WO(HIN)
fürstlich (3) - das Besondere des Was
haßet Pracht (4) - das Besondere des Wo(hin)
kläglich Leben (6) - das ALLGEMEINe des Besonderen
zählet Glockenschlag (7) - das Besondere im Allgemeinen.

Aufgrund dieser KLIMAX, dieses steigerungstechnischen Aufbaus läßt sich die Struktur des Gedichts in der nämlichen Weise bestimmen. Fragen wir nach den kontrapunktisch einander entgegengestellten Themen, so läßt sich die ANTINOMIE, der textganze LOGOS der OPPOSITION im Gegensatzpaar
Nacht (5) - Tag (8) oder auch krank (1), Bette (2) - Pracht (4) erkennen. Der Schlußakkord ist elegisch, auf HARMONIE gehoffte Konkretisierung, der liebe Tag (8). Der Text ist kontiguin, denn partielle Übereinstimmungen von Textelementen sind als Synonyme auf verschiedenen Bedeutungsebenen nachweisbar, so z.B. (2) im Bette, das von Golde reich (6) ein kläglich Leben führet. „Bette“ steht für die Bestimmung des Verurteilten, dort sein LEBEN zu fristen, GOLD für das VERLANGEN, mit dem man das Verlangen stillen könnte. Das Gold auch ist die Verbindung zwischen diesen Versen, denn auch vor dem Reichen macht das Kranksein nicht halt. Die Verse (2) und (6) bilden inhaltlich, nicht lautlich, eine paradigmatische Assonanz. Das ist eine Parallelität im Aufbau der Verse.
Oder
(4) so haßet er doch solche Pracht
(8) und seufzet nach dem lieben Tag
Wieder kann man den gleichen Aufbau der Strophe auf verschiedenen Bedeutungsebenen verfolgen. Dem unbetonten Auftakt folgt strukturell das entscheidene Tätigkeitswort mit negativer Konnotation, die am Ende des Verses durch Sinnumkehrung an ein hoffnungsreicheres NOMEN gehängt wird (Pracht bzw. lieber Tag). Schon an dieser Stelle läßt sich vom Autor sagen, daß er große Freude an Gegensätzen besitzen muß, dialektisches Augenmaß bei der Analyse bzw. WAHRNEHMUNG von Sachverhalten beweist, in Gegensätzen (coincidentia oppositorum) wahrnimmt.
Der Autor hat in seinem Gedicht die Hoffnung auf dem Krankenbett in den Darstellungszusammenhang gestellt. Er kombiniert unterschiedliche, geradezu entgegengestzte Konnotationen zu syntagmatischen Ordnungen, verschiebt die Wahrnehmung einer Gelegenheit aus der Gegensätzlichkeit auf die Achse der Kombination von GEGENSATZpaaren. Soviel zur Struktur des Gedichts.

Metrik

Der Auftakt ist durchgehend jambisch bei Achtsilbigkeit. Diese acht Silben zeigen den Volksliedcharakter an, denn wir können vier Hebungen feststellen. Sie stehen für den schlichten AUSDRUCK, für die elementarste MÖGLICHKEIT des Reims, des Knittelverses.
Präzise FORM: aabccbdd (Schweifreim mit abschließendem Haufenreim) Die Strophe besitzt bis auf das Reimpaar in (3) und (6) eine MÄNNLICH-stumpfe KADENZ; -ret in (3) und (6) heißt klingende Kadenz. Die volksliedhaft-argumentativen Sentenzen, die sich durch das ganze Gedicht (Strophe) ziehen, ließen es dem Volksliedgut zuordnen. Von Vers (1) zu (2), (2) zu (3) und (4) zu (5) arbeitet der Autor mit dem Stilmittel ENJAMBEMENT. Die Zeilensprünge wirken dennoch gespreizt, denn, um den Auftakt unbetont, sprich, den REIM am Ende der vorigen Verses betont zu wissen, benutzt der Autor recht einfallslos Konjunktionen oder andere einsilbige unbestimmte Numeralien, Artikel etc. (in der Reihenfolge ihres Auftretens: ist-im-recht-so-auch-ein-und-und) Vielleicht ist es eher ZUFÄLLIG, aber diese Reihenfolge selbst ergibt einen Sinn! Zwar hätten lediglich die Freunde skurriler Formenphantasie ihre Freude an diesem Sinn, nichtsdestotrotz ist er da.
Hier das Betonungsschema:
(2)-*-*-*-*
(4)-*-*-*-*
(5„).*.*.*.*
(6)-*-*-*-
(7).*.*.*-*
(8)_*.*_*_*
Das Ebenmaß des Konstrukts verrät den gehorsamen Schüler. Lediglich die Verse (3) und (6) durchbrechen das unisono des Aufbaus und lassen zwei Senkungen hintereinander zu, was dem Volksliedcharakter des ganzen Gedichts jedoch keinerlei Abbruch tut.

Zur Phonetik des Gedichts

Im Auslaut bevorzugt der Dichter Gutturale, die er als Schwabe palatalisiert.

(1) gleich und (2) reich; (4) Pracht und (5) Nacht sowie (7) Glockenschlag [sicherlich -schlach gesprochen] und (8) Tag [vermutlich Tach gesprochen]. Imgleichen ist zu Bildungsorten eines Großteils der Worte zu sagen, daß sie vom Autor mit Vorliebe auf der Zungenspitze gebildet werden. Im Vergleich zu Gedichten gleichaltriger Zeitgenossen (HÖLDERLIN, Klopstock) läßt sich ein erhöhtes Quantum an Zisch- und S-Lauten feststellen; auch bildet er diese klanglosen Laute am Anfang seiner Verses, zum Ende hin ergänzt die harte SPRACHE das palatalisierte Guttural (s.o.):
(1) ist → erstes Wort
(3)recht fürstlich → erstes und zweites Wort
(4)so haßet → erstes und zweites Wort
(5)so → erstes Wort
(7)zählet → zweites Wort
(8)seufzet → zweites Wort.
Zählen wir es zusammen, so kommen wir auf 9 Zisch- bzw. S-Laute in 16 Auftakten (die Hebung nach dem unbetonten Auftakt mitgerechnet = 56,25% WAHRSCHEINLICHKEIT auf einen Zisch- bzw. Gutturallaut), bei Hölderlins “HYMNE an die Schönheit„ (ca. 1790) auf ein VERHÄLTNIS von 6 zu 20 (= 30% Wahrscheinlichkeit), bei Klopstocks „Sommernacht“ (ca. 1765) sogar nur auf ein Verhältnis von 2 zu 16 (12,5% Wahrscheinlichkeit).
Wir können die PRÄFERENZ unseres Autors für eine zischlautreiche bzw. im gutturalen Bereich gebildete Lautsprache also dadurch nur unterstützt wissen.

Zur Poesie

Der Autor besitzt, wie bereits angedeutet, eine empfindsame Wahrnehmungstätigkeit und Gespür für Gegensätze. Sein dialektisch tastendes Aufnehmen der UMWELT prägt den STIL seiner POESIE. Sicherlich sind recht einfallslose Auftakte, denen der Jambus der KONJUNKTION sich kollatierend zur Seite stellt, schon in der KONSTRUKTION für eine lebhafte Darstellung einer tief empfundenen WIRKLICHKEIT bedenklich, dennoch überwiegen bedrückende Respektiva, drücken den Leser gleichsam in die Kläglichkeit des Daseins. Vielleicht, so hofft man an einer entscheidenden Stelle der Strophe [(5) nach „so“] auf eine dramatische WENDUNG; derweil versickert das Aufbegehren gegen den TOD im Kläglichsein!
Das ist enttäuschend!
Falls diese Absicht dem Dichter vor Augen stand, muß er sich die Frage gefallen lassen, ob sie einem Kranken gemäß ist! An dieser Poesie reibt sich auch so mancher Einsatz eines prosaischen Verbs [(7) zählet und (6) führet), dem als Entgegensetzungen (8) seufzet und (6) kläglich schwache ANTONYMe sind. Sie bieten nicht den ERLEBNISrahmen, in dem der Leser FREIHEIT oder Befreiung, HOFFNUNG finden könnte. Die Stammbucheintragung liest sich wie ein Epitaph ohne beschönigende, tröstende Worte! Doch soll dies geleistet werden?

Begabungsbewertung

Der Autor besitzt Gespür für das Auf und Nieder von Sprache. Er spielt mit den Möglichkeiten der Artikulation, z.B., daß nach dem einsilbigen Auftakt bis auf den 6. Vers, der sowieso eine Nahtstelle des Gedichts ausmacht, ein zweisilbiges WORT mit Auftaktsbetonung folgt. Genau auf dieser ersten Hebung des Verses liegt auch der Aussageschwerpunkt desselben. Das ist kein ZUFALL! Eine andere Eigenart des Autors, die künstlerische Besonderheit erweist, liegt in der Vorliebe für gutturale Versausgänge. Sicherlich verschweigt in dieser Vorliebe der Autor keineswegs seine Sprachraumheimat, doch ist sie durchbrochen (wieder der sechste Vers), so daß auch in diesem Falle von Absicht, sprich KUNST gesprochen werden muß. Im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen, die heute als Größen ihrer ZUNFT gelten, nimmt unser Kandidat jedoch einen schlechteren Platz ein. Im Gegensatz zu Hölderlin z.B., dereine wesenhaft breitere Sprachbeherrschung ohne Fehlzeichnungen (Vers 1 mit ruhet gleich im Bette wird auch durch die stilistische Feinheit des Enjambements nicht besser; zumal das Vorwissen Stammbuchblatt den unbestimmten Artikel im ersten Vers zum persönlichen Affront macht!) vorzuweisen hat, in seinen Auftakten einfallsreicher und geschliffener wirkt (im obigen Beispiel nennt H. vier verschiedenversfüßige Auftakte (und das bei vier Hebungen im Vers!), in unserem Beispiel sind beim gleichaltrigen Kandidaten nur die genannten einsilbigen Auftakte, sämtlich unbetont! dagegen einfallslos), in den Versausgängen zwar ebenfalls seine schwäbische HERKUNFT nicht leugnet, doch nicht überproportioniert anzeigt, hat unser Autor diese Sprünge vom mit Sprache spielenden Dilettanten zum HERRSCHER über das ihm zur Verfügung stehende Wort nicht vollzogen.
Eine vage Hoffnung bleibt, vor allem gegenüber Klopstock, der sich in den Beschreibungen von vielen Seiten - dennoch eindimensional - ergießt, darin bestehen, daß unser Autor große Freude darin findet, auch das GEGENTEIL des Erwartbaren zu formulieren (Verse 4,5,6 im ZUSAMMENHANG: Pracht - Nacht - kläglich Leben) und im Räume ohne eindeutbare Artikulation stehen zu lassen. Diese Fähigkeit zeichnet ihn aus!

Ergebnis und Zusammenfassung

Als Schema der Ergebniszusammenfassung dient die Befragung und Beantwortung der generellen und spezifischen Aprioris wie Kondition, TEMPERAMENT, Charakter, INTELLIGENZ, Emotionalität, WOLLEN, MORAL, Sensibilität, PHANTASIE, Ausdrucksstärke und Originalität.
Der Autor des vorliegenden Gedichts verfügt über ausreichend Kondition, um dem THEMA GERECHT zu bleiben. Der Bruch im sechsten Vers verstärkt noch den Eindruck der Geschlossenheit. Allerdings ist in acht Versen noch nicht die Frage Kondition bzw. Stringenz von entscheidender Bedeutung.
Entscheidender für das Gesamtergebnis ist da schon die Frage, welches Temperament (eben auch, weil es eine Jugendschrift) der Autor in die Waagschale zu werfen hat. Wir finden drei Verben mit stärkerer Affektivität in den Versen (4) haßet, (6) kläglich und (8) seufzet. Sie bildeten das emotionale Gerüst des Gedichts, wäre da nicht noch die langatmige Einleitung zur sentenzenhaft formulierten HANDLUNG durch die Verse 1-3, dennoch ist der Einbruch in die beschauliche Stimmung der Verse 1-3 mit haßet gelungen. Nach dem Ausbruch in (4) verlagert der Autor die emotionale Handlung jedoch wieder ins Innere, denn kläglich (sein), ZÄHLEN und seufzen sind eher Tätigkeitswörter des Pietisten als eines zur revolutionären TAT schreitenden Märtyrers! Das Temperament des Autors zügelt sich also selbst oder will sich selbst zügeln. Hier schreibt einer mit angezogener Handbremse!
Darin zeigt sich mitunter auch Intelligenz. Sehen wir in die Umstände seines Lebens, so begreifen wir, daß die Ungeheuerlichkeit dieser acht Verse zwischen denselben steht. Barocker Pomp und VANITAS, das Klagen der NACHT (Tod) und die Hoffnung des Lichts (Tag) liegen im STREIT; mehr kann in acht Versen nicht gesagt sein. Darin liegt das Allgemeine und das Besondere. Der Autor, unmittelbar unter den Augen des Herzogs mit dessen Lebensumständen bekannt, wägt ab und entscheidet sich für die Unmittelbarkeit des Natürlichen, denn die fürstliche (goldene) Pracht unterliegt dem GEFÜHL, dem AFFEKT des Hasses. Daß unser Autor die sublime Interpolation bevorzugt, mag ihm in diesem Falle als leben- bzw. ausbildungsplatzerhaltend angerechnet werden. Ein paar Monate später jedoch bricht der ganze Haß, den er hier noch zügelt in seinem ersten epochemachenden DRAMA heraus und zwingt ihn, aus dem Schöße der barocken Pracht und Not auszubrechen. Insofern subsumiert der Autor sein ICH in die Welt, integriert sich in der Welt und gibt seinem Freund Kenntnis eines gemeinsamen Begehrens in der Nochform des Seufzens, von dem man jedoch als Leser schon eine gelinde Kenntnis der baldigen Änderung ahnt.

stammbuch.txt · Zuletzt geändert: 2024/03/13 08:11 von Robert-Christian Knorr